1.

[193] Ist nicht Deutschland mehr als je derselben Katastrophe ausgesetzt, von der es in den ersten Jahren dieses Säkulums ereilt ward? – Hat Deutschland Maßnahmen getroffen gegen die Wiederkehr jener Katastrophe, die es aus der Liste der Nationen strich und ihm wie Griechenland nach Philipps Zeiten nichts Nationales als seine Literatur ließ?

Times


Deutschland, sie sagen, du hängst den Kopf –

Mir geht ins Herz das Gestichel –

Du seist ein tatenloser Tropf;

So sagen die Leute, o Michel!


Das alte Lied vom alten Malheur

Hör ich von neuem erklingen:

Du werdest's nimmer zum Akteur

Auf dieser Bühne bringen –


Wo alles läuft, wo alles rennt,

Die Zuaven und Turkos schwärmen

Für Völkerglück. – Du hast kein Talent

Zu welthistorischem Lärmen!


Du dehnst dich ruhig auf deinem Pfühl

Und träumst von Hegel und Fichte,[193]

Und hast doch erlebt so dumpf und schwül

Hundstage der Weltgeschichte.


Hundstage – die Völker wurden toll,

Doch Deutschland rief vernünftig:

»Man soll nicht nur zerstören, man soll

Auch wieder aufbauen künftig.


Eh ich Zwing-Uri zerstöre, traun,

Was setz ich an seine Stelle?

Wie werd ich die Gefängnisse baun

In Zukunft und die – Kasernen?


Man muß der Stimme der Natur

Vor allem sich bequemen;

Und schrein die Schafe nach der Schur:

Wer wird sie übernehmen?


Sind alles Fragen von Wichtigkeit,

Gediegen, tief und edel;

Daran soll man die Dichtigkeit

Erkennen der deutschen Schädel!« –


Ja, Michel, du bist kein Franzos,

Der stets nur negativ ist,

Er kennt die Oberfläche bloß,

Du weißt allein, was tief ist.


Ja, Deutschland, du bist tief im Wort

Und bist im Tun noch weiser;

Du läßt nicht einen Herzog fort,

Bis fertig du – mit dem Kaiser.


Ein Kaiser, das ist der höchste Wunsch,

Den wir im Herzen tragen;

Wir lassen ihn bei Wein und Punsch

Die Schlachten der Zukunft schlagen.

Quelle:
Herweghs Werke. Berlin und Weimar 1967, S. 193-194.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Nachkommenschaften

Nachkommenschaften

Stifters späte Erzählung ist stark autobiografisch geprägt. Anhand der Geschichte des jungen Malers Roderer, der in seiner fanatischen Arbeitswut sich vom Leben abwendet und erst durch die Liebe zu Susanna zu einem befriedigenden Dasein findet, parodiert Stifter seinen eigenen Umgang mit dem problematischen Verhältnis von Kunst und bürgerlicher Existenz. Ein heiterer, gelassener Text eines altersweisen Erzählers.

52 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon