II. Der unbekannte Leichnam.


Unfern der Fabrikstadt Mühlhausen im französischen Elsaß liegt ein hübsches, wenn auch kleines, Haus, in welchem Herr Bletry mit seiner Freundin Franziska Lallemand wohnt, welche junge Dame unter Herrn Bletry's Namen eine Art von Schenkwirthschaft für Personen niederer Stände hält und zur Bedienung ihrer Gäste Herrn Bletry's Diener, Fritz, mit benutzt, der eine gute, ehrliche Haut, ein Deutscher von Geburt ist und nur das Unglück hat dem Wein nicht widerstehen zu können.

Es war im Jahre 1844 in der Woche vor Pfingsten, so viel wir uns erinnern an einem ganz angenehmen Montagabend, als Herr Bletry und Franziska Lallemand spatzieren gingen und ihr Haus unter der Obhut des treuen Fritz verließen und einer Magd, die eben nicht treu war, sondern gerade am andern Tage verschiedener kleiner, doch unerwiesener Diebereien wegen abziehen sollte.[39]

Bletry und Franziska waren fort, Fritz saß bei der Flasche, die Magd trieb sich mürrisch im Hause herum, als plötzlich ein Wagen heranrollte und vor Bletry's Hause still hielt. Die Magd, welche neugierig war, eilte sogleich an die Thür, Fritz, welcher Wein trank, rührte sich nicht von der Stelle.

Der vor der Thür haltende Wagen war ein ziemlich dürftiges Cabriolet, doch war es mit einem starken Pferde bespannt und die Gesichter der beiden Insassen gehörten sichtlich Personen aus den höhern Ständen zu. Diese beiden Insassen, ein Mann und eine Frau, oder wenn man lieber will, ein Herr und eine Dame, waren so gekleidet, daß sie zu Fuß sicher die Aufmerksamkeit der Policeimannschaften erregt haben würden, denn der Anzug beider bestand aus einem seltsamen Gemisch von Kleidungsstücken. So trug der junge Herr mit dem blassen Gesicht, den schwarzen Augen und der kühn gebogenen Nase eine graue Arbeiterblouse, aber seine Hand, die wieder eine schmierige Fuhrmannspeitsche hielt, war mit einem feinen Glacéehandschuh bedeckt. Der junge Mann gehörte, trotz seiner schmierigen Kleidung, sicher den höhern Ständen an, der sorgfältig gepflegte Bart, das zierlich verschnittene, seidenweiche Haar würden es allein[40] verrathen haben. Die Dame hatte das Ensemble ihrer Kleidung besser zu behaupten gewußt, der schwarze Hut, gebraucht aber noch brauchbar, paßte ganz gut zu den schwarzen Filethandschuhen, zu dem abgetragenen schwarzen Kleide, zu dem großen Strickbeutel und einem schwarzwollenen Umschlagetuche. Die Dame konnte man recht gut für eine Bürgerfrau in Trauer halten.

Herrn Bletry's Magd brachte dem jungen Mann ein Glas Liqueur an den Wagen und da die Dame auf ihrer Seite, auf der Seite nach dem Hause zu, saß, so hatte sie Gelegenheit beim Hinreichen des Glases das Gesicht einer schon ältern Person weiblichen Geschlechts zu sehen, das die Spuren einer ehemaligen hohen Schönheit trug, sich namentlich auch jetzt noch durch den Glanz der Augen auszeichnete. Als die Magd das geleerte Glas zurücknahm, sah sie mit einigem Staunen, daß die Dame weißseidene Strümpfe und moderne zierliche Schuhe trug.

Eben wollte der junge Mann sein Pferd wieder antreiben, als ihm etwas einzufallen schien, er wendete sich an die Magd, die mit dem leeren Glase in der Hand neugierig dastand, und fragte französisch, ob sie ihm nicht eine größere, hölzerne Kiste verkaufen[41] könne, er wolle sie gut bezahlen, denn er habe dann nicht nöthig nach Mühlhausen hinein zu fahren und könne einen nähern Weg einschlagen. Die Magd zögerte nicht lange, sie entsann sich einer Kiste, die ihrer Herrschaft, der Franziska Lallemand, gehörte und ungebraucht auf dem Boden stand. Die Kiste wurde geholt, der junge Mann fand sie passend für seine Zwecke und stellte sie vor sich in den Wagen hin. Es war eine ziemlich große, mehr lange, als hohe Kiste von gelblichem Holze. Nachdem sie der junge Mann mit einem Fünffrankenthaler bezahlt, fuhr er von dannen.

Sehr vergnügt über ihren Handel, kam die Magd ins Haus zurück, wo sie Herrn Fritz zwischen Glas und Flasche entschlummert fand. Es versteht sich von selbst, daß die Magd es nicht für passend erachtete, Herrn Bletry, oder Franziska Lallemand, von dem Besuche des Fremden und seinem Kauf zu unterrichten, sie behielt klüglich sowohl den Fünffrankenthaler für die Kiste, als auch das Zehnsousstück für den Liqueur für sich und begab sich am andern Tage auf den Weg nach dem Departement Côte d'or, wo sie her war.

Weder Fritz, noch Herr Bletry, weder Franziska[42] Lallemand, noch das Dienstmädchen, das am andern Tage anzog und sich Marguerite Dinicher nannte, wußten also das mindeste von dem Besuche und dem Kistenkaufe des fremden Paares.

An dem folgenden Morgen erschien auf der Eisenbahnstation Dornach ein robustes, anscheinend den niedern Ständen angehöriges, Frauenzimmer, das unter dem Druck einer schweren Kiste, die es auf dem Rücken trug, gewaltig schwitzte und ein Fahrbillet nach der nächsten Station lösete; zufällig war dieses Frauenzimmer die einzige Person, die diesen Dampfwagenzug benutzte.

Der Zug ging ab, aber auf der nächsten Station hatte Niemand eine Frau das Perron verlassen sehen und überdem blieb im Packhause eine Kiste stehen, die keine Adresse hatte und auch von Niemandem in Anspruch genommen wurde. Da der Eisenbahnbeamte, dem die Kiste im Wege war, doch auf dem halbzerkratzten Zettel noch den Namen der Station Dornach ziemlich deutlich lesen konnte, so wurde die Kiste, die sehr schwer war, reglementmäßig, am zweiten Tage nach Dornach zurückspedirt, dort fiel den Abladern der entsetzliche Gestank auf, der aus der Kiste drang, die Beamten ließen sie sogleich öffnen und schauderten[43] zurück vor dem Anblick eines gräßlich verstümmelten, weiblichen Leichnams.

Der Leichnam war der einer ältern Person weiblichen Geschlechts, die Züge waren, so viel man sie noch erkennen konnte, edel, das Haar reich und weich, die Augen geschlossen und der Hals quer durchschnitten. Eine schlechte Haube bedeckte den Kopf, ein D. A. gezeichnetes sehr schlechtes Hemd den Körper, von dem beide Beine abgeschnitten waren.

Die Gerichte erschienen und nahmen den Thatbestand zu Protocoll, während der Gerichtsarzt erklärte, die Art der Halswunde lasse auf einen augenblicklichen Tod der Frau schließen, die Beine seien von einem Sachkundigen und nach allen Regeln der Kunst aus den Gelenken gelöst.

Man kann sich denken, welche Aufregung unter der Bevölkerung Mühlhausens und der umliegenden Gegend entstand, als sich die Nachricht von dem Funde dieses unbekannten Leichnams verbreitete. Mit Angst eilte man anfänglich herbei, Jeder fürchtete eine Verwandte oder eine Bekannte zu finden, aber Niemand kannte die Leiche, Niemand konnte eine Auskunft geben über sie.[44]

Aller Orten wurde gesprochen von der unbekannten Leiche auf der Eisenbahn und die seltsamsten Gerüchte wurden laut und lauter, namentlich als man einige Tage später in einem Steinbruch zwei nackende Beine fand, die auf einem Kissen lagen und mit einem schlechten Strohhut bedeckt waren. Ein medicinisches Gutachten stellte fest, daß diese beiden Beine zu dem, auf der Eisenbahn entdeckten, Körper gehörten, aber das war auch Alles, was in den nächsten Tagen, bis zum Pfingstfeste, ermittelt werden konnte. Mit ziemlicher Gewißheit war anzunehmen, daß der Mörder sein Opfer, vermittelst der Eisenbahn, möglichst weit von dem Schauplatze der Mordthat habe entfernen wollen.

Da Niemand erschien, der über Namen, Herkunft u.s.w. der Gemordeten irgend einen Aufschluß hätte geben können, so mußten sich die Nachforschungen der Behörden darauf beschränken, die Frau ausfindig zu machen, welche am 5. Mai die Kiste aufgegeben und, nach Angabe der Eisenbahnbeamten, selbst mit gefahren war. Nun besaß man leider von dieser Frau nur ein höchst unvollkommenes Signalement, die Beamten hatten, wie natürlich, wenig auf sie geachtet, ihre Aussagen widersprachen sich sehr, allenfalls konnte man[45] annehmen, daß die Frau, welche die Kiste gebracht, sehr stark gewesen sei und die Kleidung der untern Volksklassen dortiger Gegend getragen habe.

Einer der Beamten behauptete sogar, es seien zwei Personen weiblichen Geschlechts mit der Kiste erschienen, man wird nachher sehen, warum er das behauptete.

Am Sonnabende vor Pfingsten, also erst nachdem viele Menschen den Leichnam der Ermordeten gesehen, sagte ein, dem Dienste der öffentlichen Venus geweihetes, Weibsbild, Namens Neuschwander, aus, am Montage sei ihr eine Person, weiblichen Geschlechtes, in schwarzer Kleidung und einer Warze an der linken Wange begegnet, welche nach dem Hause Herrn Bletry's gefragt habe und von ihr zurecht gewiesen worden sei.

Auf diese Spur hin forschte man weiter und nun hatten plötzlich eine ziemliche Anzahl von Personen der niedern Volksklasse ebenfalls ein Frauenzimmer gesehen, das sich an mehrern Orten nach Herrn Bletry erkundigt hatte und von mehrern ebenfalls zurecht gewiesen worden war.

Das fiel auf, Herr Bletry, mit dessen Vermögensumständen es damals etwas mißlich stand, hatte[46] mehr Feinde, als Freunde in der Umgegend – das Gerücht begann ihn als Mörder der unbekannten Weibsperson, deren Leiche man auf der Eisenbahn gefunden, zu bezeichnen.

Wer die wunderbare, man möchte sagen diabolische, Gewalt kennt, die ein derartiges Gerücht auf die Gemüther ungebildeter Menschen übt, wer es weiß, wie ansteckend ein solcher Verdacht selbst vorurtheilsfreiere Herzen ergreift, der wird sich nicht wundern, daß, nachdem der Verdacht erst einmal auf Bletry gelenkt war, auch sogleich mit Bestimmtheit seine Thäterschaft behauptet wurde.

Obgleich die Person, die nach Bletry in Mühlhausen gefragt haben sollte, von allen Zeugen beinahe anders geschildert wurde, obgleich sie nach den Zeitangaben, fast zwei Stunden in dem kleinen Mühlhausen nach Bletry herumgefragt haben müßte, was an und für sich schon höchst unwahrscheinlich war, so wurden doch, der Natur der Sache nach, die Gerüchte und mit den Gerüchten auch die Zeugenaussagen immer bestimmter. Ein Zeuge hatte nun die besagte Person, deren Identität mit der Leiche übrigens keineswegs erwiesen war, wirklich in Bletry's Haus eintreten sehen; ein anderer Zeuge sah sie in[47] Bletry's Garten spatzieren gehen und eine goldene Kette tragen.

Das Gerücht bemeisterte sich aller Köpfe, Bletry mußte der Mörder der unbekannten Weibsperson sein, seine Freundin Franziska Lallemand, sein Knecht Fritz, seine Dienstmagd Marguerite Dinicher mußten seine Mitschuldigen sein. Man hatte die arme Person ermordet und beraubt und ihre Leiche dann auf der Eisenbahn zu entfernen versucht. Nun, als das Gerücht einen Raubmord angenommen, hatten sogleich mehrere Zeugen bedeutende Schmucksachen und endlich auch einen wohlgefüllten Geldbeutel bei der Person gesehen, die nach Bletry gefragt haben sollte. Das Gerücht wuchs der öffentlichen Sicherheitsbehörde über den Kopf und fortgerissen von dem beinahe allgemeinen Verdachte wurde von ihr am zweiten Pfingstfeiertage die Verhaftung Bletry's und seiner, durch das Gerücht bezeichneten, Mitschuldigen verfügt.

Wir sagten schon, daß Bletry's Haus etwas entfernt von der Stadt an der Straße belegen war; ob nun wohl im Bletry'schen Hause die Gerüchte nicht in ihrem ganzen Umfange bekannt waren, so konnte es doch nicht fehlen, daß auch dort, in einer öffentlichen Schenke, der unbekannte Leichnam besprochen wurde.[48] Bletry lachte, als man ihm sagte, daß das Gerücht ihn als Mörder bezeichne, aber er wurde todtenbleich, als man ihm am zweiten Pfingstfeiertage mit seiner Freundin und seinen Dienern verhaftete. In den Augen des Volks galt dieses Erblassen Bletry's natürlich für ein unfreiwilliges Eingeständniß seiner Schuld – Keiner dachte daran, daß auch der Muthigste, daß auch der Unschuldigste erblassen würde, wenn er sich ernstlich als Raubmörder in Anspruch genommen und von der Gerechtigkeit verhaftet sieht.

Wohl kann ein Mann, im Gefühl seiner Unschuld, lachen, wenn er hört, daß ein albernes Gerücht ihn Mörder nenne, ein ganz anderes aber ist es, wenn er sieht, daß das Gericht unter dem Einflusse jenes Gerüchtes steht und ihn, als wirklich angeklagt, verhaftet.

Die Haussuchung begann und wenn man von der vorgefaßten Meinung ausging, daß Bletry der Mörder der unbekannten Person sei, so wie die Beamten, welche die Haussuchung leiteten, von dieser Meinung ausgingen, so fanden sich allerdings eine Menge von Dingen, die einen einmal bestehenden Verdacht verstärken mußten. Erstlich fand man in Bletry's Zimmer eine Menge von größern und kleinern Blutflecken, die mit[49] großer Sorgfalt vertilgt waren, gleichzeitig durch Waschen und durch Schaben; wie nun aber, nach Mephistopheles, das Blut ein gar besonderer Saft ist, so läßt es sich schwer vertilgen, man konnte wohl über die Blutspuren hinweg sehen, wenn man aber nach Blutspuren suchte, so mußte man sie finden. Unter dem großen Sopha fand man sogar sehr große Blutflecken, die gar nicht aufgewaschen waren, vermuthlich weil man sie durch das Sopha selbst hinlänglich versteckt hielt; ferner fand man Blutflecke in dem Ueberzug des Sopha's und kleine Blutspuren an der ganzen Wand hin über der Rückenlehne.

Entsetzlich, das unglückliche Weib, das, nach dem Urtheil der Aerzte, den Todesstoß stehend empfangen haben und sogleich daran gestorben sein mußte, war auf das Sopha zurückgefallen und sein Blut war in dem ganzen Zimmer umhergespritzt. So mußte Jeder urtheilen, der von Bletry's Thäterschaft von vornherein überzeugt war, so urtheilte man in Mühlhausen. Bei weitern Forschungen entdeckte man an dem Geländer der Treppe, die in das obere Stockwerk führt, den Abdruck einer blutigen Hand, ja einer blutigen Hand, dafür erklärte es die Untersuchungscommission, weil – weil sie Bletry für den Mörder hielt, sonst hätte sie[50] den Fleck schwerlich für den Abdruck einer Hand halten können. Im Keller sollte Bletry, dem Gerücht nach, über Nacht den Leichnam aufbewahrt haben, was war natürlicher, als daß die feine Nase eines Policeiofficianten in einer Ecke eine Stelle fand, die feuchter als ihre Umgebungen war und einen starken Leichengeruch von sich gab.

Nun war die öffentliche Meinung zufrieden gestellt; man hatte eine Person weiblichen Geschlechts in Mühlhausen nach Bletry fragen hören, man hatte sie in sein Haus gehen sehen, man hatte sie in seinem Garten (der übrigens überall offen war) bemerkt, diese Person hatte Bletry's Haus nicht wieder verlassen und einige Tage später fand man den gräßlich verstümmelten Leichnam dieses unglücklichen Wesens in einem Kasten, der in Dornach, der nächsten Eisenbahnstation, ganz in der Nähe des Bletry'schen Hauses, aufgegeben worden war. Ja, Bletry ist der Mörder, die Blutflecken in seinem Zimmer, der Leichengeruch in seinem Keller sind eherne Ankläger.

In demselben Maße, in dem sich dieses Gerücht befestigte, mehrten sich die Indicien und wenige Tage später fand der Eisenbahnbeamte, daß die Frau, die ihm den Kasten übergeben, Niemand anderes sei, als[51] Margarethe Dinicher, Magd der Franziska Lallemand und ein zweiter Beamter, der zwei Frauenzimmer gesehen, erkannte in Franziska Lallemand die Begleiterin der Frau, die den Kasten getragen.

Was wollte man mehr? War Bletry's Thäterschaft nunmehr nicht bewiesen? In den Augen der Menge war sie bewiesen, aber vor dem Gesetz, glücklicher Weise, noch nicht. Es war natürlich, daß die Untersuchung unter der Einwirkung des Vorurtheils gegen Bletry geführt wurde, alle Aussagen standen unter der Einwirkung, ja unter der despotischen Herrschaft dieses Vorurtheils.

Vergebens suchten Bletry und seine Freundin ein Alibi zu beweisen, sie waren nämlich an dem Tage, an welchem die Kiste in Dornach aufgegeben war, nach Basel gefahren. Sie riefen Zeugen auf, aber Keiner derselben konnte oder wollte die Stunde ihrer Abreise bestimmt angeben, das herrschende Vorurtheil hatte sich aller Köpfe bemächtigt. Margaretha Dinicher, eine derbe, offene, etwas beschränkte Person, betheuerte, gleich allen Uebrigen, ihre Unschuld; kurz nach und kurz vor der Zeit, in der sie die Kiste nach Dornach gebracht haben sollte, war sie in Bletry's Hause bestimmt gesehen worden, nach Aussage der Eisenbahnbeamten[52] aber war sie mit dem Zuge abgegangen. Wie vereinigte man das? »Sie ist auf der einen Seite eingestiegen in den Waggon und auf der andern herausgesprungen,« sagte man. Obgleich nun auf der andern Seite kein Perron war, obgleich es, namentlich für eine Frau, beinahe unmöglich war heraus zu springen, so bezeugten die Eisenbahnbeamten doch, es sei, wenn auch schwierig, so doch möglich. Sie ließen dabei außer Acht, daß sie alle mit Blindheit hätten geschlagen sein müssen, wenn das am hellen Tage, in ihrem Beisein, unbemerkt hätte geschehen können.

Von dem Blut und dem Leichengeruch wußten die beiden männlichen Angeklagten nichts, die beiden weiblichen aber erklärten es auf eine Weise, die zu natürlich war, als daß sie hätte Glauben finden können bei der Stimmung der Menge, die durchaus in Bletry einen Mörder und in seinen Hausgenossen Mordgenossen sehen wollte. Um Himmelfahrt nämlich war die Schwester der Franziska Lallemand zum Besuche im Bletry'schen Hause gewesen, ein unangenehmer, aber natürlicher, weiblicher Zustand trat bei ihr, mit heftigen Zahnschmerzen verbunden, ein; Margaretha Dinicher rieth dem jungen Mädchen, Blutegel an das Zahnfleich zu legen, es geschah, es half, Alles hatte seinen natürlichen[53] Verlauf, aber nicht nur Sopha und Fußboden waren mit Blut befleckt, Franziska's Schwester spritzte auch das Blut aus dem Zahnfleisch durch die Zähne an die Wand.

Sehr natürlich wird man es finden, daß ein junges Mädchen, das in einem fremden, wenn auch befreundeten, Hause zum Besuch ist, alles mögliche anwendet, um die blutigen Zeugen eines Zustandes zu entfernen, den jedes weibliche Wesen schmahaft verbirgt. Margaretha Dinicher half dem jungen Mädchen gutmüthig das Blut aufwaschen und lachte, wie sie erzählte, recht herzlich, als Franziska's Schwester auch die letzten Spuren mit einem Glasscherben zu vertilgen trachtete. Das Blut dagegen, welches das junge Mädchen aus den Zähnen an die Wand gespritzt hatte, konnte man, ohne die Tapete zu zerreißen, nicht entfernen, überdem, wozu auch? Bletry bemerkte es vielleicht nicht und dann war es ja eine Folge der Blutegel und das junge Mädchen hatte hier nicht Ursache, sich zu schämen.

Bletry wußte davon nichts.

Kein Mensch glaubte an diese natürliche Erklärung, obgleich der Apotheker selbst das Holen der Blutegel für Bletry's Rechnung bezeugte.[54]

Man hatte aber auch noch andre Argumente gegen Bletry in Bereitschaft. Seine Vermögensumstände waren nämlich sehr zerrüttet, er hatte notorisch bedeutende Schulden und kurz vor dem präsumirten Morde war er in der ängstlichsten Geldverlegenheit, während kurz nachher eine Art von Wohlstand in seinem Hauswesen sichtbar wurde. Er erklärte diese Thatsache sehr einfach durch einen Vorschuß, den ihm seine Freundin Franziska Lallemand gemacht, die noch ein Capital besessen, von dem er nichts gewußt – man maß dieser Angabe öffentlich wenig Glauben bei, zumal da sich gerade ein neues sehr schweres Indicium fand. Man hatte in Erfahrung gebracht, daß einige alte Wäsche, die Bletry von einer Tante ererbt hatte, mit A. D. gezeichnet sei, gerade wie das alte Hemde, mit dem der unbekannte Leichnam bekleidet gewesen und dann erklärte eine Schwester desjenigen Erziehungshauses, in welchem Franziska Lallemand erzogen worden war, die Kiste, in der man den unbekannten Leichnam gefunden, habe der Franziska, während ihres Aufenthaltes im Erziehungshause, zugehört. Bletry erschrak, als man ihm das Hemd vorhielt, aber meinte nach wenigem Besinnen, daß nicht er allein mit A. D. bezeichnete Wäsche habe. Franziska Lallemand leugnete[55] je im Besitz der fraglichen Kiste gewesen zu sein. Was half ihnen das der Menge gegenüber? Die öffentliche Stimme hatte sie bereits verdammt.

Plötzlich änderte sich die öffentliche Meinung, sie theilte sich, nicht in Bezug auf die Schuld der Angeklagten, diese stand fest, sondern in Ansehung des Opfers; der auf der Eisenbahn gefundene Leichnam war kein unbekannter mehr, sondern ein bekannter, es war der Leichnam der vorigen Dienstmagd Bletry's, der Adele Bulart, nicht der Habsucht, nein, der Rachsucht Bletry's war ein Opfer gefallen.

Der alte Strohhut, der über die abgehauenen Füße der Ermordeten gedeckt gefunden, gehörte unbezweifelt der ehemaligen Dienstmagd Bletry's. Kaum war das bekannt, so erkannten mehrere Personen den ganz verwes'ten Kopf als den der Adele Bulart, früher, da das Gesicht noch kenntlicher gewesen, hatte es niemand erkannt, das Gerücht wirkte Wunder. Nun war also entweder die Frau mit der goldenen Kette, die nach Bletry gefragt haben und die er ermordet haben sollte, eine Fiction, oder der Leichnam war nicht der der Adele Bulart.

Die Sache schien sich immer mehr zu verwickeln, die Untersuchung brachte statt Aufklärungen nur neue[56] und immer seltsamere Räthsel zum Vorschein. Niemand wußte einen Ausweg aus diesem Labyrinth.

Bletry behauptete, Adele Bulart sei in ihre Heimath zurückgekehrt, da er aber leider nicht wußte, wo diese Heimath sei, so mußte man sich begnügen, einen öffentlichen Aufruf an das Mädchen in alle möglichen Zeitungen einzurücken. Der Erfolg dieses Aufrufs konnte kein augenblicklicher sein, Bletry und seine Unglücksgenossen blieben gefangen und in der öffentlichen Meinung – Mörder.

Einige Zeit nachdem der Aufruf an Adele Bulart in französischen und deutschen Zeitungen erschienen war, sah man eine elegante Postchaise in das Dörfchen Sorante, Departement Côte d'or, rollen. Ein Postzug von vier Pferden trabte vor dem leichten Fuhrwerk, an dessen Schlägen ein gekröntes Wappen blitzte, unter dessen rothen Rädern der Staub aufwirbelte. Der Postllion, der auf dem Sattelpferd saß, klatschte und unter dem lauten Halloh der müßigen Jugend hielt die Chaise endlich vor der, eben nicht sehr einladend aussehenden, Schenke. Der Wirth sprang herbei, um den Schlag zu öffnen, wurde aber von einem riesengroßen, reichgallonirten Jäger, der auf dem Bock gesessen, zurückgestoßen. Als dieser[57] Jäger den Schlag geöffnet hatte, erhob sich von dem Rücksitze ein junger Mann aus seiner halbliegenden Stellung, warf seinen Mantel zurück und befahl dem Wirth näher zu treten.

Mit einiger Verwunderung starrte der alte, ehrliche Mann, der Soldat gewesen unter dem großen Kaiser, in ein blasses, feines Gesicht, in dem ein paar schwarze Augen schier unheimlich funkelten.

»Heißen Sie Bulart?« fragte der fremde Herr im reinsten Salonfranzösisch.

»Etienne Bulart, ehemals Soldat, hundert und viertes Regiment, verwundet bei Ligny!« entgegnete der alte Mann, sich militärisch aufrichtend.

»Gut, mein Braver, Sie haben eine Tochter?«

»Vier Töchter, mein Herr, und vier Söhne!«

»Eine Ihrer Töchter heißt Adele?«

»Adele Napoléone, nach ihrer Mutter und dem großen Kaiser!« erwiederte der Soldat, seine Hand salutirend an die Stirn legend.

»Adele Bulart, ihre Tochter, ist gegenwärtig bei Ihnen, mein Braver?«

»Ja, mein Herr!«[58]

»Sie würden mich sehr verbinden, wenn Sie mir erlaubten einige Worte mit Ihrer Tochter zu sprechen, bringen Sie dem Postillon und meinem Jäger eine Flasche Wein!«

»Sehr wohl, ich werde mit meiner Tochter und dem Wein sogleich wieder hier sein!«

Nach einigen Minuten stand der alte Soldat mit der Flasche bei dem Postillon und dem Jäger, Adele Bulart aber am Wagen vor dem jungen Herrn.

»Grand dieu!« rief Adele im Nähertreten, »ich sah es Ihnen schon damals an, mein Herr, daß Sie etwas sehr vornehmes sein müßten, als Sie den ...«

Der junge Mann zuckte, unangenehm berührt, zusammen und sagte hastig: »Schweigen Sie, meine Gute, ich denke wir kennen uns: haben Sie nicht in vorvoriger Woche ein Zeitungsblatt erhalten?«

»Ja, mit der Post, aber –«

»Was stand darin?«

»Der gute Pfarrer hat mir gesagt, denn ich selbst kann nicht lesen, man habe meinen ehemaligen Herrn, Bletry, in Mühlhausen eingesperrt und wolle ihm den Prozeß machen, weil er mich ermordet habe.«[59]

Das Mädchen lachte unwillkührlich bei dem Gedanken, daß sie in Mühlhausen ermordet sein solle, während sie gesund in Sorante stand. Auch über das bleiche Antlitz des jungen Mannes zog eine Art von Lächeln.

»Haben Sie etwas in dieser Sache gethan, mein Kind?«

»Wie? ja, der gute Pfarrer hat nach Mühlhausen geschrieben, daß ich gesund hier bei meinem Vater sei, also unmöglich von Bletry ermordet sein könne, aber am Sonntag hat man ihm geantwortet, das sei nicht möglich, er irre sich, die ermordete Adele Bulart und ich würden wohl zwei verschiedene Personen sein.«

Man sieht, wie hartnäckig das Vorurtheil trotzte.

»Meine Gute, werden Sie nun nicht nach Mühlhausen gehn und ihren ehemaligen Herrn durch Ihre Erscheinung von dem furchtbaren Verdachte, der auf ihm lastet, befreien?«

»Der gute Pfarrer rieth mir dasselbe, mein Herr,« entgegnete Adele »und gewiß würde ich es thun, obgleich Herr Bletry niemals mein Freund war, aber sagen Sie selbst, wie kann ich ohne Geld nach Mühlhausen reisen, mein Vater ist arm, ich bin arm, wir sind hier alle arm in unserm Dorfe.«[60]

»Sie haben Recht, Adele, ich werde Ihnen das Geld zur Reise geben, Sie werden nach Mühlhausen fahren mit einem Certificat ihres Pfarrers, dort aber werden Sie weiter nichts thun, als durch Ihre persönliche Erscheinung Ihr Leben beweisen, das genügt um Bletry zu retten, hier find hundert Louis, Sie versprechen mir aber in Mühlhausen nichts zu sagen von meinen Besuchen,« der junge Mann betonte die Mehrheit, »daß sie von dem Kauf der – nun Sie wissen wohl, was ich meine, schweigen müssen, Ihrer eigenen Sicherheit wegen, das werden Sie einsehen?«

»Ich verstehe Sie, mein Herr,« erwiederte Adele und nahm mit einem tiefen Knicks eine schwere Geldrolle aus der Hand des jungen Mannes, der nun dem alten Soldaten seinen Wein bezahlte, sich in seinen Mantel wickelte und nachlässig seine frühere Stellung wieder einnahm. Der Schlag wurde geschlossen, der Jäger bestieg den Bock, der Postillon sein Pferd, »leben Sie wohl Adele, ich verlasse mich ganz auf Sie!« rief der Fremde noch einmal hastig. »Sie können es, mein Herr!« lautete Adelens Antwort; die Rosse zogen an, die Peitsche flog und bald bezeichneten wirbelnde Staubwolken allein noch den Weg, den der Wagen des Fremden genommen.[61]

An diesem Tage landete Don Juan von Aurinia zu Hamburg, er nahm Abschied vom alten Capitain Förster und seiner Brigantine und bezog mit Incarnacion und dem »doppelten Kopf« ein Hôtel am Jungfernstieg, das sein Correspondent bereit gehalten für ihn.[62]

Quelle:
Hesekiel, George: Faust und Don Juan. Aus den weitesten Kreisen unserer Gesellschaft, Teil 1, Altenburg 1846, S. 37-63.
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