Vierzehntes Buch

[158] Wir nähern uns der Küste, die den meisten bisher betrachteten Staaten ihren oft schrecklichen Untergang gebracht hat: denn von Rom aus ergoß sich wie eine wachsende Flut das Verderben über die Staaten Großgriechenlandes, über Griechenland selbst und über alle Reiche, die von den Trümmern des Throns Alexanders erbauet waren. Rom zerstörte Karthago, Korinth, Jerusalem und viel' andre blühende Städte der griechischen und asiatischen Welt, so wie es auch in Europa jeder mittäglichen Kultur, an welche seine Waffen reichten, insonderheit seiner Nachbarin Etrurien und dem mutvollen Numantia, ein trauriges Ende gemacht hat. Es ruhete nicht, bis es vom westlichen Meer bis zum Euphrat, vom Rhein bis zum Atlas eine Welt von Völkern beherrschte, zuletzt aber auch über die vom Schicksal ihm bezeichnete Linie hinausbrach und nicht nur durch den tapfern Widerstand nördlicher oder Bergvölker sein Ziel, sondern auch durch innere Üppigkeit und Zwietracht, durch den grausamen Stolz seiner Beherrscher, durch die fürchterliche Soldatenregierung, endlich durch die Wut roher Völker, die wie Wogen des Meers hinanstürzten, sein unglückliches Ende fand. Nie ist das Schicksal der Völker länger und mächtiger an eine Stadt geknüpft gewesen als unter der römischen Weltbeherrschung, und wie sich bei derselben auf einer Seite alle Stärke des menschlichen Muts und Entschlusses, mehr aber noch viel kriegerische und politische Weisheit entwickelt hat, so sind auch auf der andern Seite in diesem großen Spiel Härtigkeiten und Laster erschienen, vor denen die menschliche Natur zurückschaudern wird, solange sie einen Punkt ihrer[158] Rechte fühlet. Wunderbarerweise ist dies Rom der steile, fürchterliche Übergang zur ganzen Kultur Europas worden, indem sich in seinen Trümmern nicht nur die geplünderten Schätze aller Weisheit und Kunst einiger alten Staaten in traurigen Resten gerettet haben, sondern auch durch eine sonderbare Verwandlung die Sprache Roms das Werkzeug ward, durch welches man alle jene Schätze der ältern Welt brauchen lernet. Noch jetzt wird uns von Jugend auf die lateinische Sprache das Mittel einer gelehrteren Bildung, und wir, die wir so wenig römischen Sinnes und Geistes haben, sind bestimmt, römische Weltverwüster eher kennenzulernen als die sanftem Sitten milderer Völker oder die Grundsätze der Glückseligkeit unsrer Staaten. Marius und Sulla, Cäsar und Octavius sind unsre frühere Bekannten als die Weisheit Sokrates' oder die Einrichtungen unsrer Väter. Auch hat die römische Geschichte, weil an ihrer Sprache die Kultur Europas hing, sowohl politische als gelehrte Erläuterungen erhalten, deren sich fast keine Geschichte der Welt rühmen darf; denn die größesten Geister, die über Geschichte dachten, dachten über sie und entwickelten über römischen Grundsätzen und Taten ihre eignen Gedanken. Wir gehen also auf dem blutbetrieften Boden der römischen Pracht zugleich wie in einem Heiligtum klassischer Gelehrsamkeit und alter überbliebner Kunstwerke umher, wo uns bei jedem Schritt ein neuer Gegenstand an versunkne Schätze einer alten, nie wiederkehrenden Weltherrlichkeit erinnert. Die Fasces der Überwinder, die einst unschuldige Nationen züchtigten, betrachten wir als Sprößlinge einer hochherrlichen Kultur, die durch traurige Zufälle auch unter uns gepflanzt worden. Ehe wir aber die Weltüberwinderin selbst kennenlernen, müssen wir zuvor der Humanität ein Opfer bringen und wenigstens den Blick des Bedaurens auf ein nachbarliches Volk werfen, das zur früheren Bildung Roms das meiste beitrug, leider aber auch seinen Eroberungen zu nahe lag und ein trauriges Ende erlebte.[159]

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2 Bände, Band 2, Berlin und Weimar 1965, S. 158-160.
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