III

Durch Nachahmung, Vernunft und Sprache sind alle Wissenschaften und Künste des Menschengeschlechts erfunden worden

[354] Sobald der Mensch, durch welchen Gott oder Genius es geschehen sei, auf den Weg gebracht war, eine Sache als Merkmal sich zuzueignen und dem gefundnen Merkmal ein willkürliches Zeichen zu substituieren, d.i. sobald auch in den kleinsten Anfängen Sprache der Vernunft begann, sofort war er auf dem Wege zu allen Wissenschaften und Künsten. Denn was tut die menschliche Vernunft in Erfindung dieser, als bemerken und bezeichnen? Mit der schwersten Kunst, der Sprache, war also gewissermaße ein Vorbild zu allem gegeben.

Der Mensch z.B., der von den Tieren ein Merkmal der Benennung faßte, hatte damit auch den Grund gelegt, die zähmbaren Tiere zu bezähmen, die nutzbaren sich nutzbar zu machen und überhaupt alles in der Natur für sich zu erobern; denn bei jeder dieser Zueignungen tat er eigentlich nichts als das Merkmal eines zähmbaren, nützlichen, sich zuzueignenden Wesens bemerken und es durch Sprache oder Probe bezeichnen. Am sanften Schaf z. E. bemerkte er die[354] Milch, die das Lamm sog, die Wolle, die seine Hand wärmte, und suchte das eine wie das andre sich zuzueignen. Am Baum, zu dessen Früchten ihn der Hunger führte, bemerkte er Blätter, mit denen er sich gürten könnte, Holz, das ihn wärmte, u. f. So schwung er sich aufs Roß, daß es ihn trage; er hielt es bei sich, daß es ihn abermals trage; er sahe den Tieren, er sahe der Natur ab, wie jene sich schützten und nährten, wie diese ihre Kinder erzog oder vor der Gefahr bewahrte. So kam er auf den Weg aller Künste durch nichts als die innere Genesis eines abgesonderten Merkmals und durch Festhaltung desselben in einer Tat oder sonst einem Zeichen, kurz, durch Sprache. Durch sie, und durch sie allein, ward Wahrnehmung, Anerkennung, Zurückerinnerung, Besitznehmung, eine Kette der Gedanken möglich, und so wurden mit der Zeit die Wissenschaften und Künste geboren, Töchter der bezeichnenden Vernunft und einer Nachahmung mit Absicht. Schon Baco hat eine Erfindungskunst gewünscht; da die Theorie derselben aber schwer und doch vielleicht unnütz sein würde, so wäre vielmehr eine Geschichte der Erfindungen das lehrreiche Werk, das die Götter und Genien des Menschengeschlechts ihren Nachkommen zum ewigen Muster machte. Allenthalben würde man sehen, wie Schicksal und Zufall diesem Erfinder ein neues Merkmal ins Auge, jenem eine neue Bezeichnung als Werkzeug in die Seele gebracht und meistens durch eine kleine Zusammenrückung zweier lange bekannter Gedanken eine Kunst befördert habe, die nachher auf Jahrtausende wirkte. Oft war diese erfunden und ward vergessen; ihre Theorie lag da, und sie ward nicht gebraucht, bis ein glücklicher andre das liegende Gold in Umlauf brachte oder mit einem kleinen Hebel aus einem neuen Standpunkt Welten bewegte. Vielleicht ist keine Geschichte, die so augenscheinlich die Regierung eines höhern Schicksals in menschlichen Dingen zeigt, als die Geschichte dessen, worauf unser Geist am stolzesten zu sein pflegt, der Erfindung und Verbesserung der Künste. Immer war das Merkmal und die Materie seiner Bezeichnung längst dagewesen, aber jetzt[355] ward es bemerkt, jetzt ward es bezeichnet. Die Genesis der Kunst, wie des Menschen, war ein Augenblick des Vergnügens, eine Vermählung zwischen Idee und Zeichen, zwischen Geist und Körper.

Mit Hochachtung geschiehet es, daß ich die Erfindungen des menschlichen Geistes auf dies einfache Principium seiner anerkennenden und bezeichnenden Vernunft zurückführe; denn eben dies ist das wahre Göttliche im Menschen, sein charakteristischer Vorzug. Alle, die eine gelernte Sprache gebrauchen, gehen wie in einem Traum der Vernunft einher; sie denken in der Vernunft andrer und sind nur nachahmend weise; denn ist der, der die Kunst fremder Künstler gebraucht, darum selbst Künstler? Aber der, in dessen Seele sich eigne Gedanken erzeugen und einen Körper sich selbst bilden, er, der nicht mit dem Auge allein, sondern mit dem Geist siehet und nicht mit der Zunge, sondern mit der Seele bezeichnet, er, dem es gelingt, die Natur in ihrer Schöpfungsstätte zu belauschen, neue Merkmale ihrer Wirkungen auszuspähen und sie durch künstliche Werkzeuge zu einem menschlichen Zweck anzuwenden er ist der eigentliche Mensch, und da er selten erscheint, ein Gott unter den Menschen. Er spricht, und Tausende lallen ihm nach; er erschafft, und andre spielen mit dem, was er hervorbrachte; er war ein Mann, und vielleicht sind Jahrhunderte nach ihm wiederum Kinder. Wie selten die Erfinder im menschlichen Geschlecht gewesen, wie träge und lässig man an dem hängt, was man hat, ohne sich um das zu bekümmern, was uns fehlet: in hundert Proben zeigt uns dies der Anblick der Welt und die Geschichte der Völker; ja, die Geschichte der Kultur wird es uns selbst gnugsam weisen.

Mit Wissenschaften und Künsten ziehet sich also eine neue Tradition durchs Menschengeschlecht, an deren Kette nur wenigen Glücklichen etwas Neues anzureihen vergönnt war; die andern hangen an ihr wie treufleißige Sklaven und ziehen mechanisch die Kette weiter. Wie dieser Zucker- und Mohrentrank durch manche bearbeitende Hand ging, eh er zu mir[356] gelangte, und ich kein andres Verdienst habe, als ihn zu trinken, so ist unsre Vernunft und Lebensweise, unsre Gelehrsamkeit und Kunsterziehung, unsre Kriegs- und Staatsweisheit ein Zusammenfluß fremder Erfindungen und Gedanken, die ohn unser Verdienst aus aller Welt zu uns kamen und in denen wir uns von Jugend auf baden oder ersäufen.

Eitel ist also der Ruhm so manches europäischen Pöbels, wenn er in dem, was Aufklärung, Kunst und Wissenschaft heißt, sich über alle drei Weltteile setzt und, wie jener Wahnsinnige die Schiffe im Hafen, alle Erfindungen Europas aus keiner Ursache für die seinen hält, als weil er im Zusammenfluß dieser Erfindungen und Traditionen geboren worden. Armseliger, erfandest du etwas von diesen Künsten? Denkst du etwas bei allen deinen eingesognen Traditionen? Daß du jene brauchen gelernt hast, ist die Arbeit einer Maschine; daß du den Saft der Wissenschaft in dich ziehest, ist das Verdienst des Schwammes, der nun eben auf dieser feuchten Stelle gewachsen ist. Wenn du dem Otahiten ein Kriegsschiff zulenkst und auf den Hebriden eine Kanone donnerst, so bist du wahrlich weder klüger noch geschickter als der Hebride und Otahite, der sein Boot künstlich lenkt und sich dasselbe mit eigner Hand erbaute. Eben dies war's, was alle Wilden dunkel empfanden, sobald sie die Europäer näher kennenlernten. In der Rüstung ihrer Werkzeuge dünkten sie ihnen unbekannte, höhere Wesen, vor denen sie sich beugten, die sie mit Ehrfurcht grüßten; sobald sie sie verwundbar, sterblich, krankhaft und in sinnlichen Übungen schwächer als sich selbst sahen, fürchteten sie die Kunst und erwürgten den Mann, der nichts weniger als mit seiner Kunst eins war. Auf alle Kultur Europas ist dies anwendbar Darum, weil die Sprache eines Volks, zumal in Büchern, gescheut und fein ist, darum ist nicht jeder fein und gescheut, der diese Bücher lieset und diese Sprache redet. Wie er sie lieset, wie er sie redet, das wäre die Frage; und auch dann dächte und spräche er immer doch nur nach: er folgt den Gedanken und der Bezeichnungskraft eines andern. Der Wilde, der in seinem[357] engern Kreise eigentümlich denkt und sich in ihm wahrer, bestimmter und nachdrücklicher ausdrückt, er, der in der Sphäre seines wirklichen Lebens Sinne und Glieder, seinen praktischen Verstand und seine wenigen Werkzeuge mit Kunst und Gegenwart des Geistes zu gebrauchen weiß: offenbar ist er, Mensch gegen Mensch gerechnet, gebildeter als jene politische oder gelehrte Maschine, die wie ein Kind auf einem sehr hohen Gerüst steht, das aber leider fremde Hände, ja, das oft die ganze Mühe der Vorwelt erbaute. Der Naturmensch dagegen ist ein zwar beschränkter, aber gesunder und tüchtiger Mann auf der Erde. Niemand wird's leugnen, daß Europa das Archiv der Kunst und des aussinnenden menschlichen Verstandes sei; das Schicksal der Zeitenfolge hat in ihm seine Schätze niedergelegt; sie sind in ihm vermehrt worden und werden gebrauchet. Darum aber hat nicht jeder, der sie gebraucht, den Verstand des Erfinders; vielmehr ist dieser einesteils durch den Gebrauch müßig worden; denn wenn ich das Werkzeug eines Fremden habe, so erfinde ich mir schwerlich selbst ein Werkzeug.

Eine weit schwerere Frage ist's noch, was Künste und Wissenschaften zur Glückseligkeit der Menschen getan oder wiefern sie diese vermehrt haben; und ich glaube, weder mit Ja noch Nein kann die Frage schlechthin entschieden werden, weil, wie allenthalben so auch hier, auf den Gebrauch des Erfundenen alles ankommt. Daß feinere und künstlichere Werkzeuge in der Welt sind und also mit wenigerm mehr getan, mithin manche Menschenmühe geschont und erspart werden kann, wenn man sie schonen und sparen mag, darüber ist keine Frage. Auch ist es unstreitig, daß mit jeder Kunst und Wissenschaft ein neues Band der Geselligkeit, d.i. jenes gemeinschaftlichen Bedürfnisses, geknüpft sei, ohne welches künstliche Menschen nicht mehr leben mögen. Ob aber gegenseitig jedes vermehrte Bedürfnis auch den engen Kreis der menschlichen Glückseligkeit erweitere, ob die Kunst der Natur je etwas wirklich zuzusetzen vermochte oder ob diese vielmehr durch jene in manchem entübriget und entkräftet[358] werde, ob alle wissenschaftlichen und Künstlergaben nicht auch Neigungen in der menschlichen Brust rege gemacht hätten, bei denen man viel seltner und schwerer zur schönsten Gabe des Menschen, der Zufriedenheit, gelangen kann, weil diese Neigungen mit ihrer inneren Unruh der Zufriedenheit unaufhörlich widerstreben; ja endlich, ob durch den Zusammendrang der Menschen und ihre vermehrte Geselligkeit nicht manche Länder und Städte zu einem Armenhause, zu einem künstlichen Lazarett und Hospital worden sind, in dessen eingeschlossener Luft die blasse Menschheit auch künstlich siechet, und da sie von so vielen unverdienten Almosen der Wissenschaft, Kunst und Staatsverfassung ernährt wird, großenteils auch die Art der Bettler angenommen habe, die sich auf alle Bettlerkünste legen und dafür der Bettler Schicksal erdulden: über dies und so manches andre mehr soll uns die Tochter der Zeit, die helle Geschichte, unterweisen.

Boten des Schicksals also, ihr Genien und Erfinder, auf welcher nutzbar-gefährlichen Höhe übet ihr euren göttlichen Beruf! Ihr erfandet, aber nicht für euch; auch lag es in eurer Macht nicht, zu bestimmen, wie Welt und Nachwelt eure Erfindungen anwenden, was sie an solche reihen, was sie nach Analogie derselben Gegenseitiges oder Neues erfinden würde. Jahrhundertelang lag oft die Perle begraben, und Hähne scharreten darüber hin, bis sie vielleicht ein Unwürdiger fand und in die Krone des Monarchen pflanzte, wo sie nicht immer mit wohltätigem Glanz glänzet. Ihr indessen tatet euer Werk und gabt der Nachwelt Schätze hin, die entweder euer unruhiger Geist aufgrub oder die euch das waltende Schicksal in die Hand spielte. Dem waltenden Schicksal also überließet ihr auch die Wirkungen und den Nutzen eures Fundes; und dieses tat, was es zu tun für gut fand. In periodischen Revolutionen bildete es entweder Gedanken aus oder ließ sie untergehen und wußte immer das Gift mit dem Gegengift, den Nutzen mit dem Schaden zu mischen und zu mildern. Der Erfinder des Pulvers dachte nicht daran, welche Verwüstungen sowohl des politischen als des physischen Reichs menschlicher[359] Kräfte der Funke seines schwarzen Staubes mit sich führte; noch weniger konnte er sehen, was auch wir jetzt kaum zu mutmaßen wagen, wie in dieser Pulvertonne, dem fürchterlichen Thron mancher Despoten, abermals zu einer andern Verfassung der Nachwelt ein wohltätiger Same keime. Denn reinigt das Ungewitter nicht die Luft? Und muß, wenn die Riesen der Erde vertilgt sind, nicht Herkules selbst seine Hand an wohltätigere Werke legen? Der Mann, der die Richtung der Magnetnadel zuerst bemerkte, sah weder das Glück noch das Elend voraus, das dieses Zaubergeschenk, unterstützt von tausend andern Künsten, auf alle Weltteile bringen würde, bis auch hier vielleicht eine neue Katastrophe alte Übel ersetzt oder neue Übel erzeuget. So mit dem Glase, dem Gelde, dem Eisen, der Kleidung, der Schreib- und Buchdruckerkunst, der Sternseherei und allen Wissenschaften der künstlichen Regierung. Der wunderbare Zusammenhang, der bei der Entwicklung und periodischen Fortleitung dieser Erfindungen zu herrschen scheint, die sonderbare Art, wie eine die Wirkung der andern einschränkt und mildert: das alles gehört zur obern Haushaltung Gottes mit unserm Geschlecht, der wahren Philosophie seiner Geschichte.

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Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2 Bände, Band 1, Berlin und Weimar 1965, S. 354-360.
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