Liebe zwischen Graf Balduin und Judithen, König Carls in Franckreich Tochter

[47] Balduin, sonst Eisern Arm genennet, Graf oder nach der Alten Arth, Forstmeister in Flandern, war nicht allein wegen seiner Leibesgestalt, sondern auch wegen seiner Fürtreffligkeit in[47] Rittermässigen Ubungen, einer von den Berühmtesten seiner Zeiten. König Carl in Franckreich, ingemein der kahle geheissen, wie auch sein Sohn Ludovic, bedienten sich gedachten Heldens Tapfferkeit, in dem Krieg gegen die Nordmänner; und die Saracenen erfuhren, daß er nicht minder wieder Auß- als Inländische Glück hätte. Bey dieser Gelegenheit konte er sich der Liebe nicht erwehren, wiewohl er seiner angebohrnen Hohheit nach, Augen und Hertz allezeit nach dem Purpur wendete, und ihm die Königs Farbe der brennenden Liebe am meisten gefallen lies. Die gröste Meisterin seiner Seelen war Judith, hochgedachten Königs Carls Tochter. Er liebete sie als Fräulein in ihres Vatern Hofe, wiewol in höchster Behutsamkeit, konte aber ihrer nicht eher theilhafftig werden, biß Adolph König in Engelland sie zu einer Frau, und der Tod ihres Gemahls sie zu einer Wittib gemacht hatte: Da denn die alten Funcken, bey Balduin wieder herfür brachen. Wie er nun sein Anliegen schriftlich erfrischet, also erkühnte er sich diese verwittibte inbrünstig zuersuchen, sich mit ehester Gelegenheit nach ihres Vatern Reich zumachen, da er dann, dafern es ihr nicht gäntzlich entgegen, Sie zuentführen sich entschlossen. Judith beantwortet seine Gedancken ziemlich kaltsinnig, redet von ungleichen Regungen Balduins und aller Männer, entschuldiget sich daß sie ihm als ihrem alten Freunde besonders in diesem Wittben Stande, nicht mit mehrer Höfligkeit entgegen gehen könte, und gibt, wiewohl in etwas tunckeler Arth zuschreiben, genugsam zuerraten, daß sie ihm, und seinem Vornehmen nicht gäntzlich zu wiederstreben gesonnen, massen dann sie sich auch bald darauf nach Franckreich aufmacht, und ohne grossen Wiederstandt entführet, und Balduin vermählet worden ist.


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band36, Stuttgart [o.J.], S. 47-48.
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