Letztwillig

[380] Und schließ' ich einst die Augen zu,

Nie wieder aufzuwachen,

So gilt mir's gleich, wo man zur Ruh

Mir wird das Bette machen.


Doch schlüge mein letztes Stündlein hier

An dieser Seeflut Borden,

So wünscht' ich, man erließe mir

Die Brennerfahrt gen Norden.
[380]

Man grübe mir ein stilles Grab

Dort unter den Zypressen,

Wo ich in wonnigen Träumen hab'

So manchesmal gesessen.


Mein Deutschland, immer liebt' ich dich

Vor allen Ländern der Erden,

Doch nach Italien flüchtet' ich

Gar oft, um warm zu werden.


Es heißt, ein armer Toter soll

Manchmal vom Schlaf erstehen,

Neugierig und gedankenvoll

Ein bißchen spuken gehen.


Im Norden sind die Nächte rauh,

Da schlotterten mir die Gebeine.

Hier unten weht die Luft so lau

Nachts im Zypressenhaine.


Da säß' ich nieder in guter Ruh

An meines Sees Gestade

Und hörte dem Rauschen der Wellen zu,

Dem Zirpen der Zikade;


Und grüßt' hinüber, wo dämmrig glänzt

Das Berghaupt schlummertrunken

Des Monte Baldo, die Stirn umkränzt

Von kleinen Sternenfunken.


Italiens Himmel strahlte herab

Ins Tal der Tränen so heiter –

Da schlüg' es Eins. Zurück ins Grab

Schlüpft' ich und schliefe weiter.

Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 380-381.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Neue Gedichte und Jugendlieder
L'Arrabbiata Und Gedichte (Dodo Press)
Andrea Delfin. Prosa und Gedichte.