Erste Scene.


[414] Schröder und Heinrich kommen von links.


SCHRÖDER.

Ja, ja, Herr Blank, es geht zu Ende.

HEINRICH hastig und aufgeregt.

Hab' ich's

Nicht gleich gesagt?

SCHRÖDER.

Seitdem der tück'sche Wind

Es mit dem Franzmann hält und Brod und Pulver

Nicht in den Hafen lässt, kann nur der Wahnsinn

Auf Rettung hoffen. Just vor einer Stunde

Sprach ich den Bauer Klas; ich kenn' ihn gut;

Mein Vorwerk liegt nur einen Hundeblaff

Von seinem Hof. Der war hereingeschlichen,

Um eine alte Fordrung einzutreiben,

Und musst' mit leeren Händen wieder gehn.

Herr Schröder, sagt' er, ihr hier in der Stadt

Könnt's noch mit ansehn, weil ihr hinter Schloß

Und Riegel sitzt. Wenn's Bomben hagelt, kriecht[414]

Ihr in die Keller; kommt's zum Schlimmsten, geht ihr

Zur See und lasst dem Feind das leere Nest.

Wir aber auf dem Land – 'ne Schnecke, die

Man aus dem Hause riß, ist nicht so wehrlos,

So mutternackt, wie wir.

HEINRICH.

Gott sei's geklagt!

SCHRÖDER.

Die Plackerei, das Schinden Tag und Nacht,

Dem Feind noch helfen müssen, Knecht und Pferd

Und Rock und Hemd hergeben – und so weiter.

Klas, sagt' ich, meinst du, daß wir in der Stadt

Auf Rosen liegen? Gestern zum Exempel

Kommt – ich war nicht zu Haus – der Jürgen Smidt,

Der Tischlermeister, kommt zu meiner Frau

Und klagt ihr, daß sein gutes Weib gestorben,

Am Festungsfieber, wie er's nannt', – am Hunger.

Sie darbte sich vom Mund den Bissen ab,

Für ihre Vier, die stets nach Brode schrie'n.

Der Mann, hätt' er's gemerkt auch, konnt's nicht ändern.

Verdienst ist keiner, Dienst bei Tag und Nacht.

Wenn das noch lange dauert, sprach der Smidt –

Und ein Gesicht dazu, sagt meine Frau,

Ihr war's, wie in ein offnes Grab zu sehn, –

So rudr' ich meine Vier ins Meer hinaus

Und draußen – Gott verzeih' mir meine Sünde! –

Auf Einmal über Bord den ganzen Jammer! –

Sie gab ihm, was sie hatte; viel war's nicht.

Denn wo nimmt's Unsereiner her? Die Stadt

Ist bankerott auf hundert Jahre.

HEINRICH der inzwischen in heftiger Bewegung vor sich hin gesonnen, plötzlich auffahrend.

Schröder,

Ihr seid ein Bürgervorstand. Ich beschwör' Euch

Bei Eid und Pflicht, kommt mit aufs Rathhaus, sagt

Dies Alles, so wie mir, dem Bürgermeister[415]

Den Rath soll er versammeln, daß die Stadt

Einmüthig –

SCHRÖDER ihn unterbrechend.

Freund, kennt Ihr den Bürgermeister?

Den hat der Nettelbeck im Sack, und so

Den ganzen Rath. Soll ich mir's Maul verbrennen?

Wenn Ihr bergab 'nen Wagen rollen seht,

Mit vier tollwüth'gen Hengsten, werdet Ihr

Die Deichsel fassen wollen?

HEINRICH.

Schande, sag' ich,

Daß Jeder steht und fühlt und weiß, was Noth thut,

Und Jeder hinterm Nachbar sich verkriecht!

Wer, wenn die Stadt zusammenhielte, risse

Sie in den Abgrund fort? Jetzt noch sich wehren!

Europa zittert vor dem Allgewalt'gen,

Kaiser und Kön'ge lauschen seinem Wink,

Und wir allein, dies winz'ge Häuflein Narren,

Wir trotzen fort, dem Halbgott, dem der Himmel

Der Herrschaft Stempel auf die Stirn gedrückt!

SCHRÖDER.

Ihr habt nur allzu Recht. Ich war, Ihr wisst's,

Von je dagegen. Da heißt's gleich, man sei

Kein Patriot, man zag' um Hab' und Gut.

Nun, seine Reputation liegt Jedem

Am Herzen.

HEINRICH.

Mehr als Pflicht und Recht und Mitleid

Mit tausendfältigem Elend? Ich – Gott weiß es! –

Nie hing ich am Besitz. Was mein ist, gäb' ich

Mit Freuden hin, könnt' ich die Stadt erretten,

Und selbst der Nächsten Lieb' und gute Meinung,

Ich opfre sie, – gleich jetzt. Ich geh' aufs Rathhaus;

Verlasst Euch drauf, ich schaffe mir Gehör.[416]

SCHRÖDER.

Geht lieber gleich


Auf das Commandantenhaus zeigend.


dort vor die rechte Schmiede,

Wo unser Wohl und Weh geschmiedet wird.

HEINRICH.

Mit Dem hernach, und hoffentlich alsdann

Aus anderm Ton, und hinter mir die Stadt.

SCHRÖDER ihm die Hand reichend.

Wenn Alle dächten so wie Ihr und ich –

HEINRICH.

Vordenken muß man den Gedankenlosen,

Vorsprechen und vorhandeln, und das will ich,

So lang ich Athem habe.

SCHRÖDER.

Lebt denn wohl!

Gott gebe, daß es glückt. Ich muß zum Hafen.


Er entfernt sich nach rechts, Heinrich nach links.


Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke. Band 10, Berlin 1872–1910, S. 414-417.
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