Flock

[432] Täglich steig' ich in stiller Mittagssonne

Nach Gardone di sopra und Morgnaga

Oder höher hinauf den weitgeschwungnen

Bergpfad über die Schluchten bis Fasano.

Mir zur Seite, doch öfter weit voraus mir,

Trabt mein Wandergenoß, mein kleines Hündchen

Flock, ein munterer Spitz. Zwar reiner Rasse

Kann er nicht sich berühmen, doch so manchem

Preishund läuft er den Rang wohl ab an Schönheit

Und an Temperament. Wenn er so hinspringt,

Hoch das Näschen, den Schweif wie eine Fahne

Aufrecht tragend, gespitzt die braunen Öhrchen,

Grüßen ihn die Gardoner Gassenkinder

Schon von weitem, und Flocki! Flocki! rufend,

Suchen schmeichelnd sie ihn heranzulocken.

Doch er windet sich ungerührt und vornehm

An der jungen Verehrerbrut vorüber,

Läßt zuweilen zu kleiner Köter Spielen

Sich leutselig herab und rauft mit großen,

Die ihm neidisch am Hals das rote Schleifchen

Bös zerzausen, worauf aus ehrenvollen

Wunden blutend er heiter mir zurückkehrt,

Ein geschlagener Held, doch ein Charakter.[432]

Manchmal, wenn ich im duft'gen Lorbeerschatten

Müd vom Klettern auf einem Bänklein raste –

Schön ist's droben; die sanften Lüfte fächeln

Rings das silberne Laub der Ölbaumhalden,

Und mit purpurnem Blau durch ihr Gezweige

Schimmert drunten der See – mein Flock ist freilich,

Wie die Hunde gewöhnlich, kein Naturfreund.

Ruhig liegt er im Gras an meiner Seite,

Manchmal schnappend nach einer kleinen Fliege,

Manchmal still mich betrachtend, gleich als fragt' er:

Woran denkst du nur jetzt? 's ist unbegreiflich,

Daß die Menschen beständig denken müssen.

Wir sind klüger. Schon Lessing sagt: wer möchte

Denken, wenn er genießt! Und ich genieße

Meine Ruhe, die wohlverdient, nachdem ich

Heut Lazerten gejagt und ganze sieben

Tot zur Strecke gebracht. (Denn dies ist leider

Eine noble Passion, von der bisher ihn

Zu entwöhnen mir nicht gelang. Es fröhnen

Hohe Herren ja auch des edlen Mordwerks,

Nicht zur Ehre der Menschheit.) Und zur Antwort

Auf die schweigende Frage sag' ich: Flöckchen,

Was ich eben gedacht, hat einem andern

Deiner Brüder gegolten – Schnautz geheißen,

Schnäutzlein nannten wir ihn – der auch vor Zeiten

Mich getreu zu begleiten pflag auf manchem

Bergweg, bis er zuletzt so fett geworden,

Daß nur keuchend er aufwärts kroch. Ich mußt' ihm,

Da ihm irdische Freuden nicht mehr blühten,

Selbst verkürzen die Qual. Doch wie er dalag,

Um das struppige Haut – er war vom Stamm der

Rattenfänger – ein dickes Tuch, getränkt mit

Chloroform: an des Herzens Schlägen sah ich,

Daß schon nahe das Ende. Da auf einmal

Aus dem feuchten Verband hervor sich windend,

Hob der Sterbende auf zu mir sein treues,

Still anklagendes Aug', als wollt' er sagen:

Bessres hofft' ich um dich verdient zu haben,

Als so kläglichen Tod von deinen Händen! –

Ach, er wußte ja nicht: zu seinem Besten[433]

Ihm durchschnitt ich den morschen Lebensfaden,

Der nur quälend die zott'ge Brust umschnürte.

Doch mir folgte noch lang in meine Träume

Dieser scheidende Blick. Nicht wünsch' ich, Flöckchen,

Je dein Auge mit ähnlich stummem Vorwurf

Auf mir ruhen zu sehn. Du bist der Jüngre,

Sollst noch lange, wenn ich dahingeschieden,

Deines Lebens dich freu'n, Lazerten jagend

Und darüber des guten Herrn vergessend,

Rascher, als er dich selbst vergessen würde,

Wenn ihn später als dich Freund Hein besuchte

Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 432-434.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Neue Gedichte und Jugendlieder
L'Arrabbiata Und Gedichte (Dodo Press)
Andrea Delfin. Prosa und Gedichte.

Buchempfehlung

Reuter, Christian

L'Honnête Femme oder Die Ehrliche Frau zu Plißine

L'Honnête Femme oder Die Ehrliche Frau zu Plißine

Nachdem Christian Reuter 1694 von seiner Vermieterin auf die Straße gesetzt wird weil er die Miete nicht bezahlt hat, schreibt er eine Karikatur über den kleinbürgerlichen Lebensstil der Wirtin vom »Göldenen Maulaffen«, die einen Studenten vor die Tür setzt, der seine Miete nicht bezahlt.

40 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon