Bist du nun tot ...

[78] Bist du nun tot? Da hebt die Brust sich noch,

Es war ein Schatten, der darüber fegt,

Der in der ungewissen Dämmrung kroch

Vom Vorhang, der im Nachtwind Falten schlägt.


Wie ist dein Kehlkopf blau, draus ächzend fuhr

Dein leises Stöhnen von der Hände Druck.

Das ist der Würgemale tiefe Spur,

Du nimmst ins Grab sie nun als letzten Schmuck.


Die weißen Brüste schimmern hoch empor,

Indes dein stummes Haupt nach hinten sank,

Das aus dem Haar den Silberkamm verlor.

Bist du das, die ich einst so heiß umschlang?


Bin ich denn der, der einst bei dir geruht

Vor Liebe toll und bittrer Leidenschaft,

Der in dich sank wie in ein Meer von Glut

Und deine Brüste trank wie Traubensaft?


Bin ich denn der, der so voll Zorn gebrannt

Wie einer Höllenfackel Göttlichkeit,

Und deine Kehle wie im Rausch umspannt,

In Hasses ungeheurer Freudigkeit?


Ist das nicht alles nur ein wüster Traum?

Ich bin so ruhig und so fern der Gier.

Die fernen Glocken zittern in dem Raum,

Es ist so still wie in den Kirchen hier.
[79]

Wie ist das alles fremd und sonderbar?

Wo bist du nun? Was gibst du Antwort nicht?

– Ihr nackter Leib ist kalt und eisesklar

Im blassen Schein vom blauen Ampellicht. –


Was ließ sie alles auch so stumm geschehn.

Sie wird mir furchtbar, wenn so stumm sie liegt.

O wäre nur ein Tropfen Bluts zu sehn.

Was ist das, hat sie ihren Kopf gewiegt?


Ich will hier fort. – Er stürzt aus dem Gemach.

Der Nachtwind, der im Haar der Toten zischt,

Löst leis es auf. Es weht dem Winde nach,

Gleich schwarzer Flamme, die im Sturm verlischt.
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Quelle:
Georg Heym: Dichtungen und Schriften. Band 1, Hamburg, München 1960 ff., S. 78-81.
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