Resignation

[264] Ich hab' es nur zu spät als Wahn erkannt,

Daß Brüder ich in allen Menschen fand.

Wohl zeigte mir ihr Antlitz selten nur

Von meines Vaters Bild die fernste Spur.

Sie starrten mich als einen Irren an,

Sprach ich die Muttersprache dann und wann,

Und was an Gab' und Gütern dankeswert

Geist und Natur zum Erbteil mir beschert,

Wenn brüderlich davon ich andern gab,

Mit Achselzucken wandten sie sich ab,

Daß eine Trauer staunend mich beschlich,

Und weil ich jung war, weint' ich bitterlich.


Nun aber ward ich alt und still und klug

Und weiß, wie selten der Familienzug,

Wie mit des Vaters Adel, Mild' und Macht

Ein Hirsch, ein Vogel reichlicher bedacht,

Und von der Mutter Schönheit, Füll' und Art

Ein Blatt, ein Blumenkelch mehr offenbart,

Als eine Larve weiß und rot geschminkt,

Die sich ein Ebenbild des Höchsten dünkt.

Seitdem wie unter Fremden geh' ich stumm

In dieser buntgemischten Welt herum.

Doch wo ein echter Bruderblick mir glänzt,

Ein Schwesterohr mein stammelnd Wort ergänzt

Und zu den Meinen mich geführt mein Sehnen,

Umflort sich auch mein Blick, doch süß sind diese Tränen.

Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 264.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Neue Gedichte und Jugendlieder
L'Arrabbiata Und Gedichte (Dodo Press)
Andrea Delfin. Prosa und Gedichte.