Viertes Kapitel

[31] In dem Briefe, den Friedrich von dem N. O. Body der Zeitungsannonce erhalten hatte, war ein vornehmes Hotel auf der Ringstraße als Ort der Zusammenkunft angegeben. Um die bezeichnete Stunde fand er sich ein und fragte nach Mister Kingscourt. Man wies ihn nach einem Salon des ersten Stockes. Als er eintrat, kam ihm ein hoher, breitschultriger Mann entgegen:

»Sind Sie Doktor Löwenberg?«

»Der bin ich.«

»Nehmen Sie einen Stuhl, Doktor!«

Sie setzten sich. Friedrich betrachtete den Fremden aufmerksam und wartete auf dessen Erklärungen. Mr. Kingscourt war ein Mann in den Fünfzigern, mit ergrauendem Vollbart und dichtem braunen Haupthaar, das von Silberfäden durchzogen war und an den Schläfen schon weiß schimmerte. Er rauchte in langsamen Zügen eine große Zigarre.

»Rauchen Sie, Doktor?«

»Jetzt nicht«, gab Friedrich zur Antwort.

Mr. Kingscourt hauchte mit Sorgfalt einen Rauchring in die Luft, folgte der Auflösung der wolkigen Linien mit Spannung und erst nachdem sie ganz verschwebt waren, sagte er, ohne seinen Gast anzusehen:[31]

»Warum sind Sie lebensüberdrüssig?«

»Darüber gebe ich keine Auskunft«, erwiderte Friedrich ruhig.

Mr. Kingscourt sah ihn jetzt voll an, nickte zustimmend, streifte die Asche seiner Zigarre ab und sprach: »Hol's der Deibel, Sie haben Recht. Das geht mich ja auch nichts an ... Wenn wir handelseins werden, wird schon die Zeit kommen, wo Sie es mir erzählen. Einstweilen will ich Ihnen sagen, wer ich bin. Mein eigentlicher Name ist Königshoff. Ich bin ein deutscher Edelmann. Ich war in meiner Jugend Offizier, aber der Waffenrock wurde mir zu eng. Ich kann's nicht leiden, daß ein fremder Wille über mir ist, und wär's der beste. Das Gehorchen war gut für ein paar Jahre. Aber dann mußt' ich fort. Ich wär' sonst explodiert und hätte Schaden angerichtet ... Ich ging nach Amerika, nannte mich Kingscourt, erwarb mir in zwanzig Jahren blutschwitzender Arbeit ein Vermögen – und als ich so weit war, nahm ich ein Weib ... Was sagen Sie, Doktor?«

»Nichts, Mr. Kingscourt!«

»Gut. Sie sind unverheiratet?«

»Jawohl, Mr. Kingscourt ... aber ich dachte, Sie würden mir sagen, worin das letzte Experiment besteht, das Sie mir vorzuschlagen haben.«

»Ich bin schon dabei, Doktor ... Wenn wir beisammen bleiben sollten, werde ich Ihnen ausführlich erzählen, wie ich es anfing, mich hinaufzuarbeiten, bis ich meine Millionen hatte. Denn ich habe Millionen ... Was sagen Sie?«

»Nichts, Mr. Kingscourt.«

»Energie ist alles, Doktor! Darauf kommt's an. Was man recht stark will, das erreicht man unbedingt totsicher. Ich sah erst drüben in Amerika ein, was wir Europäer für ein faules, willenloses Gesindel sind. Hol' mich der Deibel! ... Kurz, ich hatte Erfolg. Aber als ich soweit war, da begann ich meine Einsamkeit zu fühlen. Der Zufall wollte es, daß ein Königshoff Dummheiten gemacht hatte, der bei der Garde stand, ein Sohn meines Bruders. Ich nahm den Burschen zu mir, gerade um die Zeit, da ich auf Freiersfüßen ging. Ja, ich wollte mir einen Hausstand gründen, einen Herd, eine Frau suchen, die ich mit Juwelen behängen konnte wie jeder andere Parvenu. Ich sehnte mich nach Kindern, damit ich doch wisse, warum ich stets so furchtbar geschuftet hatte. Ich meinte es verdammt schlau anzufangen, indem ich ein armes Mädchen zur Frau nahm. Sie war die Tochter eines meiner Angestellten. Hatte ihr und ihrem Vater viel Gutes erwiesen. Natürlich sagte sie ja. Das hielt ich für Liebe, aber sie war nur dankbar oder vielleicht feige. Sie wagte nicht, mich abzuweisen. So richteten wir ein Haus ein, und mein Neffe wohnte bei uns. Sie werden sagen, daß es eine Dummheit war – ein alter Mann zwischen zwei jungen Leuten, die sich finden mußten. Ich habe mich auch in der ersten Zeit nach der Entdeckung einen Esel gescholten. Aber wenn nicht er, wäre es ein anderer gewesen. Kurz, die Beiden haben mich betrogen – ich glaube, vom ersten Augenblick an. Als ich es herausfand, war mein erster Griff nach dem Revolver. Dann sagte ich mir, daß eigentlich nur ich der Schuldige war. Da ließ ich sie laufen. Gemeinheit ist menschlich, und jede Gelegenheit ist eine Kupplerin. Man muß den Menschen ausweichen, wenn man an ihnen nicht zugrunde gehen will. Sehen Sie, das war mein Zusammenbruch. Da schlich der Gedanke heran, mit einer Kugel[32] der schäbigen Komödie des Lebens ein Ende zu machen. Aber es fiel mir ein, daß man zum Erschießen ja noch immer Zeit hat. Freilich, das Anhäufen von Geld war jetzt für mich sinnlos geworden. Zum Erwerben hatte ich keine Lust mehr, vom Traum der Familie hatte ich genug. Blieb noch die Einsamkeit als letztes Experiment. Aber eine große, unerhörte Einsamkeit mußte es sein. Nichts mehr wissen von den Menschen, ihren elenden Kämpfen, Unsauberkeiten, Treulosigkeiten. Die wirkliche, echte, tiefe Einsamkeit ohne Wunsch und Ringen. Die volle wahre Rückkehr zur Natur! Diese Einsamkeit ist das Paradies, das die Menschen durch ihre Schuld verloren haben. Und diese Einsamkeit habe ich gefunden.«

»So? Sie haben sie gefunden?« sagte Friedrich, der noch nicht erriet, wo der Amerikaner hinauswollte.

»Ja, Doktor, ich habe meine Geschäfte aufgelöst und bin meinen Bekannten wieder einmal entronnen. Niemand weiß, wo ich hingekommen bin. Habe mir eine gute Jacht gebaut und bin auf ihr, wie man sagt, verschollen. Viele Monate bin ich auf den Meeren umhergetrieben. Das ist ein herrliches Leben, müssen Sie wissen. Möchten Sie das nicht kennenlernen? – oder kennen Sie es schon?«

»Ich kenne es nicht«, entgegnete Friedrich; »aber ich möchte wohl!«

»Gut, Doktor! ... Das Leben auf der Jacht ist schon die Freiheit, aber noch nicht die Einsamkeit. Man muß doch Schiffsleute um sich haben, man muß ab und zu in einen Hafen, um Kohlen einzunehmen. Man kommt wieder mit Menschen in Berührung und das ist schmutzig. Aber ich kenne eine Insel in der Südsee, wo man ganz allein ist. Da will ich leben. Es ist ein kleines Felsennestchen im Cooks-Archipel. Die habe ich mir gekauft und mir dort von Leuten aus Rarotonga ein komfortables Haus erbauen lassen. Das Gebäude liegt so versteckt hinter den Felsen, daß man es von keiner Seite bemerkt, wenn man auf dem Meere vorbeifährt. Es sind übrigens auch die Schiffe dort selten. Meine Insel sieht nach wie vor unbewohnt aus ... Ich lebe dort mit zwei Dienern, einem stummen Neger, den ich schon in Amerika hatte, und einem Tahitier, den ich im Hafen von Avarua aus dem Wasser zog, als er sich aus Liebesgram ersäufen wollte. Jetzt bin ich auf meiner letzten Reise in Europa, um mir noch einzukaufen, was ich für mein ferneres Leben dort brauche. Namentlich Bücher, physikalische Instrumente und Waffen. Die Lebensmittel versorgt mein Tahitier von der nächsten bewohnten Insel. Er fährt jeden Morgen mit einem Neger im elektrischen Boot hinüber. Braucht man sonst noch etwas, auf Rarotonga ist für Geld alles zu haben, so wie in der übrigen Welt ... Verstehen Sie?«

»Ja, Mr. Kingscourt. Nur weiß ich nicht, warum Sie es mir erzählen.«

»Warum, Doktor? Weil ich mir einen Gesellschafter mitnehmen will, um das Sprechen nicht zu verlernen und um jemand zu haben, der mir die Augen zudrückt, wenn ich sterbe. Wollen Sie der sein?«

Friedrich schwieg und überlegte eine halbe Minute lang. Dann sagte er in festem Tone: »Ja!«

Kingscourt nickte zufrieden und fügte hinzu:

»Ich muß Sie aber aufmerksam machen, daß Sie eine lebenslängliche Verpflichtung eingehen. Wenigstens so lange ich lebe, muß es gelten. Wenn Sie mit mir gehen, dürfen Sie nicht mehr zurück. Sie müssen alle Fäden abschneiden.«[33]

Friedrich entgegnete:

»Mich bindet nichts. Ich stehe ganz allein in der Welt und habe das Leben vollkommen satt.«

»Einen solchen Mann brauche ich, Doktor! Tatsächlich verlassen Sie das Leben, wenn Sie mit mir gehen. Sie werden nichts mehr vom Guten und Bösen dieser Welt erfahren. Sie sind tot für die Welt und die Welt ist untergegangen für Sie. Paßt Ihnen das?«

»Es paßt mir.«

»Dann werden wir gut Zusammenleben. Ihre Art gefällt mir.«

»Eines muß ich Ihnen noch sagen, Mr. Kingscourt: ich bin Jude. Stört Sie das nicht?«

Kingscourt lachte:

»Hören Sie? Die Frage ist komisch. Ein Mensch sind Sie, das sehe ich. Ein gebildeter Mann scheinen Sie auch zu sein. Des Lebens sind Sie überdrüssig, das spricht für Ihren guten Geschmack. Alles übrige ist dort, wohin wir gehen, furchtbar gleichgültig ... Also schlagen Sie ein!«

Friedrich nahm die dargebotene Hand und schüttelte sie kräftig.

»Wann sind Sie reisefertig, Doktor?«

»Jede Stunde.«

»Gut. Sagen wir morgen. Wir fahren nach Triest. Dort ankert meine Jacht ... Sie werden sich hier vielleicht noch einiges besorgen wollen?«

»Ich wüßte nicht, was«, sagte Friedrich. »Das ist ja keine Lustreise, sondern ein Abschied vom Leben.«

»Immerhin, Doktor! Sie brauchen vielleicht Geld für Anschaffungen. Verfügen Sie über mich.«

»Danke, ich brauche nichts, Mr. Kingscourt.«

»Haben Sie keine Schulden, Doktor?«

»Ich besitze nichts und schulde nichts. Meine Rechnung ist glatt.«

»Haben Sie keine Verwandten oder Freunde, denen Sie etwas hinterlassen wollen?«

»Niemand!«

»Um so besser! Wirreisen also morgen! ... Aber wir könnten schon heute miteinander speisen.«

Kingscourt klingelte. Die Kellner deckten auf seinen kurzen Befehl den Tisch im Salon und brachten ein reichliches Mahl. Die beiden Männer näherten sich einander sehr rasch in ihren Gesprächen. Friedrich fühlte nach all dem Vertrauen, das ihm Kingscourt so schnell geschenkt hatte, das Bedürfnis, auch seine eigene Geschichte zu erzählen. Er tat es in kurzer und deutlicher Weise. Als er damit zu Ende war, sagte der Amerikaner:

»Ich glaube jetzt, daß Sie mir nicht durchgehen werden, wenn ich Sie auf meiner Insel habe. Liebeskummer, Weltschmerz und Judengram – das ist zusammen genug, um auch einen jungen Mann für immer Abschied nehmen zu lassen vom Leben.[34]

Nämlich vom Leben mit den Menschen. Selbst wenn man ihnen Gutes tut, wird man von ihnen betrogen und gequält. Die größten Narren sind die Wohltäter. Glauben Sie nicht?«

»Ich glaube, Mr. Kingscourt, daß man beim Wohltun ein angenehmes Gefühl hat ... Und da fällt mir etwas ein. Sie haben mir Geld angeboten, falls ich vor meinem Abschied vom Leben etwas hinterlassen wollte. Ich weiß eine Familie in tiefster Not. Der möchte ich helfen, wenn Sie es mir erlauben.«

»Es ist ein Unsinn, Doktor. Aber ich kann es Ihnen nicht verweigern. Ohnehin, es war überhaupt meine Absicht, Ihnen einen Betrag zur Ordnung Ihrer Angelegenheiten zu geben. Machen Sie damit, was Sie wollen. Sind fünftausend Gulden genug?«

»Oh, reichlich!« sagte Friedrich. »Und es ist doch auch für mich ein schöner Gedanke, daß mein Abschied vom Leben nicht ganz ohne Zweck ist.«

Quelle:
Athenäum Verlag, Königstein, 1985, S. 31-35.
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