14.

[115] »Auch die Größe der Homerischen Götter kann der Maler nicht nachahmen!« und was Hr. L. darüber sagt,1 läuft auf die drei Ursachen hinaus: daß in der Malerei weniger das Wunderbare der Poetischen Einbildung, sondern mehr die Gewohnheit[115] zu sehen, die anschauliche Wahrheit des Auges herrsche: zweitens, daß, da die Malerei innerhalb einem Raume arbeitet, auch mehr die Proportion und Disproportion in Betracht komme, als bei dem Dichter, dessen Einbildungskraft in allen Welten des Möglichen und Wirklichen, nicht bloß also zwischen Himmel und Erde, und am wenigsten zwischen vier engen Seiten wirket. – Drittens, daß, wo die Größe durch Kraft, Stärke, Schnelligkeit vom Dichter ausgedrückt werden konnte, der Maler in diesem Ausdrucke ihm ganz nachbleibe, da er, der für den Raum arbeitet, nicht eben Kraft, und der, der für Einen Anblick arbeitet, nicht eben Schnelligkeit der Bewegung zum Mittelpunkte seiner Wirksamkeit machen kann. – Es könnte diesen Ursachen ein sehr Philosophischer Mantel umgeworfen werden, wenn er des Macherlohns werth wäre.

Ich bleibe gar zu gerne bei Homer, insonderheit wenn Hr. L. den Ausleger desselben machet. – »Größe, Stärke, Schnelligkeit,« sagt Hr. L. – »Homer hat davon noch immer einen höhern wunderbarern Grad für seine Götter in Vorrath, als er seinen vorzüglichsten Helden beilegt. In Ansehung der Stärke und Schnelligkeit wird niemand diese Assertion in Abrede seyn; nur dürfte er sich vielleicht der Exempel nicht gleich erinnern, aus welchen es erhellet, daß der Dichter seinen Göttern auch eine körperliche Größe gegeben, die alle natürliche Maaße weit übersteiget. Selbst Ausleger des Homers, alte sowohl als neue, scheinen sich nicht allezeit dieser wunderbaren Statur seiner Götter genugsam erinnert zu haben; welches aus den lindernden Erklärungen abzunehmen, die sie über den großen Helm der Minerva geben zu müssen glauben.«2

Hr. L. hat die Clarkisch-Ernestische Ausgabe des Homers hiebei angezogen, und so sind leicht die Ausleger des Homers, alte sowohl als neue, gnugsam zu erkennen, die sich der wunderbaren Statur der Götter Homers nicht gnug erinnert; sie sind3[116] Eustathius, Clarke, der durch seine Anführung Eustathius genehmigt, und Ernesti, welcher letztere die Homerische Beschreibung des Helms der Minerva mehr auf die Vestigkeit, als Größe desselben will gezogen wissen. Wie nun? ist die alle natürliche Maaße weit übersteigende körperliche Größe ein Charakter der Homerischen Götter? ein eben so offenbarer, känntlicher und nothwendiger Charakterzug, als Schnelligkeit und Stärke? und denn noch zum Ueberfluß haben die alten Meister der Bildhauerei, wie Hr. L. überzeugt ist, das Kolossalische, das sie öfters ihren Statuen ertheilten, aus dem Homer entlehnet?

So viel ist leicht zu denken, daß, wenn der Dichter seinen Göttern eine mehr als Helden- und Riesenstärke giebt, er diese Stärke auch nicht in einen Pygmäenkörper werde eingeschlossen haben: etwas, das wider alle Poetische und Menschliche Wahrscheinlichkeit liefe. Es wäre dem Anschaulichen des Dichters völlig entgegen, Menschenähnliche Götter mit unermäßlicher Stärke würken, und unter dem gewöhnlichen Grade von Menschengestalt sehen zu lassen. In mystischen Geheimnissen wären solche Götter willkommen, weil man um so mehr seine Geschicklichkeit zeigen kann, Knoten aufzulösen, je mehr Knoten und Widersprüche man geschlungen: aber im Felde der offenbaren Poesie sind solche Wesen Mikromegas.

Daß also die Statur des Körpers der geäußerten Stärke nicht durchaus, und schon dem sinnlichen Anblicke nach wiederspreche! Nun aber weiter: wo kein übermenschlicher Grad der Stärke geäußert wird: da ist auch keine übermenschliche Größe nöthig, wären es auch Götter oder Göttinnen. Ja, wo es gegentheils zum Charakter dieser und jener Gottheit gehört, diese übermenschliche Stärke nicht zu besitzen; da wäre die Hypergigantische Statur in dem Anschaulichen der Dichtkunst ein unleidlicher Widerspruch. Ich denke, meine Folgerungen sind wahrscheinlich, und sie sollen gewiß werden. Homer sei Zeuge: sein Jupiter, sein Neptun, seine Minerve mögen so groß seyn, als sie wollen; eine Juno von königlicher Schönheit schon nicht völlig so. Sie mag so viel Großes in[117] ihrem Anblicke haben, daß er sie Kuhäugicht4 nenne; so viel Erhabenes in ihrem Gliederbaue, als dem Weibe gebührt, das in Jupiters Armen ruhet: sie mag, wenn sie sich zornig auf ihrem himmlischen Throne reget, den großen Olymp erschüttern5 – Ideen von ihrer Hoheit und Größe! Nur daß diese im eigentlichen Verstande mir nicht zuerst durch die körperliche Statur vorgestellt werde: daß sich nicht auf diese, als auf den Hauptanblick, mein Auge heften dörfe: sonst verliere ich die Königin der Götter, die herrlichste der Göttinnen aus den Augen: ich sehe ein Riesenweib. Wo hat sie alsdenn, die Langstreckige? wo hat sie alsdenn im Himmel Raum? wie groß muß ihr himmlisches Brautgemach6 seyn, das ihr Vulkan erbauet? wie groß der Schlüssel und das Schloß zu diesem Gemache,7 das kein Gott eröfnen kann, als sie? wie viel Centner Ambrosia wird sie brauchen, um ihren Körper8 zu säubern? wie viel Tonnen Oel, um ihn zu salben? wie groß wirb ihr Kamm, ihr Gürtel, ihr Schmuck seyn? wo wird sie mit Jupiter auf dem Berge Ida in ihrer süßen Umarmung9 Raum haben? wie, wenn er sie in seine Arme faßt, an seine königliche Brust drückt, wie wird Ida und die Erde beben? – – Ich mag nicht weiter, gnug! alles Süße und Große in dem Gemälde Homers von ihrer Ankleidung, Auszierung, und Umarmung10, verschwindet mit der unermäßlichen Gestalt. So bald auch nur mit einem Einigen känntlichen Zuge die Gigantische Statur zum Hauptaugenmerke würde: so schwinden die Gränzen der Schönheit, oder wenn man lieber will, der höchsten Vollkommenheit im weiblichen Gliederbaue. Mein Auge erliegt, wenn es ins Ungeheure soll, und die Bewunderung, die ich jetzt fühle, verwandet sich in eine Art von grauenvollem Selbstgefühle, und Schauder und Ekel. Hat[118] Homer nicht also gut gethan, daß er »seiner Göttin nicht so offenbar eine körperliche Größe gab, die alle natürliche Maaße weit überstiege.«

Bei seiner Venus wäre diese noch von üblerer Wirkung. Wenn sie ihm die das süße Lachen liebende Göttin11 ist: wo bleibt das süße Lachen im Riesengesichte eines Weibes? Der Mund möge sich auch nur zum Lächeln verziehen wollen: die Lippen sich auch nur von fern dazu regen; der sich verziehende Mund dünkt mich Verzerrung, das sich meldende Lachen wird Grimasse, und das ausbrechende Lachen ungeheures Gelächter. Und wie ungereimt dünkt mich als denn diese Riesengestalt, wenn sie über eine Ritzung ihrer Haut am Finger schreiet, klaget, weinet, und den ganzen Himmel erreget!

Kurz! wo Größe und Stärke nicht das Hauptstück im Charakter einer Gottheit ausmacht, da ist die übermenschliche Natur auch nicht ein nothwendiges Augenmerk. Wo der Charakter der Gottheit damit aber gar nicht bestehen kann, z.E. die höchste Vollkommenheit eines weiblichen Gliederbaues in der Juno, und die liebreizendste Schönheit in der Tochter Dionens: da bleibe sie unsern Augen weg. Diese können, als Menschliche Augen, das Ideal der hohen sowohl als der lieblichen Schönheit eines Menschlich scheinenden Körpers, nicht anders, als mit natürlichem Maaße bestimmen: zwar mit dem Unterschiede, daß in der Malerei dich Maaß in den Gränzen der Kunst bleibt, in der Poesie aber sich zu der Stuffe erheben kann, die für die Phantasie des Menschen die höchste ist; daß aber auch dies Höchste für die Phantasie überschaulich, in seinem natürlichen Maaße bleibe. Geht dies Anschauliche Ganze verloren, übersteigt die Statur der Juno und Venus, auch nur in einer Linie, die Größe, in welcher ich mir körperliche Vollkommenheit und Schönheit gedenke: so hat der Dichter seinen Eindruck verfehlt. Nach einmal angenommenem Charakter, läßt sich nicht,[119] wie er will, den Göttern eine Größe geben, die alle natürliche Maaße übersteigt; in dem natürlichen Maaße, da sich körperliche Schönheit für meine Phantasie hält, muß sich auch seine Größe der Venus und Juno halten – –

Nun selbst die Gottheiten, deren Charakter und Individualität einmal eine Aeußerung vorzüglicher Stärke will: Minerva, der gewaltige Erdumfasser Neptun, und denn der mächtigste aller Götter, Jupiter: Und ich wiederhole aufs neue: daß bei ihnen die körperliche Größe ihren Wirkungen nur nicht wiederspreche: nicht aber, daß von Größe auf Stärke bei Homer der Schluß gemacht werden dörfe!

Homer gab uns keinen Einzigen der Götter gemalet: so auch nicht ihre, »alles natürliche Maaß übersteigende Größe:« er zeigt uns ihre Natur in Wirkung, in Bewegung.

Der große Jupiter! aber ist er bei Homer deßwegen groß, weil er, wie jener Engel des Korans, von einer seiner Augenbrauen bis zur andern sieben Tagereisen hätte? Das würde uns Jupiter der Ungeheure, nicht aber der Große dünken: Homer weiß also bessern Weg. Er winkt mit seinen schwärzlichen Augenbrauen der Thetis sein höchstes Zeichen zu: das Ambrosische Haar auf dem unsterblichen Haupte des Königs wallet, und der große Olympus bebt12 – das ist der große Jupiter! Nicht wie lang, sondern wie machtvoll seine Augenbrane und sein Haar sey: nicht wie geräumig, sondern wie gebietend das Haupt des unsterblichen Königs: das ist das Augenmerk des Dichters. Das ist Jupiter, der Mächtige! Zevs, der Städteverwüster.

Einmal13 will dieser Jupiter seine überwiegende Macht vor allen Göttern recht ausdrücken: er misset sich also mit ihnen – aber an körperlicher Größe? an Länge der Arme? an Stärke der Sehnen? unwürdiger, ungeheurer Anblick! Jupiter hat einen bessern Vorschlag an seine Götter und Göttinnen. Alle sollten sich an die Himmelherab hangende goldene Kette hängen, und mit allen[120] Kräften ziehen: den Jupiter würden sie damit nicht vom Himmel zur Erde reißen können; »ich aber,« fährt er fort, »wenn ich ziehen wollte, mit Erde und Meer würde ich sie aufziehen, alsdenn die Kette um den Gipfel des Olympus schlingen: da hingen sie Alle in der Höhe. So weit mächtiger bin ich, als Götter und Menschen.« Es kann kein erhabener und einfältiger Bild gefunden werden, als dies von der Uebermacht des höchsten Gottes; allein ein Bild von der Uebergröße dieses Gottes über Götter und Menschen findet sich nicht.

So wird die Größe Neptunus durch seine Schritte14 mehr errathen und angedeutet, als geschildert: denn eine Ausmessung seiner ganzen Gestalt, nach Maasgabe dieser Schritte, wäre ungeheuer und nicht Homerisch. Vielmehr hat der weise Dichter auch hier in Aeußerung der Größe durch die Stärke, und der Stärke durch Bewegung eine Leiter gesetzt, um nach der Stuffe seiner Götter auch ihnen die Würde zuzuwiegen, die die größeste Kraft mit der größesten Sparsamkeit des Ausdrucks äußert. So wie der Höchste der Götter seine Größe durch einen Wink: so zeigt der Nächste nach ihm an Hoheit, Neptun, die seinige eine Stuffe tiefer – schreitend.15 Die Größe Minervens wird wieder durch ihre Stärke gemessen, da sie einen ungeheuren Stein16 ergreift, und den langstreckigen Mars zu Boden wirft. Vielleicht aber legt Hr. L. mehr Gewicht in diesen Stein, als Homer in ihn legen wollte. »Er war ein schwarzer, rauher, großer Stein, der zum Grenzstein dahingewälzet war von Männern voriger Zeiten.« Ob nun mit diesem Homer den Maasstab machen wollen: daß ein Held seiner Zeit gleich zween Männern, und ein Held alter Zeit gleich zween Helden, und dieser Stein also gleich so viel vierfach zusammengesetzten[121] Mannskräften berechnet werden müsse, als Männer ihn gelegt hatten, weiß ich so genau nicht. Homer kann vielleicht blos sagen: es war ein uralter Grenzstein. –

Auch die Größe des Helms der Minerva17 ist mir noch strittig; ob sie nach Maas oder Gewichte zu berechnen sey. »Um ihre Schultern legt Pallas die fürchterliche Aegis: die ringsum von Furcht umgeben, in der die Zwietracht, und die Stärke, und die wilde Mordlust: in der auch das Haupt der Gorgone, des abscheulichen Ungeheuers eingegraben war, fürchterlich, gräulich, das Schreckbild des donnernden Zevs – aufs Haupt setzte sie den goldnen Helm – –


έκατον πολεων πρυλεεσσ άραρυιαν.


Was ist nun das letzte, der den Fußvölkern aus hundert Städten gnug war? Es sey, wie Ernesti will, der den Anfall einer Armee aus hundert Städten, geschweige denn aus einer, aushalten könnte. Oder wie der Scholiast will, der die Bilder von Fußvölkern aus hundert Städten auf sich hätte eingegraben haben können: alsdenn stimmt diese Erklärung in den Zusammenhang der Beschreibung von der fürchterlichen Aegis. Oder wie andre wollen, der Helm, den die Fußvölker aus hundert Städten zu heben, zu tragen kaum hinreichten: diese Erklärung dünkt mir nach dem Tone Homers die beste; denn sie giebt das stärkste Bild von der innern Macht der Göttin, die sich hier in dem Tragen eines Helms, auf eine stille erhabne Weise äußert. – Es sey indessen welche von diesen Erklärungen es wolle: keine ist erdacht, um die Stelle zu lindern, sondern nur den Sinn Homers zu erklären, und nach allen dünkt mir doch die, obgleich uralte, die Hr. L. annimmt:18 der Helm, unter welchem sich so viel Streiter, als hundert Städte in das Feld zu stellen vermögen, verbergen können,« diese dünkt mir unter allen die letzte. Wo ist je ein Helm dazu gewesen, um zu sehen, wie viel Streiter unter ihm Raum haben?[122] wie müssen die Helden stehen, wenn sie mit dem Helme, wie mit einem Scheffel sollen gemessen werden? wie wäre also Homer auf dieß kindische oder Romantische Bild gekommen, die Streiter von hundert Städten, sich in einem allgemeinen Blindekuhspiele hierunter verkriechen zu lassen? u.s.w. Kurzum! Homer giebt doch kein Maas der Minerve an ihrer Statur des Körpers geradehin; sondern läßt uns den Schluß von ihrem Helme auf ihre Größe, oder, wenn die mir schicklichste Erklärung gölte, vielmehr auf ihre innere Stärke, »sie setzte den Helm aufs Haupt, der den Kräften eines Fußvolks aus hundert Städten zu schaffen geben könnte,« welch ein stilles Bild ihrer Göttlichen Stärke!

Mars, der Menschenwürger, in allem roh und ungeheuer, in seinem Anfalle und in seinem Geschreie – warum sollte ers nicht auch in seinem Hinsturze seyn? Und da erlaubt sich Homer das Bild, daß er, so wie er zehn tausend Menschen gleich aufschreien, auch im Falle sieben Hufen Landes19 bedecken kann: ein Gigantischer Kerl! aber das ist auch Mars! Würde Homer jeden andern Gott ihm nachschreien, und im Falle nachstrecken lassen? Wie würde wohl der hohen Juno, oder der lieblichen Venus eine so seltene Stellung lassen? – Zudem mißt Homer seinen Kolossus, da er liegt: aufrecht wagte ers nicht, uns den ungeheuren Aufblick abzuzwingen. Zudem ists blos im Kampfe der Götter mit Göttern, wo Homer alle Kräfte zusammen nimmt, einen Gigantenkampf, der sich von einem Menschlichen Gefechte unterschiede, zu schildern. In Schlachtordnung mit Menschen zusammengestellt, Führer Menschlicher Heere, ist die übermenschliche Statur »die alle natürliche Maaße weit übersteiget,« ganz verschwunden. Mars und Minerve, da sie ein Heer auf dem Schilde anführen, können sich durch goldene Kleider, durch Schönheit, durch eine ansehnliche und auszeichnende Statur in ihrer Rüstung unterscheiden; denn sie sollen ja Götter auf dem Schilde vorstellen – sie können in dieser ansehnlichen Gestalt vorragen, und die Menschenvölker etwas[123] niedriger20 seyn; aber an einen sieben Hufen langen Mars ist ja hier nicht zu gedenken, und ich weiß nicht, wie Hr. L. eine Stelle für sich anführet,21 die nur sehr wenig von seiner Assertion beweiset. Homer lindert die Größe der unter Menschen wandelnden Götter hier so, als sie Clarke und Ernesti am vorigen Orte nicht lindern wollten, und überhaupt gehört die Vorstellung auf dem Schilde hier nicht zur Sache.

Es ist Zeit, daß ich ein Ende mache. Größe, Stärke, Schnelligkeit sind bei Homer nicht gleich wichtige Prädikate, um seine Götter von seinen vorzüglichsten Helden zu unterscheiden.22 Selbst von Stärke und Schnelligkeit wird niemand, der den Homer auch nur ein einziges mal flüchtig durchlaufen, diese Assertion zugeben. Diomedes überwältigt die unkriegerische Venus, und Diomedes war doch nicht einmal Achilles. Er überwältigt Mars, und hier mag Dione für mich das Wort führen.23

Per Individualcharakter der Homerischen Götter und Göttinnen ist also das Hauptaugenmerk, nach welchem sich auch ihre Größe und Stärke richtet. Hier kommt kein Allgemeinsatz in Betrachtung: Charakter ist hier über Gottheit.

Es giebt also bei ihm Göttinnen, die an Stärke unter den Helden bleiben: Göttinnen also auch, die an Größe den Menschen gleich seyn müssen: Götter, die eben nicht größer sein dörfen. Für das erste zeuge Venus: für das zweite Juno, Venus, und vielleicht alle Göttinnen: für das dritte Apollo.

Ferner: Größe ist niemals Hauptzweck des Dichters, um aus ihr Stärke zu folgern; sondern nur immer da, um dem Bilde der Macht und Hoheit nicht zu wiedersprechen.

Kann diese also durch andre Merkmaale erkannt werden, um so gefälliger dem Dichter: und welches ist ein besseres Kennzeichen von Hoheit, als Macht in der Wirkung, Schnelligkeit in der Bewegung?[124]

Aus dieser also läßt Homer auf jene schließen: nicht aber umgekehrt. Aus dem Winke Zevs, aus dem Schritt Neptuns, aus dem Wurfe der Minerva auf ihre Größe, nicht aber im Gegentheil.

So wie Er gerne in seiner Schöpfung zwischen Himmel und Erde bleibt:24 so überspannet er auch nie gern die Phantasie in dem Maaße der Größe. Wo ein Zug hierüber nöthig war, ward er eingestreuet, und gelindert.

Insonderheit unter Menschen gelindert: denn zu einem Göttertreffen,25 und einem Götterhimmel, ist schon eine kleine Ueberspannung zum Wunderbaren μωρον seiner Götter nothwendig. Wer kann etwas schildern, das er nie gesehen, das er blos durch Menschenerhöhung trifft?

Und auch hier ists für mich kein Axiom, »daß der Dichter seinen Göttern eine Größe gegeben, die alle natürliche Maaße weit übersteiget.« Denn Homer hat bei dem Unendlichen selbst lauter natürliche Maaße, und auch deßwegen unter tausend andern Ursachen ist er mein Dichter.

Ob endlich die Bildhauer das Kolossalische, das sie ihren Götterstatuen öfters ertheilten, aus Homer entlehnt?26 – Diese Frage dünkt mich so, als jene Indianische: worauf ruht die Erde? auf einem Elephanten! und worauf der Elephant? – Von wem nämlich mag denn Homer das Kolossalische entlehnt haben, das er, hie und da, diesem und jenem Gotte giebt? Mich dünkt, man könne in Aegypten den Ursprung von diesen und mehreren Homerischen Ideen finden, insonderheit an Orten, wo das Alte der Göttererzälung, wo die Tradition von Mythologischen Anekdoten herrschet, die statt des Schönen, nach welchem er sonst seine Götter schaffet, ins wüste Große gehen. Ich habe Lust, über ein Paar Proben dieser Behauptung einige fliegende Schriftchen27 zu lesen, die zu gut scheinen, um unter Schriften ihrer Art zu verfliegen,[125] insonderheit, da mir da Aufgabe im Ganzen betrachtet: »was hat Homer von den Aegyptern entlehnet? wie hat er die alten Sagen voriger Zeiten in das Schöne seiner Kunst verändert?« groß und noch ungenutzt vorkommt.

1

Laok. p. 131–136 [451–54].

2

Laok. 135. [453–4]

3

E. 744. ed Clark-Ernest.

4

Βοωπς ποτνια Ήρη.

5

Iliad. ϑ'. 198. 199.

6

Iliad. ξ. 163. etc.

7

ξ. 168.

8

Άμβροσιη μεν πρωτον άπο χροος ίμεροεντος

Αυματα παντα καϑηρεν, άλειψατο δε λιπ' έλαιῳ.

Iliad. ξ. 171. 172.

9

ξ. 346. etc.

10

ξ. v. 153. etc.

11

φιλομμειδης Άφροδιτη.

12

Iliad. A. 528.

13

Iliad. Θ. 17–27.

14

Welch ein Bild giebt der auf Ida die Waage des Schicksals haltende Jupiter! Die Schaale der Griechen sinkt zur Erde: die Schaale der Trojaner steigt zum Himmel – wie stark ist der wägende Arm des Gottes! Θ. 69–75. Solche Bilder liefert Homer, und keine Maasstäbe!

15

Iliad. N 10–45.

16

Iliad. φ. 403.

17

Iliad. E. 737. [743. 44]

18

Laok. p. 135. [454].

19

Iliad. φ. 407.

20

Iliad. Σ. 516–19.

21

Laok. p. 136. [454].

22

Laok. p. 135. [453].

23

Iliad. E. 381. etc.

24

Iliad. Θ. 13–16.

25

Iliad. Φ. 385–[408]

26

Laok. p. 136. [454]

27

Harles de Jove Homeri etc.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maßgabe neuerer Schriften. 1769, in: Herders Sämmtliche Werke. Band 3, Berlin 1878, S. 115-126.
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