Nächstenliebe

[308] Nach Sapo di Sorrento wollt' ich heut.

Die Straße geht bergan, dazu die Glut

Des frühen Sommers. Langsam schritt ich fort

Und trocknet' häufig an der Stirn den Schweiß.

Wer jetzt ein Wäglein hätt'!

Da, hinter mir,

Wie durch ein Zauberwort herangelockt,

Trapp! trapp! ein Hufgeklapper, ein Geräusch

Von Rädern, atemlos in toller Fahrt.

Denn ohne Pause ließ vom Kutschenbock

Der Wagenlenker auf sein armes Roß[308]

Die Peitsche niedersausen. Presto! Ho!

Carogna!

Nur ein magrer Klepper war's,

Dem man die Rippen zählen konnt' im Fell,

Krummbeinig, Geifer um das offne Maul,

Und keuchend schwer den steilen Berg hinan.

Im Wagen aber saß zurückgelehnt

Ein dicker Priester – nein, ein Pfaffe nur,

Und blinzelt' mit den muntren Äuglein sehr

Vergnügt umher ob seiner raschen Fahrt.

Mir schwoll das Herz vor Grimm. Ich stand und rief

Dem Burschen zu: Wahnsinniger! Siehst du nicht,

Daß deinem Gaul die Zunge lechzend schon

Zum Hals heraushängt, und du schlägst ihn noch?

Erbarmt dich nicht der stummen Kreatur?


Doch er, die Zähne fletschend mir zum Hohn:

Was wollt Ihr, Herr? 's ist ein Bestie nur.

Non ha un' anima, non è cristiano!

Bestie du selbst! – Und zu dem Priester – nein,

Dem Pfaffen, hilfeflehend blickt' ich hin.

Der aber zuckte nur die Achseln, schob

Die Unterlippe vor und wiegte lachend

Den Kopf, als wollt' er sagen: Nehmt es nicht

So tragisch! Denn fürwahr, der Bursch hat recht.

Avanti, Beppo!

Und vorüber fliegt

Das edle Paar. Ich stehe tief empört

Und kummervoll. Wie? Keine Seele hätt's?

Jawohl, so niedrig keine, wie du selbst!

Und wär' kein Christ? So einer nicht, wie Ihr,

Hochwürd'ger Herr! Doch wenn am jüngsten Tag

Die Wiederbringung aller Ding erfolgt

Und dieses arme Pferdchen neben Euch

Vor unser aller Richter steht, mich dünkt,

Der milde Jesus wird mit düstrer Stirn

Zu Euch sich wenden: Hier im Himmel ist

Kein Platz für die, so kalt und heuchlerisch

Sich meines heiligen Namens angemaßt.

Lehrt' ich Euch nicht, daß der Gerechte sich[309]

Auch seines Viehs erbarmt? Und sollt Ihr nicht

Die Wesen alle, die mein Vater schuf,

Als Eure Nächsten lieben? Heb dich weg!

Du aber, Rößlein, ob du auch kein Christ,

Du bleibst in meinem Himmel, sollst fortan

Aus goldner Krippe speisen saft'ges Heu

Und Weizenfrucht. Und daß im Müßiggang

Du nicht zu fett wirst, sollst auf grüner Flur

Die Engelsbübchen auf dir reiten lassen,

Wie's ihre höchste Lust auf Erden war,

Und war's auch damals nur auf Steckenpferdchen.

Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 308-310.
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