21.

[166] Und wozu nutzet denn Homer den Thersites? Die Frage wird wieder Homerisch, und in Homerischen Fragen antworte ich so selten mit Hrn. L. gleich. »Homer macht den Thersites häßlich, um ihn lächerlich machen zu können. Durch seine bloße Häßlichkeit wird er nicht lächerlich; aber auch ohne dieselbe nicht seyn.«1, Auf diese Assertion bauet Hr. L. einen Theil seiner Theorie des Lächerlichen, der ich lieber einen andern Ort und Grundlage wünschte, als hier.[166]

In meinem Homer ist der Hauptcharakter Thersites nicht lächerlich, sondern häßlich; er ist kein lächerlich, sondern [ein] boshaft knurrender Kerl, er hat die schwarzeste Seele unter allen vor Troja.2 Alle sitzen ruhig; der einige Thersites lärmt noch umher:3 er fängt, wahrhaftig nicht zum Spaaße, sondern mit der bittersten Galle an, zu zanken: er schmähet die Könige, aber gewiß nicht als Hofnarr, sondern als Feind, als Todfeind. Wie derb und empfindlich4 schmälet er auf Agamemnon! auf seinen Geiz, auf seine Feigheit, auf seine Ungerechtigkeit! Und das alles, vor der Armee, verläumdend und lügenhaft, im dreustesten Tone, als ein Richter der Könige! und dazu, als wäre es im Namen aller Griechen,5 als hätten ihn alle dazu gedungen! und in eben demselben Athem schimpft er die ganze Nation6 selbst, schilt alle Griechen für Feige und Nichtswürdige, spricht in einem Tone, als hätte er mehr, als alle, gethan, müsse für alle sorgen, könne allen gebieten, könne über alle urtheilen! Und noch nicht gnug! er muß noch einen Abwesenden,7 den Tapfersten der Griechen, den Achilles schmähen, und zwar mit der gräulichsten Lüge schmähen, daß Achilles kein Herz habe – O der nichtswürdige, häßliche Kerl! Nach Griechischen Begriffen konnte kein Nichtswürdigerer vor Troja gefunden werden.

Und wenn er noch das alles aus Dummdreustigkeit sagte! aber nun kennet ihn Homer besser: er war schon von jeher gewohnt, so Pöbelhaft sich gegen die Könige zu setzen, um – den Griechen eine Freude zu erwecken, einen Gefallen zu thun8 – und nun wird[167] der Kerl noch niederträchtiger, noch häßlicher. Nach Griechischen Begriffen der Ehre, kann es keine häßlichere Seele geben.

Daher hassen ihn auch alle Griechen:9 daher auch mitten in ihrer Betrübniß das Freudengelächter,10 da sich Ulysses seiner erbarmet, und ihn mit seinem Zepter zum Schweigen bringt: daher die allgemeine Stimme: »Ulysses hat nie eine herrlichere That gethan, als jetzt, da er diesen bösartigen Schwätzer gezüchtigt.«

So schildert ihn Homer mit jedem Zuge: so zeigt er sich selbst mit jedem Worte: so begegnet ihm Ulysses mit Auge, und Mund und Hand. Er wirft ihm den verächtlichsten Blick zu;11 spricht und handelt mit ihm en Canaille; so beträgt er sich hintennach selbst: er hängt die Nase, krümmt den Rücken, und weint – verächtlichste, häßlichste Seele vor Troja! Nach Griechischen Begriffen war der Werth eines Mannes, eines Soldaten, eines Helden auf edlen Stolz gegen sich selbst, auf Ehrerbietung gegen die, so Ruhm verdienten, auf Männliche Wahrheitliebe, auf Achtung gegen das Publikum, auf freien Gehorsam gegen die Obern, auf Ehre gebauet – in jedem Verstande war dies ein Ideal einer häßlichen Seele.

Und nach Griechischen Begriffen muß auch eine so häßliche Seele keinen andern, als den häßlichsten Körper, bewohnen: so schildert ihn Homer: »Am Gemüthe der Bösartigste, am Körper der Häßlichste aller Griechen vor Troja.«12

Wo ist nun, daß Homer den Thersites häßlich macht, um ihn lächerlich zu machen? Ihn als Possenreißer vorführen, will er wahrlich nicht: blos ein Misverstand des Griechischen Ausdrucks13 hat Hrn. L. und andre dazu verleitet. »Er war so niederträchtig,[168] sagt Homer, daß er seine Pflicht vergaß, mit den Königen zankte, sich Prügel verschaffte, blos, um den Griechen mit seinen Reden eine Freude zu machen;« – nichtswürdige Seele! die alle für so misvergnügt, so häßlich knurrend hält, als sich selbst, die allen durch ihre Bosheit einen Gefallen zu thun glaubt. So erkläre ich Homer, und finde diesen Zug dem ganzen Gemälde seiner Reden, seiner Handlungen gleich, niederträchtig, häßlich. So nimmt ihn Ulysses: er schilt seine Bosheit, verachtet seine Feigheit, straft seinen Trotz; so nehmen ihn die Griechen: sie hassen ihn, hören ihn mit Unwillen, und freuen sich, da sein Rücken blutet: so tritt er vor, so wird er abgefertigt.

Ich sehe also nicht, daß das γελοιον sein Hauptcharakter ist, noch minder, daß dieser Charakter ohne Häßlichkeit nicht seyn könnte, wie Hr. L. philosophirt.14 Ein häßlicher Körper, und eine häßliche Seele, was giebt dann das für einen Kontrast des Lächerlichen! Nach Griechischen Begriffen gehört nichts besser zusammen, und auch Homer giebt ihm den häßlichen Körper, eben um den Unwillen gegen ihn zu bestärken, um seine häßliche Seele uns sichtbar vor Augen zu stellen, um uns den Kerl durchaus verächtlich zu machen. Das Lächerliche ist so wenig die Hauptfarbe im Thersites, daß selbst die Züge, die man dahin zu ziehen pflegt, sein unendliches Geschwätz,15 sein vieles Geräusch,16 sein Pöbelausdruck,17 sein Zweck,18 um den Griechen einen Gefallen zu thun – nicht den Lustigmacher, sondern nach Griechischen Begriffen, den in allem nichtswürdigen Menschen schildern. Selbst, daß die Griechen über ihn lachen, ist Schadenfreude, ist ein Gelächter des Hasses; nicht die unschuldige Freude über eine lustige Prise, die unschuldig lächerlich wird. Wäre Thersit ein solcher; er sey auch dumm, er sey auch häßlich am Körper; wenn er nicht boshaft handelte – o so[169] vergebe ich es Ulysses nicht, daß er so mit ihm umgehet. Laß den Häßlichen, der sich schön, den Dummen, der sich klug, den Feigen, der sich tapfer dünkt, nur immer ohne blutige Schwiele auf dem Rücken laufen! Laß o Ulysses, nur immer deinen Zepter ruhen, und wenn du nach deiner Klugheit dich selbst kennest, so sprich zu dem, der dir blos lächerlich auf der Nase spielt, was Onkel Tobias Shandy zu jener Fliege: »Geh, armer Teufel! warum sollte ich dir was thun? die Welt ist gewiß weit gnug, mich und dich zu fassen.« Thust du das nicht? willst du einen häßlichlächerlichen dafür abprügeln, daß er häßlich und lächerlich ist? Ulysses so – –

Doch so ist der Homerische Thersites nicht; er verdient, was er bekam: wir sagen mit den Griechen im Homer: »nie hat Ulysses edler gehandelt, als jetzt!« wir gönnen ihm gern seine Tracht Schläge. Wo bleibt also das Unschädliche, das ου φϑαρτικον, das Aristoteles zum Lächerlichen fodert? dem Ulysses und Agamemnon schadet freilich sein bösartiges Verläumden nicht; aber für seinen eignen Rücken geht es nicht so gut ab; denn wem wird ein blutiger Schwielenvoller Rücken, als ein ου φϑαρτικον τι, oder, als ein gutes Unterkleid dünken. Auch den Griechen konnten Schläge, als Schläge, kein Schauspiel des Lächerlichen scheinen; wenn ihr schadenfroher Haß gegen Thersites ihnen nicht in dieser Strafe das: Nicht zu viel! das Viel mehr verdient! hätte fühlen lassen. Der erste Strich vom Lächerlichen, das Unschädliche, ist also ziemlich zweifelhaft: und der andre, der Contrast zwischen Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten, erliegt bei Thersites unter dem Eindrucke des Unvollkommenen, des an sich selbst Häßlichen. Auch wer ein Grieche werden kann, wird Thersites in diesem Lichte sehen.

Nur weil Homer keine einzige Person seiner Welt zum Ideal des höchst Vollkommnen oder Unvollkommnen machet: so vertreibet er auch hier die übermäßige Farbe des Häßlichen etwas, daß sein Thersites nicht vor allen Figuren seines Gedichts vorruffe. Hat er kein Gutes, so hat er doch noch das Gute an sich, daß er auf sich[170] selbst einen Werth setzt, daß er, seine Beredsamkeit, seine Klugheit und Ehrlichkeit mag so leidig seyn, wie sie will, sich doch diese Häßlichkeit nicht zutrauet: so wird der sonst ganz und gar Verachtens-Hassenswürdige doch etwas leidlicher; es geht auf ein Lächerliches hinaus. Nur ist dieses Letzte so sehr Nebenzug, es liegt so wenig in seinem Charakter, daß es sich, als ein fremder Zug, nur vorübergehend, nur hinten nach einmischet. Homer läßt seine Häßlichkeit auf etwas Unschädliches auslaufen, um sein ganz Häßliches, ganz Verabscheuungswürdiges zu lindern; nicht aber umgekehrt: »Homer macht den Thersites häßlich, um ihn lächerlich zu machen: nicht seine bloße Häßlichkeit macht ihn lächerlich; aber auch ohne Häßlichkeit wäre er nicht lächerlich geworden u.s.w.« Schöne Unterscheidungen! nur Schade, daß Homer an ihnen so unschuldig ist, als ich. Sein Thersit ist ganz häßlich, nur es nimmt mit ihm ein lächerliches Ende. Gesetzt indessen, Thersites wäre der, für den ihn Hr. L. erkennet: so sind seine Beobachtungen überhaupt, Philosophisch und richtig.

Nun aber hat eben dieser lächerliche Thersites unschuldiger Weise zu einem andern Buche von 284. Seiten Gelegenheit geben müssen, in welchem er s.v. die Hauptfigur ausmacht. Hr. Klotz hat ihn würdig geachtet, meistens über ihn ein Bändchen Epistolarum Homericarum (vielleicht ein zweiter Riccius) zu schreiben, und ihn darinn feierlich in die Acht zu erklären, in den Bann zu thun, ins Feuer zu werfen – kurz, aus Homer auszurotten. Ich habe gesagt, daß über Thersites die Homerischen Briefe geschrieben; denn außer dem, daß er ihnen den meisten Inhalt, d.i. die meiste Gelegenheit, umher zu schwärmen, verschaffet; so würde ich, wenn ich Verfasser der Briefe wäre, es meinem Leser danken, wenn er die übrigen Materien, so ohne Prüfung, vorbeischleichen lässet.

Hr. Klotz also macht nach einem Eingange von achtzehen Seiten, in denen er uns, nach seiner Gewohnheit, nichts mehr sagt, als: ich bin auf dem Lande, und lese, die sehr neue Bemerkung:19[171] daß ein großer Geist auch Fehler habe – daß Homer selbst zuweilen schlummere, daß man diese Stellen des Schlummers bemerken dörfe – daß Er – – und nach aller gesteigerter Erwartung kommt das große und breite Beispiel:20 »daß Homer geschlummert, glaube ich, erhelle an den Orten, wo er, – es sey nun, daß er sich damit nach den Sitten seines Zeitalters bequemet, die noch nicht gnug gefeilt waren, und bei ihrer Einfalt etwas Bäurisches und Rauhes haben; oder weil es schwer ist, zurück zu halten, wovon wir glauben, es werde den Lesern Lachen erwecken; oder durch einen Fehltritt seiner Beurtheilungskraft – kurz! wo er sich zu dem herab läßt, wovon ich halte, es schicke sich zu der Würde und Ernsthaftigkeit des Epischen Gedichtes ganz und gar nicht. Ich meine aber, daß Homer dadurch, daß er zuweilen, an einem sehr unschicklichen Orte, seine Leser lachend machen will, daß er dadurch sein Göttliches Gedicht mit nicht leichten Flecken besudele, die ihm (dem Gedichte nämlich) eine nicht geringe Verunstaltung, dem Leser aber – Verdruß erwecken. Die Sache wird aus dem zweiten Buche erhellen – –« Ob ich gleich meinen ernsthaften Autor sehr ehrerbietig, wie ein Dekret der Sorbonne übersetze, und seinen Styl, der im vollen Monde gebildet worden,


– – for scull

That's empty, when the Moon is full,


mit allen seinen Gelenken und Gliedern gern ganz liefre; so kann ich doch ein Paar Seiten21 überspringen, in denen er Homers Auftritt des Thersites vorbringt. Was Homer gesagt, ist mir was Altes, aber was darüber gesagt wird, etwas Neues. »Nun will ich nicht läugnen, daß Homer alles gesammlet, was den Anblick des Menschen häßlich und lächerlich machen kann; und auch das sehe ich leicht ein, warum Claudius Belurgerius (v. Nic. Erythraei Pinacoth. p. 205. & Vincent. Paravicini Singul. Erud.[172] Cent. III. n. 12. p. 150.) sich an diesem Bilde des Thersites, von der Hand eines geschickten Künstlers gemalt, so sehr ergötzet. Immer aber wollen wir den Spruch Quintiliani betrachten: Nihil potest placere, quod non decet, zu Deutsch: Nichts kann gefallen, was nicht anständig ist. Wenn dieser Mensch etwa in einer Satyre, ober in einem andern Possengedichte aufträte: so würde er mich nicht wenig ergötzen, und ich würde dem Dichter gern das Lob des Witzes, und der Erfindung ertheilen.


Sed nunc non erat his locus etc. etc.«


Mit Erlaubniß des Hrn. Chr. Ad. Klotzius, und Claudius Belurgerius will ich hier eine lange Stelle aus Horaz, und Beispiele aus Virgil, Tasso, und wer weiß woher?22 übergehen, die von der Belesenheit des Hrn. Briefstellers zeigen, und den Satz hier durch sich selbst, am besten bestätigen: daß manches zu sehr unrechter Zeit kommen könne. Ich will bei Thersites bleiben. »So wie es unschicklich ist, in einer Scherzsache Trauerspiele zu erwecken, so auch in einer ernsthaften Sache zu lachen, wer würde das für anständig halten? hier wollen wir nicht lachen, wir sind voll Erwartung, die uns der Poet selbst eingeflösset, was die Sache für einen Ausgang nehmen wird. Wir sehen das ganze Kriegsheer erregt, zusammen laufend: wir wollen wissen, ob die Griechen wieder die Waffen ergreifen, oder nach Hause gehen werden: und siehe! da stößt uns jenes Fratzengesicht (zu Griechisch μορμολυκειον!) auf, und hält uns Eilende bei der Schleppe zurück. Wir widerstreben, wir sind auf den un willig, der uns das Ungeheuer zuschickte, und da, wo wir ernsthaft, nicht blos seyn wollten, sondern auch mußten, lachen wir leider.« Alle Hochachtung für des Hrn. Klotzius Ernsthaftigkeit und seine Schleppe! wollte ich hier nur ein Paar Kleinigkeiten fragen: ob nämlich Homer uns mit einer Bürgermeister- oder Scholiasten-Perucke vorsinge? ob sein Thersites denn als eine Possenfigur,[173] als ein Ding zum Lachen auftrete? Ist dies nicht, tritt er jetzt in diesem kritischen Zeitpunkte, als ein Redner im Namen der ganzen Griechischen Canaille auf, alles abzusagen, was solche Thersites in der Griechischen Armee auf ihren Herzen hatten: gewiß! so kann Homer keinen gelegenern Zeitpunkt finden, als diesen, und das Colorit, in dem Thersites erscheint, ist so dem Epischen Tone gemäß, daß ich mir ihn in keinem andern denken kann. Nicht häßlicher; sonst verdient er den Augenblick todtgeschlagen zu werden; nicht frömmer; sonst würde er schweigen, und so würde kein Herold seyn, der auch die Stimme des Pöbels einmal hören ließe. Ich bin also vor meiner Schleppe und vor einem unanständigen Lachen sicher! Der ernsthafte Homer aber, der seinen Thersites ganz anders, nämlich als ein unnützes Fratzengesicht, als ein Ungeheuer, das sich zum Lachen vordrängt, kennet, und davor sehr bange ist, fährt fort:

»Wenn wir hingegen den Menschen weg werfen, wenn wir alle die Verse wegschneiden, laßt sehen, ob wir nicht eine ernste Mine behalten werden?23 Ich sage es noch einmal, Homers Thersites gefällt mir nicht, und wird mir nie gefallen, wenn ihn auch Medea wieder verjüngte. Wegjagen wollen wir den Menschen, oder wenn er sich widersetzte, und sich erkühnte, Uns auch, so wie die Griechischen Feldherren, zu schmähen, so soll er mit umgedrehetem Genicke heraus. Zwar zweifeln wir nicht, daß auch Er seine Vertheidiger finden, daß sich Einige finden werden, die an den artigen Jungen nicht wollen Hand angelegt haben. Denn es giebt Leute, die mit den Musen und mit der Philosophia in keinem Umgange, in keiner Bekanntschaft stehen, die die Wissenschaften blos als Handwerk gelernt, die da schreien u.s.w. – «24 Wehe mir! dieser scheltende sehr ernsthafte Ton geht eilf Seiten durch, und wie sollte ichs nun wagen, einen Thersites Homers zu retten, der ohne Grund und Ursache verurtheilt ist. Wehe mir! so gehöre auch Ich alsdenn unter die Leute, die[174] mit den alten Jungfern, den Musen, und mit der ehrbaren Dame Philosophia in keinem Umgange stehen, denn ich hätte geglaubt, Thersit wäre zu viel geschehen. Ich lege also voll ernsthafter Ehrerbietung die Hand auf den Mund, und reiche blos mit geziemender Achtung dem h.t. größten Kenner Homers in Deutschland diesen alten Dichter zum nochmaligen Durchlesen dar: denn aus diesen und andern Urtheilen, die er über Homer hie und dort gefället, haben viele Leser mit Recht gemuthmaßet, er kenne denselben vielleicht nur noch aus dem ersten flüchtigen Durchlaufe, den er, wie er uns selbst mit der liebenswürdigsten Offenherzigkeit erzählt,25 einmal mit seinem Stubenburschen in 24 Tagen durch den ganzen Homer hin angestellet, um nur ohngefähr etwas von der Form des ganzen Werks zu wissen, und sich eine Copiam vocabulorum anzuschaffen. Nun kann dies freilich noch nicht heißen Homer in Homers Sinne lesen, und es scheint aus diesem flüchtigen Durchzuge ihm manches aus Homer entwischet zu seyn, manches aber sich in ihm angeklebet zu haben, was nur Er so bemerket. Künftig kann ich davon mehr Proben geben; jetzt wiederhole ichs von Thersites. Wie ich ihn kenne, ist er nicht da, um lächerlich zu seyn, um uns die Schleppe zu zerreißen, um uns zum ungeziemenden unartigen Lachen zu bringen. Noch ist er da, um blos häßlich zu seyn, damit doch nicht lauter schöne Leute vor Troja seyn mögen. Noch ist er am unrechten Orte da, daß man ihm das Genick umdrehen dörfte. Er gehört mit zur Handlung des Gedichts, und ist der Mund des Griechischen Pöbels, der sich jetzt erklären soll oder gar nicht. Er ist nicht lächerlich, sondern häßlich, und um nur[175] dies Häßliche einiger maßen zu lindern, so läßt es Homer auf Einen verkleinernden Zug hinauslaufen: statt ihn als Kronverbrecher zu tödten, ihn nur gelinder strafen; statt ihn ganz zum Abscheue zu machen, versöhnt er ihn durch einen Nebenzug zuletzt mit dem Herrn. Ihm einen andern Charakter zu geben, heißt aus der Lateinischen Uebersetzung urtheilen, und in Homerischen Briefen dieses an Tag zu legen, ist26 – Doch ich kehre lieber zu meinem lieben Leßing, bei dem ich überall unterhaltende Gründe finde –

1

p. 233. [234 = 508–9]

2

So machte ihn Ulysses

ου γαρ εγω σεο φημι χερειοτερον βροτον αλλον

Εμμεναι, οσσοι αμ' Ατρειδησ' υπο Ιλιον ηλϑον.

Iliad. β. v. 248. 249.

3

Iliad. β. 212.

4

v. 221. etc.

5

227. – – άς τοι Αχαιοι διδομεν x. τ. λ.

6

v. 235.

7

v. 241.

8

v. 215. ό, τι οί εισαιτο γελοιϊον Αργειοισιν Εμμεναι.

9

Iliad. β. v. 222. 223.

10

v. 270. etc.

11

v. 245. υποδρα ιδων.

12

Αισχιςος δ' ανηρ υπο Ιλιον ηλϑεν. v. 216.

– – ου χερειοτερος βροτος αλλος v. 248.

13

Τι οί εισαιτο γελοιϊον Αργειοισιν

Εμμεναι – – – v. 215.

14

Laok. p. 233. 34. [508–9]

15

Αμετροεπης.

16

Εκολωα.

17

Επεα ακοσμα, ου κατα κοσμον.

18

Τι οί εισαιτο γελοιϊον Αργειοισιν.

19

Klotz. epist. Homer. p. 24.

20

p. 24.

21

p. 25. 26.

22

p. 28–30.

23

[Epist. Hom. p. 31.]

24

[p. 44].

25

Hortabatur vero idem (Baumeisterus) me inprimis ad studium graecarum litterarum, quarum in me erat levis cognitio. Hinc una cum Neomanno, aequali et familiari meo, divina Homeri carmina non tam legi, quam deuoraui, ut intra viginti circiter quatuor dierum spatium omnia perlegeremus. Fuit enim tum nobis illud tantum modo propositum, ut formam aliquam magni operis et speciem animo informaremus atque verborum nobis compararemus copiam. In praef. Eleg. p. 8.

26

Die lateinische Uebersetzung freilich spricht von verbis scurrilibus, von dem non prout decebat, von dem quodcunque videtur ridiculum Argiuis; und aus ihr kann man also sicher den Thersites, so in lateinische Phrases übersetzen: hic homo scurram agere, risum reliquorum Graecorum captare solebat, dedecet carminis grauitatem etc. Alles nach der lateinischen Uebersetzung gut und richtig; wer wird aber Homer in einer lateinischen Uebersetzung lesen?

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maßgabe neuerer Schriften. 1769, in: Herders Sämmtliche Werke. Band 3, Berlin 1878, S. 166-176.
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