Nach Hause
1.

[453] Liebste, da ich heut im Regenzwielicht

Von dir ging, noch unsern Buben herzte,

Und die großen Mädchen sehr verschlafen

Mir zum Abschied Mund und Wange boten,

Dann der Morgenwind mit frost'gem Schauer,

Gar nicht lenzhaft, mein Gesicht umsprühte –

Sinnlos schien ich mir und aberwitzig,

Daß ich fortging, weil der Arzt geraten,

Alten Gram in neuer Luft zu heilen.

Der Gesundheit, ach, des Friedens Quelle,

Fließt sie einzig nicht im Bann des Hauses?

Auch der schönsten Ferne fremdes Treiben,

Farbenbunt geschäftig Weltgewimmel –

Was dem wunden Herzen kann es bieten,

Das ihm besser nicht daheim erblühte?

Und so drückt' ich, trutzend und verdrossen,

Fest mich in den dumpfen Fensterwinkel,

Scheinbar schlafend. Doch den Schein benutzte

Ein vergnüglich Flitterwochenpärchen,

Das der Kellner im Hotel vermutlich

Allzufrüh geweckt aus Liebesträumen.

Denn sie hatten viel geheime Dinge

Sich ins Ohr zu flüstern, sich die Hände

Zu zerdrücken, und im Tunnel vollends

Hört' ich's wie verstohlne Küsse zwitschern.

Ich zwar, über solche Menschlichkeiten

Milde denkend, drückte gern ein Auge

Drüber zu, und blinzelnd mit dem andern

Sah ich in die glimmende Morgenröte.

Doch mein Zartsinn half nicht lang. Ein zweites[453]

Pärchen stieg mit Kind und Kinderwärtrin

Zu uns ein, die Frucht der Honigwochen

Zappelnd auf dem Schoß, und nicht zum Kosen,

Nicht mehr aufgelegt zum Händedrücken,

Da das Äffchen steter Wartung brauchte.

Es dem guten Großpapa zu zeigen,

Willig litten sie die Reiseplage,

Mit unendlichem Gerät beladen,

Fläschchen, Töpfchen, Klapper, Müschenpfanne,

Übersorglich stets, doch überselig,

Weil der goldne Liebling sehr manierlich

Sich betrug und jedermann ihn lobte.

Wieder Halt, und neue Menschen. Trällernd

Steigt ein muntrer junger Mann, in flottem

Großkarriertem Anzug, in den Wagen,

Bald mit seinem ältern Gegenüber

In Gespräch vertieft und rascher Freundschaft.

Beide handelten mit gemischten Waren,

Und nachdem der Jüngre stolz berichtet,

Heut in Koburg harre sein das Bräutchen,

Da er morgen dort die Hochzeit feire,

(Seligmann und Löwes einz'ge Tochter)

Fand er Muße, einen Zentner echten

Schweizerkäse – unter zweiundzwanzig

Gulden könn' er ihn bei Gott! nicht lassen –

Zu verhandeln. – Doch im Winkel nickte

Eine alte Judenfrau aus Bamberg,

Neben ihr ein Enkelkind. Der Frühling

Hatte sie verlockt zum großen Wagnis,

Ihren Sohn in Kulmbach heimzusuchen

Auf der Bahn. Die weißen Haubenbänder

Glänzten spukhaft über der schwarzen Haartour,

Und sie nickt' und murmelte und horchte

Zwischendurch auch nach dem Käsehandel.

Leben! dacht' ich. Alle diese leben,

Freuen sich des Tags und seiner Lasten,

Seiner Lieb' und Lust. Warum, ihr Götter,

Schuft ihr mir ins Herz dies Ungenügen,

Das im Schoß so reichen Guts nur immer

Des Verlornen denkt![454]

Und selben Abend

Stieg ich, angelangt im schönen Koburg,

Das so reinlich wie ein frischlackiertes

Teebrett mit geblümten Meißner Tassen

Zwischen Hügeln liegt, hinauf zur Feste.

Faulbaum, Flieder, Apfelbäume blühten,

Amseln sangen, und geputzte Menschen

Gingen satt und selig durch die stillen

Parkgebüsche. Doch, als aus den leichten

Regenwolken, die der Westwind jagte,

Einzle Strahlen äugelten – gewissen

Liebesblicken gleich, die in Italien

Man Occhiaten nennt – da sprach ich also:

Ja, dies Leben – viel ist nicht dahinter.

Aber daß der Mensch das abgespielte

Bürgerliche Rührstück stets von neuem

Sich gefallen läßt, hat seine Gründe.

Erstlich: die Kulissen sind bezaubernd.

Berg' und Auen, Sonn' und Maienblüte,

Dann der Vogelbrut und Kinderstimmen

Helle Symphonie – sie täuschen drüber,

Daß die Handlung platt, das Ende kläglich

Und der Autor, ob man nun ihn loben

Oder meistern mag, sich hüllt in Dunkel.

Zweitens: Niemand hat bis jetzt ein andres

Mittel noch entdeckt, der Liebeswunder

Eines Menschenherzens, auch in Trübsal,

Auch an Gräbern sich bewußt zu werden,

Als: es mit dem Leben frisch zu wagen.

Und so laß auch uns, Geliebte, leben,

Eins im andern, gut' und böse Tage

Und auch diese Trennungsnöte segnen,

Da sie unsrer Herzen, der untrennbar

Eins gewordnen, fester uns versichern.


2.

Sehr nachdenklich meinen Tag begann ich.

Nach der Wartburg, unter mißgelauntem,

Weinerlichem Himmel, dem zuweilen

Tropft' ein Tränlein aus der Wolkenwimper,[455]

Schritt ich aufwärts durch die Frühlingswälder,

Dachte, wie vor fünfundzwanzig Jahren

Singend ich denselben Weg gewandelt,

Wieviel Wasser wohl seitdem zum Meere,

Wieviel Blut vom Herzen mir geflossen,

Wie – mit einem Wort – ich alt geworden.

Könnt' ich heut nicht meine Silberhochzeit

Feiern mit der alten Lutherfeste?

Sie zwar hat sich sehr verjüngt. Der Neubau

Mit den Fresken Meister Schwinds – die gute,

Dicke, kluge, feine Märchenseele

Schläft nun auch schon ihren letzten Schlummer –

Dann das reinlich aufgeräumte traute

Lutherstübchen – der berühmte Teufels-

Tintenfleck erst kürzlich frisch gefirnißt –,

In dem Kasten auf dem Tisch, an dem die

Bibel übersetzt ward, eine Sammlung

Photographischer Karten (auch Fritz Reuters

Eisenacher Villa) – Neuerungen,

Die mich seltsam mahnten, wie die liebe

Zeit vergeht und wir mit ihr, und wenig

Nur besteht, vom Guten kaum das Beste.

Und nachdenklich nach dem neuerbauten,

Gotisch aufgeputzten kleinen Wirtshaus

Ging ich, meiner Silberhochzeitsstimmung

Einsam auf dem Söller nachzuhängen.

Zart im Duft verschleiert lag die Landschaft,

Und erblauend überm Tannendunkel

Sah das kahle Rhöngebirg herüber.

Aber neben mir im Schenkenstübchen

Lärmt' ein Kleeblatt Eisenacher Schüler,

Rauchend, Karten spielend und die Schenkin

Mit vorzeitigen Studentenwitzen

Um die Hüfte fassend.


Süße Jugend!

Dacht' ich. Hast auch du vielleicht vorzeiten

Hier dich aufgeführt im gleichem Stile,

So den Genius des Orts verleugnend?

Nein, wie sehr du warst ein grüner Junge,[456]

Voller Schulwitz noch und Schülerpossen –

Erste Liebe schwellte dir die Seele,

Vor dir lag die Welt in Märchensonne,

Scheu verstummtest du vor großen Namen.

Und das Spiel des Lebens, das du wagtest,

Nicht um Pfennige ging's. –


Da trat die Sonne

Durchs Gewölk. Noch immer sehr nachdenklich

Brach ich auf und wandte mich zu Tale,

Kühle, liebliche Pfade, nach dem tiefen

Anna-Tal, wo in der feuchten Felswand

Riesengroß ein A den Wandrer anblickt.

Plötzlich fiel mir ein, wie sinnig-seltsam

Mein Geschick gespielt mit teuren Namen:

Damals, meiner ersten Liebe denkend,

Rief ich Annas Namen in die Talschlucht,

Wie ich heut, der letzten Liebe denkend,

Mit dem gleichen Ruf das Echo weckte!

Und nun rastet' ich im feuchten Grunde,

Während über mir die Mittagssonne

Brütend schlich und hier mich nicht versengte.

Kühl und stille war's umher. Es brannte

Nur die Flamme mir im Busen, hoch und

Höher lodernd. Himmel, ist es möglich?

Hat sie herrlicher entlodern können

Damals mir, vor fünfundzwanzig Jahren?

Und so wär' ich doch nicht alt geworden,

Wäre doch noch lieb- und jugendfroher,

Als die Herrlein in der Schenke droben,

Die mit Kartenspiel im schönsten Frühling

Ihren Festtag heiligen und beim Dünnbier

Helena in jeder Schürze finden,

Während ich, empfindsam wie ein Schüler,

Hier im Schatten sitz' und ein Gewimmel

Holder Liebesgötter sich herandrängt?

So nachdenklich meinen Tag begann ich,

Und nun, da ich diesen Brief geschrieben,

Lacht so fröhlich mir das Herz im Leibe,

Wie mir's nur gelacht in jüngster Jugend.

Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 453-457.
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