Fünftes Kapitel

[35] Die Stube der Familie Littwak sah bei Tage noch elender aus als bei Nacht. Und doch fand Friedrich Löwenberg diese armen Leute in beinahe rosiger Stimmung, als er bei ihnen eintrat. David Littwak stand vor dem Fensterbrett, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag und er las darin, während er an seinem mächtigen Butterbrot kaute. Der Vater und die Mutter saßen auf der Streu. Die kleine Mirjam spielte mit Halmen.

Chajim Littwak erhob sich rasch, um den Wohltäter zu begrüßen. Auch die Frau wollte aufstehen, aber Friedrich ließ es nicht zu. Er kniete schnell neben ihr nieder und streichelte das Brustkind, das ihn aus den armseligen Fetzen heraus mit lieblichen Augen anlachte.

»Nun, wie geht es heute, Frau Littwak?« fragte Friedrich.

Die Arme haschte vergeblich nach seiner Hand, um sie zu küssen:

»Besser, gnädiger Herr!« sagte sie. »Wir haben Milch für Mirjam und Brot für uns.«

»Zins hab' ich auch schon gezahlt!« ergänzte Chajim stolz.

David hatte sein Butterbrot hingelegt, stand mit verschränkten Armen da und betrachtete Friedrich festen Auges.

»Warum siehst du mich so durchbohrend an, kleiner David?«

»Damit ich Sie nie vergess', Herr! Ich hab' einmal gelesen eine Geschichte von einem Manne, der einem kranken Löwen geholfen hat.«

»Androklus!« lächelte Friedrich.

»Er hat schon viel gelesen, mein David«, sagte die Mutter mit schwacher und zärtlicher Stimme.

Friedrich stand auf, legte die Hand auf den runden Kopf des Knaben und scherzte:

»Bist du am Ende der Löwe? Juda hatte einst einen Löwen...«

David entgegnete beinahe trotzig:[35]

»Was Juda gehabt hat, kann es wieder haben. Unser alter Gott lebt noch.«

Frau Littwak rief klagend: »Nit amal ein' Sessel können wir Ihnen anbieten, gnädiger Herr!«

»Nicht nötig, liebe Frau. Ich wollte nur nachsehen, wie es Ihnen geht, und – etwas bringen. Sie sollen diesen Brief erst öffnen, nachdem ich fortgegangen bin. Er enthält eine gute Empfehlung, die euch im Leben nützen wird. Sie müssen sich gut nähren, Frau Littwak, damit Sie dieses schöne, kleine Mädel zu einer braven Frau erziehen, wie Sie selbst sind.«

»Mehr Glück soll sie haben.« seufzte die Frau.

»Und diesen guten Jungen lassen Sie etwas Tüchtiges lernen. Gib mir deine Hand, Bürschchen! Versprich mir, daß du ein ordentlicher Mensch wirst.«

»Ja, das verspreche ich Ihnen.«

Was der Bub für merkwürdige Augen hat! dachte sich Friedrich, als er die kleine Hand schüttelte. Dann legte er den umfangreichen Brief auf das Fensterbrett und wollte gehen.

»Entschuldigen Sie, gnädiger Herr«, sprach ihn Chajim Littwak bei der Tür an; »is in den Brief vielleicht eine Empfehlung an der Kultusgemeinde?«

»Ganz richtig«, entgegnete Friedrich. »Das wird Sie auch der Kultusgemeinde empfehlen.«

Und rasch ging er hinaus, die Treppen lief er hinunter, als fühlte er sich verfolgt. Vor dem Tore hielt sein Fiaker, eilig stieg er ein und rief dem Kutscher zu: »Schnell fahren!«

Die Pferde zogen an. Es war die höchste Zeit. Eine Minute später keuchte David atemlos aus dem Tore hervor, spähte nach allen Richtungen, und als er keine Spur mehr von dem Helfer entdecken konnte, fing er bitterlich zu weinen an. Friedrich sah es durch das Guckloch in der Rückwand seines Wagens, und er freute sich, daß es ihm gelungen war, den Dankesergüssen zu entgehen. Mit den fünftausend Gulden war diese Familie hoffentlich gerettet.

Im Hotel erwartete ihn Kingscourt mit breitem Lachen:

»Haben Sie also Ihr gutes Werk getan, Doktor?«

»Sie könnten mit mehr Recht sagen, daß es das Ihrige sei. Es war Ihr Geld, Mr. Kingscourt!«

»Oho! Dagegen verwahre ich mich aber schon ganz entschieden. Ich hätte nicht einen Heller hergegeben, um Menschen Gutes zu erweisen. Ich habe nichts dagegen, daß Sie ein Narr der Nächstenliebe sind – ich bin keiner mehr. Das war Ihr Handgeld, damit konnten Sie machen, was Sie wollten.«

»Auch recht, Mr. Kingscourt.«

»Ja, wenn Sie mir gesagt hätten, daß Sie für Hunde oder Pferde oder sonst ein anständiges Vieh was Mildes vorkehren möchten, da hätten Sie mich dazu haben können. Aber Menschen? Nee, kommen Sie mir mit der Sorte nicht! Die ist oberfaul. Die ganze Vernunft besteht darin, daß sie niederträchtig sind ... Da war neulich in den Blättern zu lesen, daß eine alte Dame ihr Vermögen ihren Katzen hinterlassen hat. Sie befahl in ihrem letzten Willen, daß ihr Haus in so und so viele feine Appartements für das Katzenvolk eingeteilt werde, mit Pflegepersonal und[36] so weiter. So'n Kerl von Zeitungsschreiber hat dazu die blödsinnige Bemerkung gemacht, die Alte sei wahrscheinlich verrückt gewesen. Solch ein Hornochse! Nicht verrückt war sie, sondern riesig gescheit. Eine Demonstration gegen das menschliche Geschlecht, und insbesondere gegen ihre lumpige, erbgierige Verwandtschaft wollte sie machen. Den Tieren, ja – den Menschen, nein! Sehen Sie, das kann ich der alten Dame innigst nachfühlen, Gott habe sie selig!«

Das war Kingscourts Lieblingsthema und darin entwickelte er eine unerschöpfliche Verve.

Friedrich Löwenberg ordnete seine geringen Angelegenheiten. Er war damit am anderen Tage fertig. Seiner Quartierfrau sagte er, daß er einen Ausflug auf den Großglockner unternehme. Sie entsetzte sich darüber: Mitten im Winter! Man höre so viel von Bergunfällen.

»Schön«, meinte Friedrich mit melancholischem Lächeln, »wenn ich in acht Tagen nicht wiederkomme, so können Sie mich als vermißt bei der Polizei melden. Dann bin ich wohl in einer Felsenspalte besorgt und aufgehoben. Meine Habseligkeiten, die da sind, vermache ich Ihnen.«

»Reden Sie nicht so sündhaft, Herr Doktor!«

»Ich mache ja Spaß!« rief er.

Mit dem Abendzuge verließ er in Kingscourts Gesellschaft Wien. Er war nicht wieder in das Café Birkenreis gegangen und wußte nicht, daß der kleine David Littwak Nacht für Nacht vor der Tür stundenlang auf ihn wartete.

Im Hafen von Triest schaukelte sich die schmucke Jacht Mr. Kingscourts auf den Wassern. Die beiden machten noch ihre letzten Einkäufe für die lange Reise und eines hellen Dezembertages lichteten sie die Anker und steuerten südwärts, ostwärts. Friedrich wäre wohl unter anderen Umständen von der Meeresfreiheit tief beglückt gewesen; so aber verdankte er der sonnigen Fahrt nur eine geringe Erleichterung seines Grames.

Kingscourt war freilich ein prächtiger Mensch, gutmütig bei aller seiner Prahlerei mit Menschenhaß und liebenswürdig und zartfühlend. Wenn er Friedrich in trüben Stimmungen sah, bemühte er sich mit allen möglichen Scherzen, ihn aufzumuntern. Er ging mit ihm um, wie mit einem kranken Kinde. Da pflegte Friedrich wohl zu sagen:

»Wenn unsere Schiffsleute uns beobachten, müssen sie eigentlich eine ganz falsche Vorstellung bekommen. Sie werden mich für den Herrn und Sie für den Gast halten, den ich mir eingeladen habe, um mir die Zeit zu vertreiben. Ach, Mr. Kingscourt, Sie hätten sich auch einen lustigeren Gesellen aussuchen können als mich!«

»Mein Lieber, ich hatte keine Wahl!« entwortete Mr. Kingscourt mit grimmigem Ernst. »Einen Lebensüberdrüssigen mußte ich haben und die sind in der Regel keine guten Gesellschafter. Aber Sie werd' ich schon noch heilen. Sie werden mir doch noch ganz anders dreinschauen, bis wir erst das Menschengesindel ganz hinter uns haben. Da werden Sie auch noch so ein vergnügter Kerl werden wie ich. Bis wir auf unserer seligen Insel sind! Hol' mich der Deibel, wenn's nicht wahr ist!«[37]

Die Jacht war sehr behaglich mit allem amerikanischen Komfort eingerichtet. Friedrich hatte einen ebenso schönen Schlafsalon wie Kingscourt selbst. Der gemeinschaftliche Speiseraum war mit einer wahren Pracht ausgestattet, und wenn sie abends nach dem Essen unter dem freundlich stetigen Lichte der elektrischen Deckenlampe beisammen saßen, verflogen die Stunden unter den besten Gesprächen. Es war auch eine gewählte kleine Bibliothek an Bord, aber zum Lesen kam man gar nicht, so abwechslungsreich veringen die Meerestage. Kingscourt war immer beflissen, seinen Gefährten zu zerstreuen. Man hatte bei lebhafterem Wogengange die Insel Kreta passiert, da rückte er plötzlich mit einem Vorschlag heraus:

»Sagen Sie 'mal, Doktor, hätten Sie denn keine Lust, noch Ihr Vaterland zu sehen, bevor wir von der Welt Abschied nehmen?«

»Mein Vaterland?« staunte Friedrich. »Sie wollten noch einmal nach Triest zurückkehren?«

»I bewahre!« schrie Kingscourt. »Ihr Vaterland liegt ja vor uns, Palästina!«

»Ach, so ist das gemeint? Sie irren sich. Zu Palästina habe ich keinerlei Beziehung. Ich war nie dort. Es interessiert mich nicht. Meine Vorväter sind seit achtzehnhundert Jahren weg. Was habe ich da zu suchen? Ich glaube, nur die Antisemiten können behaupten, daß Palästina unser Vaterland sei...«

Aber während er dies sagte, fiel ihm David Littwak ein. Da fügte er hinzu: »Außer von Antisemiten habe ich es nur noch von einem kleinen Judenjungen sagen hören, daß Palästina unser Land wäre. Wollten Sie mich damit necken, Mr. Kingscourt?«

»Da soll doch gleich ein Donnerwetter reinschlagen, wenn ich Sie geuzt habe. Das hab' ich ganz ernst gemeint. Wahrhaftig, ich verstehe euch Juden nicht. Ich wär' auf so etwas furchtbar stolz, wenn ich ein Jude wäre. Und ihr schämt euch wohl gar dessen. Da könnt ihr euch nicht wundern, wenn man euch verachtet – die Anwesenden natürlich ausgeschlossen.«

»Herr von Königshoff, sind Sie vielleicht ein Antisemit?« sagte Friedrich empört. Zum erstenmal redete er ihn mit seinem deutschen Namen an, er wußte selbst nicht warum.

Kingscourt lächelte:

»Nu regen Sie sich auf, mein Sohn! Daß ich'n allgemeiner Menschenfeind bin, das war Ihnen sozusagen schnuppe. Daß ich aber unter andern auch die Jüdischen nicht mag, das nehmen Sie mir geschwind übel. Trösten Sie sich, Doktorchen, ich hasse die Juden nicht mehr und nicht weniger als die Christen, Mohammedaner und Feueranbeter. Alle zusammen kein Schuß Pulver wert. Ich verstehe den guten ollen Nero: ein einziger Hals, und dann mitten durch mit einem Hieb. Oder nein: noch schöner ist es, daß die Lumpenbande leben bleibt, und daß sie sich langsam gegenseitig zu Tode ärgern.«

Friedrich war schon versöhnt: »Ich war dumm. Daß Sie mich mitnahmen, war doch der beste Beweis.«

Kingscourt sagte:

»Da fällt mir 'ne Sache ein, die ich einmal mit einem Ihrer Landsleute oder Glaubensbrüder oder – hol' mich der Deibel – kurz mit einem Juden hatte. Es war[38] im Re'ment. Wir hatten da so 'nen Freiwilligen – Cohn hieß der Kreete, ein jemein ... Entschuldigen Sie! Dieser Cohn war 'n ganz verflucht krummbeiniges Subjekt – wie für die Kavallerie geschaffen. Es war einmal in der Reitstunde. Ich ließ die Schweinehunde Barriere springen. Das heißt, ich wollte; sie wollten nicht oder konnten nicht. War auch 'n bißchen hoch. Na, ich habe sie traktiert, wie's sich für solche gottverlassene Schweinebande geziemt. Damals konnte ich noch fluchen, hol' mich der Deibel! Seitdem hab' ich's verlernt ... Ich gab ihnen zu verstehen, so durch die Kavall'rieblume, daß ich sie für das zitterlichste Lumpenpack hielte. Und den Cohn holte ich mir besonders. ›Sie sind wohl ein besserer Wechselreiter?‹ höhnte ich ihn. Da schoß dem Juden das Blut ins Gesicht und er ritt an. Stürzte aber und brach sich den Arm. Das hat mich dann eine Weile gewurmt. Wozu hat so 'n Aas auch Ehrgefühl?«

»Sie meinen, ein Jude sollte kein Ehrgefühl haben?«

»Nee, so was! Sie verdrehen mir ja das Wort im Mutterleibe ... Übrigens, wenn die Juden Ehrgefühl haben, warum lassen sie sich alle die Bübereien gefallen?«

»Was sollten die Juden tun, Mr. Kingscourt?«

»Was? Ja, das weiß ich nicht. Irgendwas, wie mein Cohn in der Reitschule, ich habe doch mehr Respekt vor ihm bekommen.«

»Weil er sich den Arm gebrochen hat?«

»Nein, weil er mir seinen Willen gezeigt hat ... Ich, wenn ich an eurer Stelle wäre, ich würde irgendwas Mutiges, Großes unternehmen, daß auch die Feinde vor Staunen die Mäuler aufreißen müßten. Vorurteile, mein Lieber, wird's immer geben. Das Menschenpack nährt sich von Vorurteilen, von der Wiege bis zum Grabe. Also, da man die Vorurteile nicht abschaffen kann, muß man sie für sich erobern ... Je mehr ich darüber nachdenke: es müßte ganz interessant sein, heutzutage ein Jude zu sein. Gerade weil man alle Welt gegen sich hat.«

»Ach, Sie wissen nicht, wie das schmeckt.«

»Nicht süß, das kann ich mir schon denken ... Na, und wie ist's mit dem ollen Palästina? Wollen wir uns das noch begucken, bevor wir aus der Menschheit verschwinden?«

»Mir ist alles recht, Mr. Kingscourt.«

Und so bekam die Jacht den Kurs nach Jaffa.

Quelle:
Athenäum Verlag, Königstein, 1985, S. 35-39.
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