III

Hebräer

[63] Sehr klein erscheinen die Hebräer, wenn man sie unmittelbar nach den Persern betrachtet: klein war ihr Land, arm die Rolle, die sie in und außer demselben auf dem Schauplatz der Welt spielten, auf welchem sie fast nie Eroberer waren. Indessen haben sie durch den Willen des Schicksals und durch eine Reihe von Veranlassungen, deren Ursachen sich leicht ergeben, mehr als irgendeine asiatische Nation auf andre Völker gewirket; ja gewissermaße sind sie, sowohl durch das Christentum als den Mahomedanismus, eine Unterlage des größesten Teils der Weltaufklärung worden.

Ein ausnehmender Unterschied ist's schon, daß die Hebräer geschriebene Annalen ihrer Begebenheiten aus Zeiten haben, in denen die meisten jetzt aufgeklärten Nationen noch nicht schreiben konnten, so daß sie diese Nachrichten bis zum Ursprunge der Welt hinaufzuführen wagen. Noch vorteilhafter unterscheiden sich diese dadurch, daß sie nicht aus Hieroglyphen geschöpft oder mit solchen verdunkelt, sondern nur aus Geschlechtregistern entstanden und mit historischen Sagen oder Liedern verwebt sind, durch, welche einfädle Gestalt ihr historischer Wert offenbar zunimmt. Endlich bekommen diese Erzählungen ein merkwürdiges Gewicht noch dadurch, daß sie als ein göttlicher Stammesvorzug dieser Nation beinah mit abergläubischer Gewissenhaftigkeit jahrtausendelang erhalten und durch das Christentum Nationen in die Hände geliefert sind, die sie mit einem freiem als Judengeist untersucht und[63] bestritten, erläutert und genutzt haben. Sonderbar ist's freilich, daß die Nachrichten andrer Nationen von diesem Volk, insonderheit Manethons des Ägypters, so weit von der eignen Geschichte der Hebräer abgehn; indessen, wenn man die letzte unparteiisch betrachtet und den Geist ihrer Erzählung sich zu erklären weiß, so verdient sie gewiß mehreren Glauben als die Verleumdungen fremder, verachtender Judenfeinde. Ich schäme mich also nicht, die Geschichte der Hebräer, wie sie solche selbst erzählen, zum Grunde zu legen, wünschte aber dennoch, daß man auch die Sagen ihrer Gegner nicht bloß verachtete, sondern nutzte.

Zufolge also der ältesten Nationalsagen der Hebräer kam ihr Stammvater als Scheik eines Nomadenzuges über den Euphrat und zuletzt nach Palästina. Hier gefiel es ihm, weil er unbehinderten Platz fand, die Lebensart seiner Hirtenvorfahren fortzusetzen und dem Gott seiner Väter nach Stammesart zu dienen. Im dritten Geschlecht zogen seine Nachkommen durch das sonderbare Glück eines aus ihrer Familie nach Ägypten und setzten daselbst, unvermischt mit den Landeseinwohnern, ihre Hirtenlebensart fort, bis sie, man weiß nicht genau in welcher Generation, von dem verächtlichen Druck, in dem sie schon als Hirten bei diesem Volk sein mußten, durch ihren künftigen Gesetzgeber befreiet und nach Arabien gerettet wurden. Hier führte nun der große Mann, der größte, den dies Volk gehabt hat, sein Werk aus und gab ihnen eine Verfassung, die zwar auf die Religion und Lebensart ihres Stammes gegründet, mit ägyptischer Staatsweisheit aber so durchflochten war, daß auf der einen Seite das Volk aus einer Nomadenhorde zu einer kultivierten Nation erhoben, auf der andern zugleich von Ägypten völlig weggelenkt werden sollte, damit ihm nie weiter die Lust ankäme, den Boden des schwarzen Landes zu betreten. Wunderbar durchdacht sind alle Gesetze Moses': sie erstrecken sich vom Größesten bis zum Kleinsten, um sich des Geistes seiner Nation in allen Umständen des Lebens zu bemächtigen und, wie Moses so oft sagt, ein ewiges Gesetz zu werden. Auch war[64] diese überdachte Gesetzgebung nicht das Werk eines Augenblicks; der Gesetzgeber tat hinzu, nachdem es die Umstände federten, und ließ noch vor dem Ausgange seines Lebens die ganze Nation sich zu ihrer künftigen Landesverfassung verpflichten. Vierzig Jahre hielt er streng auf seine Gebote, ja, vielleicht mußte auch deswegen das Volk so lange in der arabischen Wüste weilen, bis nach dem Tode der ersten hartnäckigen Generation ein neues, in diesen Gebräuchen erzogenes Volk sich denselben völlig gemäß im Lande seiner Väter einrichten könnte. Leider aber ward dem patriotischen Mann dieser Wunsch nicht gewähret! Der bejahrte Moses starb an der Grenze des Landes, das er suchte, und als sein Nachfolger dahin eindrang, fehlte es ihm an Ansehen und Nachdruck, den Entwurf des Gesetzgebers ganz zu befolgen. Man setzte die Eroberung nicht so weit fort, als man sollte; man teilte und ruhete zu früh. Die mächtigsten Stämme rissen den größesten Strich zuerst an sich, so daß ihre schwächeren Brüder kaum einen Aufenthalt fanden und ein Stamm derselben sogar verteilt werden mußte.204 Überdem blieben viele kleine Nationen im Lande: Israel behielt also seine bittersten Erbfeinde unter sich, und das Land entbehrte von außen und innen der runden Festigkeit, die ihm seine vorgezeichneten Grenzen allein gewähren konnten. Was mußte aus dieser unvollkommenen Anlage anders als jene Reihe unsicherer Zeiten folgen, die das eingedrungene Volk fast nie zur Ruhe kommen ließen. Die Heerführer, die die Not erweckte, waren meistens nur streifende Sieger; und da das Volk endlich Könige bekam, so hatten diese doch mit ihrem eignen, in Stämme zerteilten Lande so viel zu schaffen, daß der dritte zugleich der letzte König des ganzen, in seinen Teilen nicht zusammenhangenden Reichs war. Fünf Sechsteile des Landes fielen von seinem Nachfolger ab; und was konnte jetzt aus zwei so schwachen Königreichen werden, die in der Nachbarschaft[65] mächtiger Feinde sich selbst unaufhörlich bekriegten? Das Königreich Israel hatte eigentlich keine gesetzmäßige Konstitution; es ging daher fremden Landesgöttern nach, um nur mit seiner Nebenbuhlerin, die den alten, rechtmäßigen Landesgott verehrte, nicht zusammenzufließen. Natürlich also, daß nach der Sprache dieses Volkes in Israel kein gottesfürchtiger König war; denn sonst wäre sein Volk nach Jerusalem gewandert, und die abgerissene Regentschaft hätte aufgehöret. Also taumelte man in der unseligsten Nachahmung fremder Sitten und Gebräuche fort, bis der König von Assyrien kam und das kleine Reich wie ein gefundenes Vogelnest raubte. Das andre Königreich, das wenigstens auf der alten Verfassung zweier mächtiger Könige und einer befestigten Hauptstadt ruhte, hielt sich einige Zeit länger, aber auch nur so lange, bis ein stärkerer Überwinder es zu sich reißen wollte. Der Landverwüster Nebukadnezar kam und machte seine schwachen Könige erst zinsbar, sodann nach ihrem Abfall den letzten zum Sklaven; das Land ward verwüstet, die Hauptstadt geschleift und Juda in eine so schimpfliche Knechtschaft nach Babel geführt, wie Israel nach Medien geführt war. Als Staat betrachtet, kann also kaum ein Volk eine elendere Gestalt darstellen, als dies, die Regierung zweener Könige ausgenommen, in seiner Geschichte darstellt.

Was war davon die Ursache? Mich dünkt, die Folge dieser Erzählung selbst mache sie klar; denn ein Land bei so schlechter Verfassung von innen und außen konnte an diesem Ort der Welt unmöglich gedeihen. Wenn David gleich die Wüste bis zum Euphrat hin durchstreifte und damit nur eine größere Macht gegen seine Nachfolger reizte, konnte er damit seinem Lande die Festigkeit geben, die ihm fehlte, da überdem sein Sitz beinah am südlichen Ende des Reichs lag? Sein Sohn brachte fremde Gemahlinnen, Handel und Üppigkeit ins Land, in ein Land, das, wie die verbündete Schweiz, nur Hirten und Ackerleute nähren konnte und solche wirklich in der größesten Anzahl zu nähren hatte. Außerdem, da er seinen Handel größtenteils nicht durch seine Nation, sondern[66] durch die unterjochten Edomiter führte, so war seinem Königreich der Luxus schädlich, überhaupt hat sich seit Moses kein zweiter Gesetzgeber in diesem Volk gefunden, der den vom Anfange an zerrütteten Staat auf eine den Zeiten gemäße Grundverfassung hätte zurückführen mögen. Der gelehrte Stand verfiel bald; die Eiferer fürs Landesgesetz hatten Stimme, aber keinen Arm; die Könige waren meistens Weichlinge oder Geschöpfe der Priester. Die feine Nomokratie also, auf die es Moses angelegt hatte, und eine Art theokratischer Monarchie, wie sie bei allen Völkern dieses Erdstrichs voll Despotismus herrschte: zwei so entgegengesetzte Dinge stritten gegeneinander, und so mußte das Gesetz Moses' dem Volk ein Sklavengesetz werden, da es ihm politisch ein Gesetz der Freiheit sein sollte.

Mit dem Laut der Zeiten ward es zwar anders, aber nicht besser. Als, von Cyrus befreiet, die Juden aus der Gefangenschaft in geringer Anzahl zurückkamen, hatten sie manches andere, nur keine echte politische Verfassung gelernt; wie hätten sie solche auch in Assyrien und Chaldäa lernen mögen? Sie schwankten zwischen dem Fürsten- und Priesterregiment, baueten einen Tempel, als ob sie mit solchem auch Moses' und Salomos Zeit zurück hätten; ihre Religiosität ward jetzt Pharisäismus, ihre Gelehrsamkeit ein grübelnder Silbenwitz, der nur an einem Buche nagte, ihr Patriotismus eine knechtische Anhänglichkeit ans mißverstandne alte Gesetz, so daß sie allen benachbarten Nationen damit verächtlich oder lächerlich wurden. Ihr einziger Trost und ihre Hoffnung war auf alte Weissagungen gebauet, die, ebenso mißverstanden, ihnen die eitelste Weltherrschaft zusichern sollten. So lebten und litten sie Jahrhunderte hin unter den griechischen Syrern, unter Idumäern und Römern, bis endlich durch eine Erbitterung, die in der Geschichte kaum ihresgleichen findet, sowohl das Land als die Hauptstadt unterging, auf eine Weise, die den menschenfreundlichen Überwinder selbst schmerzte. Nun wurden sie in alle Länder der römischen Welt zerstreuet; und eben zur Zeit dieser Zerstreuung fing sich eine Wirkung der[67] Juden aufs menschliche Geschlecht an, die man von ihrem engen Lande hinaus sich schwerlich hätte denken mögen; denn weder als ein staatsweises noch als ein kriegsgelehrtes, am wenigsten aber als ein Wissenschaft und Kunst erfindendes Volk hatten sie sich im ganzen Lauf ihrer Geschichte ausgezeichnet.

Kurz nämlich vor dem Untergange des jüdischen Staats war in seiner Mitte das Christentum entstanden, das sich anfangs nicht nur nicht vom Judentum trennte und also seine heiligen Bücher mit annahm, sondern auch vorzüglich auf diese die göttliche Sendung seines Messias baute. Durchs Christentum kamen also die Bücher der Juden in die Hände aller Nationen, die sich zu seiner Lehre bekannten; mithin haben sie auch, nachdem man sie verstand und gebrauchte, gut oder übel auf alle christliche Zeitalter gewirket. Gut war ihre Wirkung, da Moses' Gesetz in ihnen die Lehre vom einigen Gott, dem Schöpfer der Welt, zum Grunde aller Philosophie und Religion machte und von diesem Gott in soviel Liedern und Lehren dieser Schriften mit einer Würde und Erhabenheit, mit einer Ergebung und Dankbarkeit sprach, an welche weniges sonst in menschlichen Schriften reichet. Man vergleiche diese Bücher nicht etwa mit dem Schuking der Sinesen oder mit dem Sadder und Zend-Avesta der Perser, sondern selbst mit dem soviel jungem Koran der Mahomedaner, der doch selbst die Lehren der Juden und Christen genutzt hat, so ist der Vorzug der hebräischen Schriften vor allen alten Religionsbüchern der Völker unverkennbar. Auch war es der menschlichen Wißbegierde angenehm, über das Alter und die Schöpfung der Welt, über den Ursprung des Bösen u. f. aus diesen Büchern so populäre Antworten zu erhalten, die jeder verstehen und fassen konnte; die ganze lehrreiche Geschichte des Volks und die reine Sittenlehre mehrerer Bücher in dieser Sammlung zu geschweigen. Die Zeitrechnung der Juden möge sein, wie sie wolle, so hatte man an ihr ein angenommenes, allgemeines Maß und einen Faden, woran man die Begebenheiten der Weltgeschichte[68] reihen konnte. Viel andre Vorteile des Sprachfleißes, der Auslegungskunst und Dialektik ungerechnet, die freilich auch an andern Schriften hätten geübt werden mögen. Durch alles dies haben die Schriften der Hebräer ohnstreitig vorteilhaft in die Geschichte der Menschheit gewirket.

Indessen ist's bei allen diesen Vorteilen ebenso unverkennbar, daß die Mißdeutung und der Mißbrauch dieser Schriften dem menschlichen Verstande auch zu mancherlei Nachteil gereichet habe, um so mehr, weil sie mit dem Ansehen der Göttlichkeit auf ihn wirkten. Wie manche törichte Kosmogonie ist aus Moses' einfach-erhabner Schöpfungsgeschichte, wie manche harte Lehre und unbefriedigende Hypothese aus seinem Apfel- und Schlangenbiß hervorgesponnen worden! Jahrhundertelang sind die vierzig Tage der Sündflut den Naturforschern der Nagel gewesen, an welchen sie alle Erscheinungen unsrer Erdbildung heften zu müssen glaubten, und ebensolange haben die Geschichtschreiber des Menschengeschlechts sämtliche Völker der Erde an das Volk Gottes und an das mißverstandene Traumbild eines Propheten von vier Monarchien gefesselt. So manche Geschichte hat man verstümmelt, um sie aus einem hebräischen Namen zu erklären; das ganze Menschen-, Erd- und Sonnensystem wurde verenget, um nur die Sonne des Josua und eine Jahrzahl der Weltdauer zu retten, deren Bestimmung nie der Zweck dieser Schriften sein wollte. Wie manchem großen Mann, selbst einem Newton, hat die jüdische Chronologie und Apokalypse eine Zeit geraubt, die er auf bessere Untersuchungen hätte wenden mögen! Ja, selbst in Absicht der Sittenlehre und politischen Einrichtung hat die Schrift der Ebräer durch Mißverstand und üble Anwendung dem Geist der Nationen, die sich zu ihr bekannten, wirkliche Fesseln angeleget. Indem man die Zeiten und Stufen der Bildung nicht unterschied, glaubte man an der Unduldsamkeit des jüdischen Religionsgeistes ein Muster vor sich zu haben, nach welchem auch[69] Christen verfahren könnten; man stützte sich auf Stellen des Alten Testaments, um den widersprechenden Entwurf zu rechtfertigen, der das freiwillige, bloß moralische Christentum zu einer jüdischen Staatsreligion machen sollte. Gleichergestalt ist's unleugbar, daß die Tempelgebräuche, ja selbst die Kirchensprache der Ebräer auf den Gottesdienst, auf die geistliche Beredsamkeit, Lieder und Litaneien aller christlichen Nationen Einfluß gehabt und ihre Anbetung oft zu einem morgenländischen Idiotismus gebildet haben. Die Gesetze Moses' sollten unter jedem Himmelsstrich, auch bei ganz andern Verfassungen der Völker gelten; daher keine einzige christliche Nation sich ihre Gesetzgebung und Staatsverfassung von Grund aus gebildet. So grenzet das erlesenste Gute durch eine vielfach falsche Anwendung an mancherlei Übel; denn können nicht auch die heiligen Elemente der Natur zur Zerstörung und die wirksamsten Arzneien zu einem schleichenden Gift werden?

Die Nation der Juden selbst ist seit ihrer Zerstreuung den Völkern der Erde durch ihre Gegenwart nützlich und schädlich worden, nachdem man sie gebraucht hat. In den ersten Zeiten sähe man Christen für Juden an und verachtete oder unterdrückte sie gemeinschaftlich, weil auch die Christen viel Vorwürfe des jüdischen Völkerhasses, Stolzes und Aberglaubens auf sich luden. Späterhin, da Christen die Juden selbst unterdrückten, gaben sie ihnen Anlaß, sich durch ihre Bewerbsamkeit und weite Verbreitung fast allenthalben des innern, insonderheit des Geldhandels zu bemächtigen; daher denn die rohem Nationen Europas freiwillige Sklaven ihres Wuchers wurden. Den Wechselhandel haben sie zwar nicht erfunden, aber sehr bald vervollkommet, weil eben ihre Unsicherheit in den Ländern der Mahomedaner und Christen ihnen diese Erfindung nötig machte. Unleugbar also hat eine so verbreitete Republik kluger Wucherer manche Nation Europas von eigner Betriebsamkeit und Nutzung des Handels lange zurückgehalten, weil diese sich für ein jüdisches Gewerbe zu groß dünkte und von den Kammerknechten der[70] heiligen römischen Welt diese Art vernünftiger und feiner Industrie ebensowenig lernen wollte als die Spartaner den Ackerbau von ihren Heloten. Sammlete jemand eine Geschichte der Juden aus allen Ländern, in die sie zerstreuet sind, so zeigte sich damit ein Schaustück der Menschheit, das als ein Natur- und politisches Ereignis gleich merkwürdig wäre. Denn kein Volk der Erde hat sich wie dieses verbreitet; kein Volk der Erde hat sich wie dieses in allen Klimaten so kenntlich und rüstig erhalten.

Daß man hieraus aber ja keinen abergläubigen Schluß auf eine Revolution fasse, die durch dies Volk dereinst noch für alle Erdvölker bewirkt werden müßte! Die bewirkt werden sollte, ist wahrscheinlich bewirkt, und zu einer andern zeigt sich weder im Volk selbst noch in der Analogie der Geschichte die mindeste Anlage. Die Erhaltung der Juden erklärt sich ebenso natürlich als die Erhaltung der Brahmanen, Parsen und Zigeuner.

Übrigens wird niemand einem Volk, das eine so wirksame Triebfeder in den Händen des Schicksals ward, seine großen Anlagen absprechen wollen, die in seiner ganzen Geschichte sich deutlich zeigen. Sinnreich, verschlagen und arbeitsam, wußte es sich jederzeit auch unter dem äußersten Druck andrer Völker wie in einer Wüste Arabiens mehr als vierzig Jahr zu erhalten. Es fehlte ihm auch nicht an kriegerischem Mut, wie die Zeiten Davids und der Makkabäer, vorzüglich aber der letzte, schreckliche Untergang seines Staats zeigen. In ihrem Lande waren sie einst ein arbeitsames, fleißiges Volk, das, wie die Japaner, seine nackten Berge durch künstliche Terrassen bis auf den Gipfel zu bauen wußte und in einem engen Bezirk, der an Fruchtbarkeit doch immer nicht das erste Land der Welt war, eine unglaubliche Anzahl Menschen nährte. Zwar ist in Kunstsachen die jüdische Nation, ob sie gleich zwischen Ägyptern und Phöniciern wohnte, immer unerfahren geblieben, da selbst ihren Salomonischen Tempel fremde Arbeiter bauen mußten. Auch sind sie, ob sie gleich eine Zeitlang die Häfen des Roten Meers besaßen und den[71] Küsten der Mittelländischen See so nahe wohnten, in dieser zum Handel der Welt glücklichsten Lage, bei einer Volksmenge, die ihrem Lande zu schwer ward, dennoch nie ein seefahrendes Volk worden. Wie die Ägypter fürchteten sie das Meer und wohnten von jeher lieber unter andern Nationen: ein Zug ihres Nationalcharakters, gegen den schon Moses mit Macht kämpfte. Kurz, es ist ein Volk, das in der Erziehung verdarb, weil es nie zur Reife einer politischen Kultur auf eignem Boden, mithin auch nicht zum wahren Gefühl der Ehre und Freiheit gelangte. In den Wissenschaften, die ihre vortrefflichsten Köpfe trieben, hat sich jederzeit mehr eine gesetzliche Anhänglichkeit und Ordnung als eine fruchtbare Freiheit des Geistes gezeiget, und der Tugenden eines Patrioten hat sie ihr Zustand fast von jeher beraubet. Das Volk Gottes, dem einst der Himmel selbst sein Vaterland schenkte, ist Jahrtausende her, ja fast seit seiner Entstehung eine parasitische Pflanze auf den Stämmen andrer Nationen, ein Geschlecht schlauer Unterhändler beinah auf der ganzen Erde, das trotz aller Unterdrückung nirgend sich nach eigner Ehre und Wohnung, nirgend nach einem Vaterlande sehnet.

204

Der Stamm Dan bekam eine Ecke oberhalb und zur Linken des Landes. S. hierüber den »Geist der Ebräischen Poesie«, T. 2.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2 Bände, Band 2, Berlin und Weimar 1965, S. 63-72.
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