Resignation

[385] Eine warme Regennacht

Hat am Feigenbaum im Garten

Alle Zweig' in Flor gebracht,

Die noch kahl des Frühlings harrten.


Zu den Blättlein dicht gesellt

Schauen tausend winz'ge Knollen

Putzig in die grüne Welt,

Die zu Früchten reifen sollen.
[385]

Doch die süße Lieblingsfrucht

Soll mir ungenossen bleiben,

Wird mich doch der Tage Flucht

Nur zu bald von hinnen treiben.


So auch an der Menschheit Baum

Seh' ich manche Knospe sprießen,

Und zu hoffen wag' ich kaum,

Ihrer Reife zu genießen.


Los des Alters! Das sei fern,

Drum zu trauern im Gemüte.

Nur noch aufblühn säh' ich gern

Eine junge Menscheublüte,


Jenes vielgeliebte Kind

Mit den strahlend großen Augen,

Die so übermütig sind,

Wie sie wohl zum Hexen taugen.


Gerne kennt' ich noch den Mann,

Der sich zähmt die süße Wilde,

Säh' als Frau und Mutter dann

Selig lächeln meine Thilde.


Ach, auf diesen Lieblingstraum

Kann ich nicht so leicht verzichten,

Wie daß dort der Feigenbaum

Mich noch labt mit seinen Früchten!

Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 385-386.
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