[Warum schweigst du, liebe Seele]

[180] Warum schweigst du, liebe Seele?

Ach, verhehle

Nichts dem Liebsten, nichts dem Freund!

Wenn sich deine Wimpern senken,

Muß ich denken,

Daß dein Aug' um mich geweint. –


»Nicht gepreßt von schwerem Kummer,

Nur in stummer

Bangigkeit erbebt mein Herz.

Wie vor nahenden Gewittern

Muß ich zittern:

Ach, die Freude lockt den Schmerz!


Fühlst du nicht, wie ich sie fühle,

Diese Schwüle?

Fast wie Schuld beklemmt Besitz.

Da noch Herz an Herz wir pressen,

Ach, indessen

Lauert droben schon der Blitz.« –


Laß es lauern, laß es blitzen!

Wir besitzen,

Was kein Schicksal fürder raubt.

Auch sein Ärgstes droht vergebens:

Wir erleben's

Herz an Herzen, Haupt an Haupt.

Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 180-181.
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