9.

[213] Kommt an mein Herz, kommt nah heran, ihr Lieben!

Im Jammer, welch ein Raub an mir geschehn,

Vergaß ich, welch ein Reichtum mir geblieben.

Laßt nur des Sturmes erste Wut verwehn,

Dann blickt des Himmels ausgeweinte Bläue

Gelassen durch, drin tausend Sterne stehn;

Und man gedenkt der Lebenspflicht aufs neue,

In Grüfte nicht die Seele zu vergraben,

In frevlem Unmaß sehnsuchtsvoller Treue.

Sollt' ich der Pflicht zu lang vergessen haben,

Vergebt mir's! Dieser Schlag war allzu herbe.

Zu herzlich hing mein Herz an diesem Knaben.

Nun sei die Menschheit meines Lieblings Erbe,

Auf daß der Schatz, den ich für ihn gespart,

An Liebeskraft nicht herrenlos verderbe.

Sie meinen, wer sich keiner Himmelfahrt,

Nicht froher Urständ' will getrösten lassen,

Dem müsse trostlos sein die Gegenwart.

Dies bange Erdenzwielicht müss' er hassen,

Das nicht ein Strahl der Hoffnung je verkläre,

Und in Verzweiflung werd' er einst erblassen.

Kommt! Machen wir dem eignen Credo Ehre!

Aufrechten Haupts, nicht trotzig, nicht verzagt,

Liebt, was da lieblich ist, ertragt das Schwere.

O schämt euch nicht, daß ihr in Schmerzen klagt!

Es ächzt der Baum, wenn Ungewitter toben,

Und krümmt den Wipfel, der so hoch geragt.

Dann wieder still von Sonnenglanz umwoben

Trinkt er den Äther, reift der Ernte zu,

Bis ihn die Axt zerspellt zu Scheit und Kloben.

So, Kind der Erde, füge dich auch du

Und neide nicht hoffärt'gen Himmelspächtern

Und Säulenheil'gen ihre dumpfe Ruh.

Wag es, gleich all den atmenden Geschlechtern,

Dein Herz zu hängen an dies kurze Sein,

Die Welt zu lieben trotz den Weltverächtern.[214]

Der Augenblick und dein Gemüt sind dein,

Du Sterblicher; du sollst sie zum Gefäße

Des edelsten, des ew'gen Inhalts weihn.

Was jedem, der zu eigen es besäße,

Das Leben tröstlich macht, das schaff in dir

Und teil es mit, wo jemand sein vergäße.

So hast du Ewigkeit und Himmel hier,

So wirkst du in dir aus die echte Milde,

Die rein von Kälte bleibt, wie von Begier.

Es müssen sich erfreun an deinem Bilde,

Die dürft'ger sind, als du, und alle Schwachen

Beschirmst du treu mit deinem goldnen Schilde.

Laß dann die Stolzen deiner Armut lachen,

Die ihren Schatz im Jenseits angelegt;

Du bist doch reich, um viele reich zu machen.

Du hast ein Herz, das frei und innig schlägt,

Hast deine Sinne, voll dich zu erquicken,

Ein Flügelpaar, das dich zum Lichte trägt,

Und Mut, dem Tod ins Angesicht zu blicken.

Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 213-215.
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