IV. Ein Besuch bei Nacht.


In einer kleinen Stadt, die wir hier nicht namhaft machen dürfen, liegt mitten auf dem Markte, gerade dem Rathhause gegenüber, ein Gebäude, dessen alterthümliche Bauart lebhaft absticht gegen das moderne, frische Ansehen der Häuser ringsum.

Es ist ein hohes, dreistöckiges Haus, zu dessen Thür eine sehr verfallene, durch ein eisernes Geländer geschützte Steintreppe von etwa vier Stufen führt. Dieses Gebäude war so lange ein Gegenstand der Neugierde der Bewohner des Städtchens gewesen, bis sie sich endlich daran gewöhnt hatten und nicht mehr davon sprachen. Das alte Haus hatte früher einem Bürgermeister der Stadt gehört und war nach dessen Tode seinem Neffen, dem ehemaligen Professor Klingsohr, zugefallen, der, man weiß nicht aus welcher Ursache, die Academie, an der er docirte, verlassen hatte und nach dem kleinen Städtchen gezogen war, in dem er das alte Haus geerbt hatte. Vierzig Jahre waren[101] verflossen seitdem, man wußte nichts vom Professor Klingsohr, als daß er noch lebe, denn nie sah man ihn selbst, immer nur seine alte Magd, oder höchstens seinen Bedienten, aber man wußte trotzdem, daß der Professor, so hieß er kurzweg in der ganzen Stadt, daß der Professor ungeheuer reich sei. Früher sollte er auch verheirathet gewesen sein und sollte Familie gehabt haben, aber man hatte nie Kin der in dem alten Hause gesehen und schloß daraus, daß sie gleich der Mutter gestorben sein müßten.

Seit vielen Jahren nun schon sahen die guten Kleinstädter ohne Neugierde das alte Haus an, dessen Bewohner sie sonst so sehr beschäftigt hatte, kein Mensch mehr suchte die alte Magd auszuforschen, denn Jeder wußte, daß es vergeblich sein würde und so hatte der Professor endlich erreicht, was er wünschte; die Neugierde seiner Mitbürger belästigte ihn nicht mehr.

Etwa acht Tage nach der Zusammenkunft Don Juan's mit Faust im Hôtel de Bavière zu Leipzig reichte der Postbote der Magd des Professors einen Brief in die halbgeöffnete Hausthür und nahm einen Dreier, als sein bescheidenes Briefträgertheil dahin, dabei aber fiel ihm auf, daß die alte Person beim Anblick der Schriftzüge auf dem Couvert zu zittern begann[102] und recht sehr blaß wurde. Natürlich war es an diesem Abend auf dem Keller die Hauptneuigkeit, daß Professors Magd beim Empfang eines Briefes blaß geworden sei und gezittert habe.

Da wir aber bei den guten Spießbürgern schwerlich erfahren werden, weßhalb die alte Magd Zeichen der Bestürzung sehen ließ, als sie die Handschrift Don Juan's erblickte, denn von diesem war der Brief, so folgen wir der alten Person selbst in das geheimnißvolle Haus des Professors. In dem dunkeln Flurgange bemerken wir nur undeutliche Umrisse von der Gestalt der Magd; aber sie steigt die Treppe empor ins erste Stockwerk und nun erkennen wir in ihr eine, zwar dienstmagdlich, aber sehr reinlich, gekleidete, alte, vielleicht sehr alte, Frau, denn ganz weißes, aber dichtes, Haar schaut unter dem enganliegenden, schwarzen Sammetmützchen hervor und nur mühsam ersteigt sie die steile, enge Treppe; das braune, einfache Gewand ist ihr zu weit geworden, es schlottert in plumpen Falten um einen, von der Last der Jahre gebeugten, Körper und schleppt schwerfällig nach auf den steinernen Stufen. Das Gesicht von Professors Magd ist beinahe hochgelb und nicht eben angenehm anzuschauen, aber das Auge von grauer Farbe verräth so viel Herzensgüte[103] und, in diesem Augenblick, so viel gutmüthiges Mitleid, daß im Ganzen der Eindruck des alten Gesichtes kein unangenehmer ist.

Bis in's zweite Stockwerk kletterte die Alte keuchend, dort trat ihr ein Mann entgegen, der nur wenig jünger sein konnte als sie.

Der alte Mann, der einen grünsammetnen Leibrock mit verschossener Stickerei, kurze Beinkleider von grauem Casimir, schwarze Strümpfe und Schuhe trug, betrachtete die Alte durch eine ungeheure Brille, deren grüne Gläser in schwarzes Horn gefaßt waren, und verrieth eine Art von Aufregung, indem sich zahllose Runzeln um seinen zahnlosen Mund bildeten; dennoch machte er ein kleines Compliment vor der Alten, was von dieser durch einen höflichen Knix erwiedert wurde.

»Was führt Sie so außer der Zeit herauf, Jungfer?« fragte der Mann mit leiser, gedämpfter Stimme.

»Ein Brief ist abgegeben, Musje Benndorf, an den Herrn, der Brief ist vom Herrn General!« entgegnete die Alte eben so leise und reichte dem Musje Benndorf den Brief.

»Ach Gott, der arme Herr!« seufzte der Bediente und man sah an den Gesichtszügen der beiden alten Leute, daß sie große Besorgniß hegten für ihren Herrn.[104]

»Trete Sie hier ein bei mir, Jungfer,« sagte Musje Benndorf nach einer Weile, »damit Sie zur Hand ist, wenn der Herr Sie etwa brauchen sollte, ich muß doch hinauf!«

»Sehr wohl, Musje!« erwiederte die Alte und trat in das große Zimmer, das der Bediente im zweiten Stock bewohnte, ihre Wohnung war in der ersten Etage. In dem Gemach des Bedienten ist nichts Auffallendes, außer etwa zwanzig Uhren von allen Größen, die an den Wänden hängen und in allen Tonarten picken. Musje Benndorf verfertigte Uhren zum Zeitvertreib, er war ein gelernter Uhrmacher. Jetzt sehen wir ihn zögernd und langsam die, mit einem dicken Teppich belegte, Treppe ins dritte Stockwerk hinaufsteigen, er tritt an eine Thüre und lauscht eine Weile, dann schüttelt er mit dem Kopfe, kehrt wieder um und sagt, ins Zimmer zu der Frau tretend: »Bleibe Sie nur immer hier, Jungfer, der Herr lies't Griechisch, da darf ich nicht eintreten, aber nach dem Griechischen kommt gewöhnlich eine asiatische Sprache und dann kann ich's allenfalls wagen!«

Ohne ein Wort zu reden saßen nun die beiden Alten sich gewiß eine halbe Stunde einander gegenüber; dann trat Musje Benndorf seinen Weg zum[105] zweiten Male an; zum zweiten Male sehen wir ihn an der Thür des Professors lauschen; »Gott sei Dank, Arabisch,« murmelt er und öffnet leise die Thüre.

Es ist ein kleines, vielleicht zwei Schritt langes und nicht breiteres, Vorzimmer, in welchem Musje Benndorf jetzt steht; an jeder Seite der Thür halten zwei mächtige Lehnstühle Wacht, aber nur der Eine von Beiden kann in Gebrauch sein, denn der Andere ist dick mit Staub bedeckt; die offene Thür dieses kleinen Zimmers läßt uns einen Blick thun in das große, saalartige Gemach, das Musje Benndorf jetzt betritt. Sein schüchterner Schritt ist unhörbar auf dem Teppich, der auch hier den Fußboden bedeckt, aber eine helle, klingende Stimme lies't laut eine Sure des Korans und müht sich, die tiefen Gutturallaute der arabischen Sprache mit möglichster Vollkommenheit auszusprechen. Das Gemach, von dem wir reden, hat sechs Fenster, die sämmtlich nach dem, durch eine Mauer von dem ebenfalls hochummauerten Garten getrennten, Hofe hinausgehen und mit ängstlicher Genauigkeit gerade bis zur Hälfte durch Rouleaux verhängt sind. Jedes Fenster, nebst dem dazu gehörigen Raum des Gemachs, ist durch ein Bücherreposttorium von dem andern geschieden und wird durch eine Bücherleiter[106] bewacht. Nur ein schmaler Gang ist an der, den Fenstern gegenüber liegenden, Wand frei geblieben. Die Nischen, die auf diese Weise von den Reposttorien gebildet werden, sind leer und geräuschlos schleicht Musje Benndorf an ihnen vorüber, an der fünften Nische aber bleibt er stehen und wirft einen trüben Blick hinein. Drei moderne Stühle mit Strohgeflecht stehen darin, ein größerer Tisch mit einer Sinumbralampe, ein Nähtischchen mit einer angefangenen Arbeit, ein Fußbänkchen, kurz lauter Gegenstände, die auf einen weiblichen Insassen der Nische deuten. »Allah, akbar!« tönt es in der sechsten Nische, leise tritt Musje Benndorf hervor und steht vor seinem Herrn.

Da sitzt der gelehrte Professor vor einem großen, mit Papieren gehäuft bedeckten, Tische, rechts hat er das Fenster, im Rücken einen Kamin mit glimmendem Feuer; er wendet sich nach links, als Musje Benndorf am Eingang der Nische erscheint, legt den Koran nieder und fragt mit lauter, klingender Stimme: »Was bringt er, famule? es muß etwas Wichtiges sein, da er während der Lesestunden erscheint, was ich nicht besonders liebe.«

Wir treten näher mit dem alten Diener und erkennen nun, daß der Professor Klingsohr ein sehr kleiner[107] und sehr alter Mann ist, der in einem ungeheuren, mit Kissen belegten, Lehnstuhl und mit einem sehr weiten Schlafrock bekleidet mehr zu schwimmen, als zu sitzen scheint. Die Augen des alten Gelehrten blitzen, wir würden sagen wie Diamanten, wenn es schwarze Diamanten gäbe und rechts und links neben seinem, ehrwürdig weißen und mit einem silbernen Kamm im Nacken befestigten, Haar funkeln die grünlichen Augen von zwei grauen Katzen, die gewohnt sind auf seinen Schultern zu sitzen, so lange er laut lies't.

»Ein Brief!« spricht Musje Benndorf leise.

Einen Moment lodert es wie eine Zornflamme im Auge des Gelehrten und zuckt über sein blendend weißes, altes Gesicht, aber sogleich ist dieser Zorn wieder verschwunden; »Brutum!« murmeln seine schmalen, kaum sichtbaren Lippen – dennoch steht der alte Diener, aber er zittert heftig.

»Famule,« sagt der Professor nun, »nimm Deinen Brief wieder mit Dir, Du weißt, daß ich nur von fünf bis sechs Uhr Morgens Briefe annehme.«

Bei dem letzten Wort nahm der Gelehrte seine frühere Stellung wieder ein und den Koran wieder auf, um weiter zu lesen.[108]

»Vom Herrn General!« stammelte der alte Diener jetzt und trat noch einen Schritt näher. Der Professor legte seinen Koran noch einmal hin, düstere Falten zogen sich zusammen auf seiner Stirn und bildeten ein Hufeisen, das sich düster abschattete gegen die Glätte der andern Theile des Gesichtes; mit einem Ruck schleuderte er die beiden Katzenthiere von seinen Schultern, er richtete sich hoch auf in seinen Kissen und schrie mit dämonisch blitzenden Augen, während sich sein Mund entsetzlich verzerrte: »Leg' den Brief hin und geh', wenn Dir dein Leben lieb ist!«

Musje Benndorf legte eilig den Brief auf eine Ecke des Tisches und eilte davon, so schnell ihn seine alten Beine zu tragen vermochten. Ein fürchterliches Geheul schallte hinter ihm her, dann ein Ohren zerreißendes Trompetengeschmetter und in Schweiß gebadet, Thränen in den Augen, sank der alte Diener erschöpft in einen der beiden Lehnstühle, die an der Thür des kleinen Vorzimmerchens standen. Drinnen aber im großen Saal stand der alte Professor mit verzerrtem Gesicht und trieb allerlei seltsame Dinge, bald brüllte er in eine gewaltige Riesenmuschel, bald stieß er schmetternd in eine eherne römische Schlachttrompete, bald wälzte er sich unter convulsivischen Zuckungen am[109] Boden und schauerlich blickten die beiden großen Katzen herab auf ihn, sie hatten sich auf die höchste Spitze des Repositoriums gerettet; der Professor aber bemerkte sie, kletterte mit einer entsetzlichen Behendigkeit hinauf auf der Leiter und schleuderte die Thiere, sie bei den Schwänzen fassend, unsanft zur Erde, dann verfolgte er sie unter einem höllischen Gelächter, bis er wieder dumpfheulend zu Boden sank.

Zitternd und aufmerksam lauschte Musje Benndorf, erst als Alles still geworden war, klingelte er, die Alte trat ein.

»Der Herr ist still, Jungfer!« sagte er leise und ging nun mit ihr eilig nach der Nische. Der Professor lag dumpfröchelnd am Boden; die beiden Alten hoben ihn auf, brachten den Bewußtlosen in seinen Stuhl, trockneten ihm den Schweiß von der Stirn, stellten ein großes Glas Wasser, mit Wein gemischt und mit Zucker versüßt, zu seiner Rechten, legten ein reines Taschentuch zu seiner Linken und den Brief gerade vor ihn, dann räumten sie Trompete und Muschel bei Seite, stellten die Ordnung geräuschlos wieder her und schlichen sich hastig davon.

Der Professor begann immer ruhiger zu athmen, die vorige Ruhe seiner Züge kehrte wieder, das Hufeisen[110] verschwand von seiner Stirn und leise schnurrend nahmen die beiden Katzen Platz neben ihm auf seinem Tisch. Nach einer kleinen Viertelstunde etwa seufzte der Gelehrte tief auf, öffnete blinzelnd die Augen, faßte mechanisch nach dem Glase und leerte es auf einen Zug, dann erhob er sich ganz, schaute sich verwundert um, fächelte sich Luft zu mit dem reinen Taschentuch und seine blassen Züge trugen den Stempel des tiefsten Schmerzes und einer Art seltsamer Schaam.

»Die Guten glauben,« murmelte er, »die Guten glauben, ich wüßte es nicht, daß ich verrückt bin, darum bringen sie Alles in Ordnung, was ich in der Raserei verderbe. Gute Leute!«

Der Professor griff nach dem Briefe und lächelte matt: »ach ja, so war's, Benndorf brachte mir einen Brief meines Juan; ach, was soll ich sagen, was wird er sagen? Wie, Leipzig? Mein Gott, mein Gott, Juan in Europa! Er wird kommen, er muß kommen und ich, ich stehe als ein Lügner, als ein Sünder da!«

Jetzt erbrach der alte Mann den Brief, er las, er las lange – seufzend faltete er ihn zusammen und sah länger nachsinnend vor sich nieder; »ich habe so viel ertragen in einem langen Leben,« sprach er weich,[111] »auch das muß ich noch ertragen, wehe!« Thränen rollten über die bleiche Wange des Greises.

Es war Abend geworden draußen, im Zimmer des Professors wurde es dunkel, der alte Mann saß noch immer in trüben Sinnen, es wurde ganz dunkel und nur die Augen der Katzenthiere funkelten noch, endlich schellte der Professor und mit zwei Armleuchtern trat der treue Diener herein, der gewiß schon seit einer halben Stunde auf dieses Zeichen gewartet hatte.

Das Rouleaux rollte ganz nieder, das Feuer im Kamin, frisch genährt, prasselte hell auf und die Nische war behaglich erleuchtet.

»Wie steht's mit seiner neuen Uhr, Benndorf?« fragte der Professor gütig.

»Es will nicht gehn, Herr Professor, das Holz leiert sich aus!«

»Ich hab's Ihm vorher gesagt, Er verschwendet seine Zeit.«

»Es käme wohl nur darauf an, Herr Professor,« replicirte der alte Diener bescheiden, »einen Firniß zu finden, der das Holz schützte.«

»Da hat Er Recht, Alter! hm, gebe Er mir einmal das kleine Buch dort her.«[112]

Der Diener brachte das Verlangte, der Professor blätterte eine Weile, dann sagte er freudig: »Ich kann Ihm helfen, weiß Er wie die Römer ihre Lanzenschäfte unzerstörbar machten?«

»Nein, Herr Professor!«

»Nun sie bestrichen sie dick mit Oel und legten sie an einem trocknen Orte nieder, nicht in der Sonne, auch nicht am Ofen, Er wird mich verstehen; wenn nun das Oel eingetrocknet war, wurde das Experiment wiederholt, so drei Mal; kann Er das nicht auch so machen mit seiner hölzernen Scheibe?«

»Gewiß, Herr Professor, nur müßte ich wissen, welches Holzes sich die Griechen –«

»Die Römer, Benndorf!« verbesserte der Professor.

»Die Römer zu ihren Lanzenschäften bedient hätten.«

»Gut bemerkt, mein Alter!« sagte der Gelehrte und ließ sich ein neues Buch bringen, in dem er wieder eine Weile blätterte. Endlich sprach er: »Es giebt verschiedene Meinungen über diesen Gegenstand, Benndorf, die Ihm aber nichts nützen, ich glaube, daß man für gewöhnlich des Eschenholzes, und zwar nicht des ganz alten, sich bedient hat. Versuche Er's einmal mit Eschenholz.«[113]

»Sehr wohl, Herr Professor!«

»Benndorf, nach eilf Uhr wird Er heute die Gartenpforte öffnen, der General kommt; die Jungfer soll ein Paar Hühner braten und einige Flaschen von dem alten Wein ins Vorzimmer bringen; Er wird, wie in alten Zeiten, den Tisch hier nebenan decken – auch wird die Jungfer ein Bett bereit halten.«

»Sehr wohl, Herr Professor!«

»Benndorf, ferner wird Er der Jungfer ein Glas Wein geben und wird selbst drei Gläser trinken, versteht er mich?«

»Sehr wohl, Herr Professor!«

»Benndorf, hat Er Cigarren im Hause, der General raucht immer, wie Er weiß; hat Er Cigarren?«

»Ja, Herr Professor!«

»Benndorf, Er wird dem General nichts sagen von – Er versteht mich schon.«

»Ja, Herr Professor!«

»Jetzt geh' und besorge Er seine Sache gut, denn Er ist kein Kind mehr!«

Der Diener entfernte sich vergnügt, denn so viel hatte der Professor seit drei Monaten nicht mit ihm gesprochen. Der Gelehrte aber sah nach seiner Uhr, ergriff einen Stoß Zeitungen und Brochüren, setzte sich[114] zurecht und begann die Annalen der Tagesgeschichte mit einer Schnelligkeit zu durchfliegen, die eine große Uebung in dieser Art Beschäftigung verrieth. Häufig machte sich der Professor eine kurze Notiz und fuhr dann wieder eifrig fort zu lesen. Tiefe Stille herrschte in dem Zimmer des alten Mannes nur das Rauschen der riesenhaften Blätter englischer und franzöfischer Zeitungen war vernehmbar, Stunden vergingen, ohne von seiner Zeitung aufzusehen ließ der Greis seine Uhr repetiren, es war zehn Uhr vorüber.

»Ach!« sagte er endlich leise, »es war also nicht diese Adele Bulart, wer denn? Die fremde Dame ist eine Fiction, ersonnen von Schuften, dem Bletry feindlich Gesinnten, von müßigen Köpfen ausgeschmückt und von einer, nach Verbrechen hungrigen, Menge freudig adoptirt. Vielfach erinnert diese Geschichte an den Mord des Fualdes, auch dort wurde ein abgeschmacktes Mährchen von der aufgeregten Menge für wahr gehalten – wer es wüßte – ich möchte es wissen, wer die Ermordete gewesen – nun ich habe manches Räthsels Lösung erlebt, auch diese wird mir nicht entgehen.«

»Heute erst mein Brief angekommen?« fragte Don Juan's Stimme im Vorzimmer.

»Erst heute, Herr General!« antwortete Benndorf.[115]

»Du zitterst, Klingsohr, Du bist alt geworden!« sagte der Professor zu sich selbst und stand auf.

»Klingsohr, alter, lieber Getreuer!« rief Don Juan und schloß den Greis in seine Arme.

»Juan, Juan!« erwiederte dieser klagend, »Du bist noch immer ein Mann und ich ein Greis!«

»Mag das Haus alt werden, Theurer, wenn nur sein Bewohner jung bleibt und kräftig – aber –« Don Juan sah sich fragend um, »warum eilt Toska nicht in die Arme ihres Vaters? Wo ist meine Lieblingstochter?«

Klingsohr antwortete nicht, sondern sah den Fragenden mit stiller Trauer an.

»Toska ist todt!« schrie Don Juan, »Toska, meine Toska, ihrer Mutter Ebenbild todt?«

»Nein, Don Juan, todt ist Toska nicht, sie lebt.«

»Wo, wo ist sie?«

»Juan, beruhige Dich, ich bitte Dich, meine Nerven vertragen starke Erschütterungen nicht mehr; wie mich einst meine Tochter verließ, um Dir, dem Manne ihrer Liebe, zu folgen, so hat mich auch jetzt meine Enkeltochter verlassen, um dem Manne ihrer Liebe zu folgen.«[116]

»Alter Freund!« sprach Don Juan wehmüthig, »Du täuschest mich nicht, meine Toska ist todt, ich fühle es.«

»Juan, welche Schwachheit, wirst Du auch alt, Du Mann von Eisen? Du bist nicht der Juan mehr, den meine verklärte Toska liebte; siehe her, hier ist Deiner Toska Brief, – das Mädchen hat's gemacht, wie seine Mutter mit Dir, es ist mit dem Geliebten, ohne Jemanden ein Wort zu sagen, bei Nacht und Nebel davon gegangen. Es ist wahr, es hat mir sehr wehe gethan, weil ich beinahe nicht mehr leben konnte ohne meiner Toska Kind, aber sie wird schon wieder kommen.«

Don Juan starrte in den Brief seiner Tochter, aber er las nicht, ihn rührte die verbissene Traurigkeit des Greises, der seinen Schmerz nicht merken lassen wollte, um Juan's Schmerz nicht zu vergrößern. Er hatte mehr verloren als Don Juan, er hatte das einzige menschliche Wesen verloren, das ihn erfreute und erheiterte, das er von Kindheit auf um sich gehabt hatte, an das er sich in einem Zeitraum von fünf und dreißig Jahren gewöhnt hatte.

Die beiden Männer begaben sich jetzt in die andere Nische, in die, welche Don Juan's Tochter bewohnt[117] hatte, sie setzten sich an den wohlbesetzten Tisch, aber keiner von Beiden vermochte vor Wehmuth und Traurigkeit einen Bissen zu genießen. Don Juan trank hastig einige Gläser Wein und rauchte, der Professor erzählte endlich also: »Lieber Juan, unsere Toska war, wie gewöhnlich kurz vor Ostern nach Berlin gereis't, um die nöthigen Sommerbestellungen zu machen – nie blieb sie über fünf Tage aus, am sechsten Tage erhielt ich einen kurzen Zettel von ihr, in dem sie mir sagte, die Bestellungen seien gemacht, aber ich solle ihr nicht zürnen, sie könne jetzt nicht zurückkehren, sondern sie müsse dem Manne ihrer Liebe folgen, an Dich wolle sie selbst schreiben. Es war richtig, die Bestellungen waren gemacht; ich wäre dem Kinde gern nachgeeilt, aber ich kann mein Zimmer nicht einen Tag verlassen, wie Du weißt; meine Berliner Freunde sind alle todt. Ich konnte nichts als eine Aufforderung in die Zeitungen drucken lassen, die nur ihr verständlich war, ich bat sie darin, wenn sie nicht zurückkehren wolle, sie möge wenigstens nochmals Nachricht von sich geben. Etwa vor acht Tagen erhielt ich von Hamburg den Brief, den ich Dir gegeben habe, sie hat ihn am Tage vorher geschrieben, ehe sie mit ihrem Manne, dem Grafen Saportani, nach England abreisen wollte.«[118]

»Hamburg, acht Tage!« rief Don Juan und nahm den Brief, »ich war ja vor acht Tagen in Hamburg.«

»Du bist über Hamburg gekommen?« fragte der Professor.

»Ja!« schrie Don Juan außer sich, »der Brief ist eine verdammte Lüge, das sind wohl Toska's Züge, aber nicht Toska's Worte –«

»Das mußt Du besser wissen, als ich, Du hattest natürlich häufiger Gelegenheit von ihr Briefe zu empfangen.«

»Verdammte Lüge, Intrigue,« tobte Don Juan, »dieser Brief ist, nach dem Datum, vor meiner Ankunft geschrieben, am 11. October ist, nach diesem Briefe, Toska nach England gereis't und zwar auf der hamburgischen Brigantine ›die Jungfrau‹ Capitain Förster! merke wohl auf, Klingsohr, und ich bin auf der hamburgischen Brigantine ›die Jungfrau‹, commandirt von dem Capitain Förster, erst am 20. October von Amerika eingetroffen.«

»Mein Gott!« schrie der Professor entsetzt und sein Gesicht verzerrte sich krampfig, »Toska, wo bist Du?«[119]

»Meine Toska ist todt,« sprach Don Juan dumpf, »ich fühle, daß meine Toska todt ist!«

»Aber Juan,« stammelte Klingsohr, »es kann zwei Schiffe geben, die einen Namen haben.«

»Lieber Alter, belüge Dich nicht selbst, an einem Ort giebt es nicht zwei Schiffe gleichen Namens und wäre das, so würde sicher nicht auch der Name des Capitains stimmen – überhaupt hättest Du mir vor zwanzig Jahren gesagt, Toska habe sich von einem Nobile entführen lassen, so würde ich mich nicht gewundert haben, aber glaube mir, ein Mädchen, wie meine Toska, läßt sich nicht entführen, wenn sie ohne Liebschaft fünfunddreißig Jahre alt geworden ist.«

Der Professor sprach nichts, er lehnte todtenbleich in seinem Lehnstuhl; Don Juan bemerkte es nicht, er trank den schweren Wein, Glas auf Glas, und eine dichte Dampfwolke umwirbelte ihn, nur leise, ganz leise murmelte er von Zeit zu Zeit: »Meine Toska!«

Eine Stunde war so vergangen, als Musje Benndorf erschien, um abzuräumen, mit starken Essenzen mußte er seinen ohnmächtigen alten Herrn in's Leben rufen. Willenlos ließ sich auch Don Juan in's Bett führen. –[120]

Quelle:
Hesekiel, George: Faust und Don Juan. Aus den weitesten Kreisen unserer Gesellschaft, Teil 1, Altenburg 1846, S. 99-121.
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