Servite Domino in laetitia

[422] Sonntag. Die Gassen still und leer.

Kein Laut aus einem Hause dringt,

Nur aus der hohen Kirche klingt

Der Orgel Summen zu mir her.


Und durch die Pforte tret' ich sacht

Und seh' in Dämmrung eingehüllt

Das Volk, das alle Bänke füllt,

Doch Keiner hat des Ketzers Acht.


Männlein und Weiblein hingebückt

Und lautlos betend aus dem Buch,

Die Frau'n im schwarzen Schleiertuch,

Das auch das jüngste Mägdlein schmückt.


Am Ehrenplatz beim Hochaltar

Mein alter Vize-Sindaco.

Da thront er, seiner Würde froh,

Hochaufgesträubt sein schneeweiß Haar.


Die Sindachessa im Gebet

Kniet bei den Ärmsten an der Tür.

Sie hofft, Gott lohnt die Demut ihr;

Wer sich erniedrigt, wird erhöht.


Durch bunte Scheiben glüht herein

Ein warmer Glanz im Chore dort.

Zuweilen tönt ein Priesterwort,

Und kurz nur fällt die Orgel ein.
[422]

Und jetzt das Ite missa est.

Doch rührt noch Keines sich, zu gehn,

Denn auf des Orgelchores Höh'n

Beginnt nun erst das schönste Fest.


Und alle lauschen andachtsvoll

Dem Nachspiel, das so weltlich tönt.

Sie sind's von Jugend auf gewöhnt,

Daß so das Hochamt enden soll.


Was hör' ich? Verdi? Ja, fürwahr,

Aus Traviata, Troubadour.

Von frommen Weisen keine Spur

Im Haus des Herrn, wie sonderbar!


Und wild und wilder jauchzt und stöhnt

Verliebte Lust und Leidenschaft,

Bis mit des ganzen Werkes Kraft

Zuletzt ein flottes Tanzlied tönt,


Im Polkatakt! Doch ringsumher

Nicht Einer hat ein Arg daran.

Gern fingen sie zu tanzen an,

Wenn's in der Kirche Sitte wär'.


Des dumpfen Alltags Not und Leid

Umfängt sie wieder bald genug.

Am Sonntag denken sie mit Fug:

Wir dienen Gott in Fröhlichkeit!

Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 422-423.
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