Dreizehntes Buch

[95] Mit dem Bedauern eines Wanderers, der ein Land verlassen muß, ohne daß er's nach seinen Wünschen kennenlernte, verlasse ich Asien. Wie wenig ist's, was wir von ihm wissen, und meistens aus wie späten Zeiten, aus wie unsichern Händen! Das östliche Asien ist uns nur neulich durch religiöse oder politische Parteien bekannt und durch gelehrte Parteien in Europa zum Teil so verwirret worden, daß wir in große Strecken desselben noch wie in ein Fabelland blicken. Im Vorderasien und dem ihm nachbarlichen Ägypten erscheint uns aus der ältern Zeit alles wie eine Trümmer oder wie ein verschwundener Traum; was uns aus Nachrichten bekannt ist, wissen wir nur aus dem Munde flüchtiger Griechen, die für das hohe Altertum dieser Staaten teils zu jung, teils von zu fremder Denkart waren und nur das ergriffen, was zu ihnen gehörte. Die Archive Babylons, Phöniciens und Karthago sind nicht mehr; Ägypten war abgeblühet, fast ehe Griechen sein Inneres betraten; also schrumpft alles in wenige, verwelkte Blätter zusammen, die Sagen aus Sagen enthalten, Bruchstücke der Geschichte, ein Traum der Vorwelt.

Bei Griechenland klärt sich der Morgen auf, und wir schiffen ihm froh entgegen. Die Einwohner dieses Landes bekamen in Vergleichung mit andern Nationen frühe Schrift und fanden in den meisten ihrer Verfassungen Triebfedern, ihre Sprache von der Poesie zur Prose und in dieser zur Philosophie und Geschichte herabzuführen. Die Philosophie der Geschichte sieht also Griechenland für ihre Geburtsstätte an; sie hat in ihm auch eine schöne Jugend durchlebet. Schon der fabelnde Homer beschreibt die Sitten mehrerer Völker, soweit seine Kenntnis reichte; die Sänger der Argonauten,[95] deren Nachhall übrig ist, erstrecken sich in eine andre, merkwürdige Gegend. Als späterhin die eigentliche Geschichte sich von der Poesie loswand, bereisete Herodot mehrere Länder und trug mit löblich kindischer Neugierde zusammen, was er sah und hörte. Die spätem Geschichtschreiber der Griechen, ob sie sich gleich eigentlich auf ihr Land einschränkten, mußten dennoch auch manches von andern Ländern melden, mit denen ihr Volk in Verbindung kam; so erweiterte sich endlich, insonderheit durch Alexanders Züge, allmählich die Welt. Mit Rom, dem die Griechen nicht nur zu Führern in der Geschichte, sondern auch selbst zu Geschichtschreibern dienten, erweitert sie sich noch mehr, so daß Diodor von Sizilien, ein Grieche, und Trogus, ein Römer, ihre Materialien bereits zu einer Art von Weltgeschichte zusammenzutragen wagten. Wir freuen uns also, daß wir endlich zu einem Volk gelangen, dessen Ursprung zwar auch im Dunkel begraben, dessen erste Zeiten ungewiß, dessen schönste Werke sowohl der Kunst als der Schrift großenteils auch von der Wut der Völker oder vom Moder der Zeiten vertilgt sind, von dem aber dennoch herrliche Denkmale zu uns reden. Sie reden mit dem philosophischen Geist zu uns, dessen Humanität ich meinem Versuch über sie vergebens einzuhauchen strebe. Ich möchte, wie ein Dichter, den weithinsehenden Apoll und die Töchter des Gedächtnisses, die alleswissenden Musen, anrufen; aber der Geist der Forschung sei mein Apoll und die parteilose Wahrheit meine belehrende Muse.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2 Bände, Band 2, Berlin und Weimar 1965, S. 95-96.
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