Fünfter Akt


Ein Vorsaal im Schloß, rechts ein eisernes Gitter, mit einer Tür darin gegen einen äußeren Vorraum. Links zwei Türen. Es ist Nacht, nahe am Morgen. An der linken Wand, unweit der hinteren Tür, ist ein niedriges Nachtlager.


ANTON angekleidet, kauert auf dem Lager; erhebt sich dann, geht ans Gitter, spät hindurch. Herr Offizier! – Sind Sie da? Niemand da? Gar niemand da? Holt sich ein Feuerzeug, zündet ein Licht an, leuchtet durchs Gitter. Wo sind die Garden? Wo ist der Posten? Herr Doktor! Mir ist entrisch! Geht an die vordere Tür links. Hören mich der Herr Doktor?

ARZT tritt heraus. Was ist, Anton?

ANTON. Kein Wachtposten mehr da – niemand. Was ist denn das, Herr Doktor?

ARZT. Schläft der König?


Horcht an der rückwärtigen Tür.


ANTON im Hintergrund am Fenster. Unten laufen welche mit Laternen. Sie bringen wen! Sehr entrisch ist mir.

JULIANS REITKNECHT erscheint am Gitter. Unglück! Der Herr ist hin!

ARZT läuft zu ihm. Ruhig, nicht schreien – der König schläft.

REITKNECHT. Heruntergeschossen vom Pferd. Gestochen auf den Liegenden mit Piken. Sie bringen ihn.

ANTON. Wer bringt ihn?

REITKNECHT. Unsrige. Aber Unsrige nicht allein. Auch solche Bloßköpfige, Bloßfüßige.


Sigismund tritt leise aus seiner Tür, sie bemerken ihn nicht.


ANTON. Jetzt gehts ans Leben. Jesus Maria und Josef!


Arzt ab durch die Tür im Gitter mit dem Reitknecht.


SIGISMUND. Was beißt sich der Anton in die Fäust?

ANTON. Verstecken sich! Sie schießen auf alles was herrisch ist.

SIGISMUND tritt ruhig ans Fenster, sieht hinab.

ANTON trippelt vor Angst. Wenn das alles nicht so schnell ging'! Zwanzig Jahr ist alles recht langsam gegangen!


Menschen nähern sich rechts außerhalb des Gitters. Fackelschein.


ANTON. Jetzt kommts: die Hand an die Gurgel, das Knie auf die Brust! – Wie bin ich denn in das vermaledeite Land hineingekommen? Ich kann mich auf gar nichts mehr besinnen!

STIMMEN sehr nahe. Sigismund! Sigismund!

ANTON. Jetzt brüllen die Höllenteufel Ihren Namen! Verstecken sich doch um alles in der Welt, verstecken sich drin!

SIGISMUND. Hier bin ich. Geh ihnen entgegen, weise auf mich und schrei laut: Hier steht er, den ihr sucht. Dann werden sie dir nichts tun.


Der Arzt, der Reitknecht und Anton bringen Julian getragen. Er hat die Augen geschlossen und sieht aus wie ein Toter. Zugleich betreten den Raum Aufrührer, teils bewaffnet, teils unbewaffnet. Darunter sind etliche mit strengen Gesichtern und langem Haar, die Fackeln in den Händen tragen; etliche halbnackt und noch mit abgerissenen Ketten an den Füßen und Eisen um den Hals. Die meisten von ihnen bleiben außerhalb und sehen durch das Eisengitter herein. Man legt Julian auf das niedrige Bett, von dem früher Anton aufgestanden ist.


DER VORDERE. Sehet her, nackigte Brüder! erstgeborene Söhne Adams! Sehet: der Königssohn unter der Erde, mit Ketten geschmiedet an das fließende Gewölb! Dieser ist es!

EIN STELZBEINIGER drängt sich vor. Dieser ist der Armeleute-König, und sie werden vor ihm das Schwert und die Waage tragen.


Sigismund sieht, ohne sich zu regen, auf Julian.


ANTON leise zum Arzt. Muß unser Herr sterben?

EINER. Sprich zu uns!

EIN ANDERER. Rufet ihn bei seinem Namen!

EIN DRITTER. Die ihn beim Namen genannt haben, denen ist die Zunge stumm geworden.

JULIAN schlägt die Augen auf, erhebt den Oberleib und blickt um sich. Zwei mit Fackeln stehen nahe seinem Bette. Wo bin ich? Er sieht im Kreise um sich, mühsam. Du – Gesicht einer Ratte! Du Schweinsstirn mit nach oben schielenden Augen! Du Schnauze eines Hundes! Klumpen ihr, wandelnde! Beim Licht dieser Fackel, ich will über euch lachen, ohne daß ihr mich kitzelt! Er hebt sich ganz auf. Tut eure Spieße fort! Sie geben Raum. Ha, du Nichts mit tausend Köpfen, steh unter meinem Blick. – Solange ich dich mit den Augen bändige, werde ich das Gefühl meines Selbst nicht entbehren!

EINER MIT EINER FACKEL. Die Herde hat keinen Hirten. Die aber Stäbe und Schwerter in den Händen haben, sind Teufel. An denen vollziehen wir das Gericht. So bist du gerichtet.

JULIAN. Du hast mich gerichtet? Du Kehricht, das ich allein zusammengekehrt habe!

SIGISMUND tritt einen Schritt näher zu Julian. Mein Lehrer, warum sprichst du zu ihnen? Was zu sagen der Mühe wert wäre, dazu ist die Zunge zu dick.

JULIAN wendet sich ihm zu. Bist du auch da, mein Geschöpf? – Er ist, wie er dasteht, mein Werk und erbärmlich.

DER MIT DER FACKEL. Wir sind die Lichtträger, die Wiedertäufer im Feuer. Du bist unser Licht, und jetzt werden wir den Fürsten der Finsternis mit unsern bloßen Händen erwürgen.

EINER IN LUMPEN. Wir sind bei dir! uns sprich zu, du unser König!

SIGISMUND näher bei Julian. Mein Lehrer, ich bin bei dir.

JULIAN. Kehre dich ab von mir, du Kloß aus Lehm, dem ich das unrechte Wort unter die Zunge gelegt habe. Ich will dich nicht sehen.

SIGISMUND. Du hast mir das rechte Wort unter die Zunge gelegt, das Wort des Trostes in der Öde dieses Lebens – und ich gebe es dir zurück in dieser Stunde.

JULIAN legt sich wieder; er schließt die Augen.

SIGISMUND. Ich lächle dir zu in deine Einsamkeit. – Dein Gebet ist nicht ohne Kraft, wenn du auch die Fäuste ballst, anstatt die Hände zu falten.

JULIAN öffnet die Augen und schließt sie wieder. Ich habe das Unterste nach oben gebracht. Aber es hat nichts gefruchtet.

SIGISMUND. Du quälst dich, daß eine Ader in dir aufgehe, von der du trinken könntest. In mir aber fließt es ohne Stocken, und das ist dein Werk.

JULIAN öffnet noch einmal die Augen, als wolle er reden, schließt sie dann und sinkt hin mit dem einen Wort. Nichts!

SIGISMUND blickt ihn an. Er ist tot.

DEK MIT DER FACKEL. Achte nicht auf den Toten; denn du wirst ewig bei uns bleiben.

EIN GREIS drängt sich vor. Sehet ihn an, unseren König, wie er dasteht. Wie im lebendigen Flußwasser gebadet, so glänzt er von oben bis unten.

EINER. Sprich zu uns!

EIN ANDERER. Weckt ihn nicht auf. Wenn er schreien wollte, würde uns allen die Seele bersten wie ein Sack.

EIN FAST NACKENDER mit einer Kette am Fuß. Wir kennen dich wohl. Du bist an uns vorbeigeführt worden, du Lamm Gottes, und jeden einzelnen von uns hast du gegrüßt mit deinen ersterbenden Augen!


Er bückt sich und küßt Sigismunds Kleid.


EIN ANDERER. Bleibe bei uns! harre aus bei uns!

SIGISMUND halblaut, wie für sich. Ja, ich werde mit euch hinausgehen.

EINER. Er spricht zu uns. Er sagt, er wird mit uns hinausgehen.

EIN ANDERER niederknieend. Daß wir nicht sterben, o Herr!

EINER. Machet eine Gasse, damit alle, die draußen stehen, ihn sehen können.

SIGISMUND. Ich spüre ein weites offenes Land. Es riecht nach Erde und Salz. Dort werde ich hingehen.

EINER. Wir wollen einen Wagen rüsten und zwölf Paar Ochsen vorspannen. Auf dem sollst du vor uns herfahren, und eine Glocke soll läuten auf deinem Wagen, als wärest du eine Kirche auf Rädern.

STIMMEN drinnen und draußen. Bleib bei uns! harre aus bei uns!

EINER VON DEN NACKENDEN mit einem Eisen um den Hals. Wir sind unbekleidet – aber dürfen wir bekleiden? Will unser König gestatten, daß wir ihn bekleiden mit einem goldenen Gewand?

EIN ANDERER. Wir haben es genommen vom Altar weg und wollen es mit Ehrerbietung dir umhängen.

SIGISMUND betrachtet die Nackenden. Das sind unverzierte Menschen. Wir wollen im Freien miteinander wohnen, die in Häusern wohnen gefallen mir nicht.

DER EINE MIT DER FACKEL. Darum werden wir von den Kirchen keinen Stein auf dem andern lassen: denn Gott versteckt sich nicht in einem Haus.

EINIGE. Laß uns dich aufheben und hinaustragen, damit alle dich sehen.

ANDERE weiter hinten. Herr, schütze uns! Harre aus bei uns! Sie seufzen.


Ein scharfer Trommelwirbel außen, ziemlich nahe.

Sigismund erschrickt.


DER MIT DER FACKEL. Fürchte dich nicht, denn du bist eine Fackel, und niemand kann dich auslöschen.

SIGISMUND. Wer ist das, der jetzt zu mir hereinwill? Ich höre seinen Schritt auf der Treppe.

EIN ANDERER VON DEN FACKELTRÄGERN. Die Haare auf deinem Haupt sind gezählt, und es ist keiner, der gegen dich die Hand erhöbe.

SIGISMUND sehr angstvoll. Wer sind denn aber die, die jetzt hereintreten?

DER EINE NACKENDE. Das sind die ohne Namen, die bis nun über uns den Befehl geführt haben. Dich aber setzen wir über sie. So komm auf unsere Schultern und sprich zu ihnen von oben.

SIGISMUND. Nein, jetzt tritt einer herein, dem muß ich mich stellen.


Ein kurzer Trommelwirbel außen.

Olivier tritt herein, ganz in Eisen und Leder, Pistolen im Gürtel, einen Sturmhelm auf, eine kurze eiserne Keule in der Hand. Hinter ihm Jeronim, der Schreiber, und der Lette Indrik, diese auch mit kurzen Piken bewaffnet.

Das Volk gibt Raum.

Olivier tritt auf Sigismund zu, betrachtet ihn.


EINER. Das ist der Erwählte! Er soll auf einem Glockenwagen vor uns fahren.

EIN ANDERER. Alles, was geschehen ist, ist um seinetwillen geschehen.

EIN DRITTER. Vor seinen Füßen werden sich alle küssen, und der Wolf wird das Lamm umarmen. Darum muß er auf einem Wagen vor uns herfahren.

OLIVIER. Gut. Es wird so angeordnet werden. Er gewahrt den toten Julian, tritt hin, das Volk gibt Raum. Ich kenne ihn. Er war dein Kerkermeister. Er hat dich gehalten, ärger wie einen Hund, und jetzt ist ihm vergolten.

SIGISMUND. Du bist irre. Er hat mich nicht gehalten wie ihm befohlen war, sondern er hat mich gehalten, wie er ausgesonnen hatte in der Erfüllung seines geistigen Werkes.

OLIVIER. Schafft den toten Jesuiten hinaus.

SIGISMUND. Nein, tragt ihn da hinein und leget ihn auf mein Bette.


Einige heben Julian auf und tragen ihn ins Nebenzimmer.


DER MIT DER FACKEL zu Sigismund tretend. Wir sind immer bei dir! Wir bleiben rings um dies Haus und achten auf deinen Ruf.

OLIVIER. Vorwärts, gebt Luft hier.

EIN ZWEITER MIT EINER FACKEL gegen Olivier gewendet. Wir kennen keine Obrigkeit! Wollt ihr ohne Namen euch aufwerfen – so wird man euch richten.

OLIVIER. Irrtum! Es ist keine Obrigkeit – aber es sind die, denen ihr auferlegt habt, zu sorgen, daß getan werde, was getan werden muß. – Lasset mich jetzt allein mit diesem Menschen.


Aron, Jeronim und Indrik halten ihre Piken quer und drängen das Volk aus dem Saal. Trommelwirbel draußen. Das Volk weicht lautlos zurück, alle mit den Augen auf Sigismund.


SIGISMUND deutet auf Anton. Der soll bei mir bleiben. Anton, mich dürstet. Bring mir zu trinken, Anton.


Arzt weicht als einer der letzten aus dem Zimmer, aber nicht mit den übrigen, sondern allein zur Tür rechts vorn.

Anton stellt einen Kerzenleuchter auf den Tisch.


OLIVIER halblaut zu seinen drei Begleitern. Ihr bleibt in Rufweite, meine Adjutanten, alle drei. Zu Aron noch leiser. Diese Brandstifter mit den Fackeln absondern im Hof. Mit verläßlichen Leuten umgeben, ohne Aufsehen.

ARON, JERONIM UND INDRIK treten ab.

OLIVIER. Ich habe mit dir zu reden, und du wirst mir Antwort geben.

SIGISMUND sieht ihn an, sieht wieder weg.

OLIVIER. Weißt du, vor wem du stehst?

SIGISMUND schweigt.

OLIVIER. Wir sind deine Helfer. Wir haben dich unter dem Beil hervorgerissen, als es schon durch die Luft sauste.

SIGISMUND. Ja, sie hatten meinen Kopf schon anderswo hingelegt. Dadurch, wie wenn einer einen eisernen Finger unter den Türangel steckt, haben sie vor mir eine Tür ausgehoben, und ich bin hinter eine Wand getreten, von wo ich alles höre, was ihr redet, aber ihr könnt nicht zu mir, und ich bin sicher vor euren Händen. Er setzt sich. Anton, schau hinaus, wo sind denn jetzt die, mit denen ich Freundschaft geschlossen habe? Ist der Doktor auch bei ihnen?

ANTON. Achten lieber auf den Herrn da, der hat jetzt viel zu sagen.

OLIVIER. Sigismund! Es ist an dem, daß du entschädigt wirst für das was du ausgestanden hast. Du sollst ein großes Amt bekommen.

ANTON leise. Bedanken sich!

OLIVIER. Du wirst, wenn wir jetzt marschieren, auf einem Wagen fahren, und sie werden zu Tausenden herbeikommen und Heil rufen über dir, daß du deinen Vater vom Thron gejagt hast. Auf diese Weise wird das sprachlose Volk von uns durch eine Bilderschrift unterrichtet werden, und die Herren werden kopfunter in die Erde fahren. Dir aber wird wohl sein, statt aus einem irdenen Krug wirst du aus silbernen Humpen saufen, und Weiber werden dich in die Badstube führen und dir zu Diensten sein.

SIGISMUND zu Anton. Alle, die mir freund sind, sollen beisammen bleiben und mich abholen.

ANTON. Achten auf den Herrn, der vermag viel!

OLIVIER. Gibst du mir keine Antwort? Du hast es hinter den Ohren, Sohn des Basilius. Du witterst: jetzt muß Macht geübt werden, also willst du Macht und nicht Schein. Recht hast du! Die Klugen werden wir zu uns ziehen, auf den Dummen aber werden wir reiten. Also komm, und man wird sehen, wozu du verwendbar bist unter denen, die anordnen.

SIGISMUND mit Verachtung. Wer ist das, der dir Macht gegeben hat, daß du sie unter andere austeilst?

OLIVIER. Siehst du dieses eiserne Ding da in meiner Hand? So wie dies in meiner Hand ist und schlägt, so bin ich selbst in der Hand der Fatalität. Das, was jetzt vor dir steht, das hast du noch nicht gekannt. Was du bis jetzt gekannt hast, waren jesuitische Praktiken und Hokuspokus. Was aber jetzt dasteht, das ist die Wirklichkeit.

SIGISMUND. Ich verstehe dich gut. Ich weiß, das Jetzt und Hier legt viele an die Kette. Aber mich nicht, denn ich bin da und nicht da. Also hast du mir nicht zu gebieten.

OLIVIER. Dazu habe ich dich und deinesgleichen, damit ich euch auferlege, wozu ich euch brauchen will.

SIGISMUND. Du hast mich nicht. Denn ich bin für mich. Du siehst mich nicht einmal: denn du vermagst nicht zu schauen, weil deine Augen vermauert sind mit dem was nicht ist.

OLIVIER. Das ist alles was du mir zu erwidern hast? Epileptische Kreatur, siehst du nicht, wer vor dir steht?

SIGISMUND. Ich sehe, du hast einen Stiernacken und die Augen eines Hundes. Also taugst du gut zu dem Geschäft, das dir aufgegeben ist.

OLIVIER. Das ist alles?


Anton faltet in Angst die Hände.


SIGISMUND. Solche, wie du bist, habe ich in meinem Kofen schon immer um mich sitzen gehabt.


Er steht auf, kehrt Olivier den Rücken und geht langsam bei der Tür links rückwärts hinaus, Anton folgt ihm.


OLIVIER schüttelt den Kopf dreimal mit furchtbarer Drohung. Es ist genug. Es ist genug. Es ist genug. – Herein, meine Adjutanten, alle drei!

ARON, JERONIM UND INDRIK treten ein.

OLIVIER. Der Basilius ist abgetan?

JERONIM. Abgetan. Mit dem Glockenschlag sieben. An einer Kellerwand, einen Sack übern Kopf, und gleich dort vergraben.

OLIVIER. Allmählich die Höfe räumen. Er sieht auf seine Taschenuhr. Um neun Uhr haben sie geräumt zu sein. Die äußeren Tore bleiben angelehnt, Geschütz dahinter, mit Kartätschen geladen. – Bis dahin aber – Er tritt ans Fenster. drei ausgewählte Scharfschützen dort drüben. Sie sollen die Fenster hier im Auge haben. Dies sofort.

JERONIM ab.

OLIVIER. Schaut dort hinein. Was seht ihr?

ARON leise. Den Sigismund, den Basiliussohn. Er steht beim Bett und bückt sich über den, der darin liegt.

OLIVIER. Prägt euch sein Gesicht ein. Notiert euch im Kopf die Maße, wie er gebaut ist, die Haarfarbe, alles.

ARON. Auf dem flachen Land geht sein Bild um, ein schlechter Kupferstich, und sie zünden Kerzen davor an wie vor einem Heiligenbild.

OLIVIER. Ebendarum. Ich brauche einen Kerl, ähnlich ihm zum Verwechseln und der mir pariert wie der Handschuh an meiner Hand.

ARON. Was brauchst du noch eine Konterfei, wenn du ihn selber hast?

OLIVIER. Er selber ist nicht verwendbar. – Wir gehen. Den drei Scharfschützen werde ich persönlich Instruktion geben, Geht.


Aron und Indrik treten ab.

Arzt öffnet leise die kleine Tür links vorne, kommt schnell herein.


OLIVIER sieht ihn, richtet seine Pistole auf ihn. Wer da?

ARZT hebt die Hände. Gebe der Herr mir eine Minute Gehör! Ich bin der Arzt des Königs.

OLIVIER. Der Mensch Sigismund ist bis jetzt nicht krank. Meint Ihr, er bedarf demnächst eines Arztes? Seid Ihr ein Wahrsager? – Ich weiß von Euch. An anderer Stelle wird man Verwendung für Euch haben. Meldet Euch beim Stadtkommando. Saget, ich habe Euch geschickt.

ARZT. Ich bin hier an meinem Platz. Ich habe alles gehört, was Sie geredet haben. Faltet die Hände. Ahnen Sie, wen Sie töten wollen! Herr! Herr!

OLIVIER. Gebärdet Euch nicht. Die Pfaffen- und Komödiantensprache ist abgeschafft. Es ist ein nüchterner Tag über der Welt angebrochen.

ARZT. Ahnt Ihnen nicht, vor wem Sie gestanden sind? Ist Ihnen kein Organ gegeben für die Hoheit dieses Wesens?

OLIVIER. Der Mensch da ist soeben vor seinem Richter gestanden. Das ist die nüchterne Tatsache.

ARZT. Wer ist der Richter über die Reinheit? Wo hat die Unschuld ihren Richter?

OLIVIER. Ich habe gemeint, der Herr ist ein Doktor, aber ich sehe, er ist ein Pfaff. Die Begriffe, mit denen der Herr operiert, sind abgetan und liegen auf dem Schindanger. – Du stehst hier – Basilius und der Jesuit da drinnen, der Volksbetrüger, die haben dich gemacht, der eine leiblich, der andere geistig – so bist du schuldig, das ist dir eingezeichnet von der Fatalität, und am Leibe wirst du gestraft werden, denn wir haben nichts, dich zu fassen, als den Leib. Das ist unsere Gerichtsordnung.

ARZT. Erblicket die ganze Welt: sie kennt nichts Höheres, als in diesem Wesen uns entgegentritt.

OLIVIER. Ich sehe auf die Welt, die dergleichen hervorbringt, wie auf eine Possenreißerbude.

ARZT. Und die Menschen spüren es! Weit und breit, es bringt sie auf die Knie!

OLIVIER. Eben alle diese kriechenden Angelegenheiten werden beseitigt werden.

ARZT. Die Welt wird nicht vom Eisen regiert, sondern von dem Geist, der in ihm ist. Er ist ein gewaltiger Mensch. Hütet Euch!

OLIVIER. Jetzt habt Ihr sein Urteil ausgesprochen. Darum muß er kassiert, annulliert, ausgelöscht werden. Dazu stehe ich hier. – Denn ich und einige, wir haben uns aufgeopfert und nehmen dem Volk die Last des Regimentes ab, damit es nicht schwindlich werde.

ARZT. Dazu bist du hier eingetreten?


Er fällt vor ihm nieder.


OLIVIER. Jawohl! man sollte nach Recht vor uns liegen, für das, was wir auf uns genommen haben, aber wir verschmähen es, und auch mit unseren Namen soll kein Götzendienst getrieben werden, darum halten wir sie geheim. – Lasset mich los, Herr, oder ich mache mich anders frei. Er stößt den Arzt weg und geht hinaus.


Arzt richtet sich auf. Es ist allmählich Tag geworden.


SIGISMUND tritt aus seiner Tür. Ist der Mensch fort? Den habe ich schon an einem anderen Ort gesehen, aber jetzt habe ich ihn zum letztenmal gesehen.

ANTON ist hinter Sigismund eingetreten. Sollen wir fort? Hinunter? Soll ich Leut rufen? Zeichen machen?

SIGISMUND bleibt stehen und blickt auf die Wand neben der Tür zu seinem Zimmer, die vom Widerschein der Morgensonne schwach erhellt wird. Der Bauer hatte ein Schwein geschlachtet, das war aufgehangen neben meiner Kammertür, und die Morgensonne fiel ins Innere, das war dunkel; denn die Seele war abgerufen und anderswo geflogen. Es sind alles freudige Zeichen, aber inwiefern, das kann ich euch nicht erklären. Er setzt sich.

STIMMEN von außen. Sigismund!

ANTON am Fenster. Jetzt kommen ihrer viele in den Hof herein. Sie schauen herauf. Er hat das Fenster geöffnet, tritt jetzt zurück.

SIGISMUND sitzend. Nicht wahr, sie werden mich abholen? Dann werde ich vorwärts gehen und mich nicht mehr umblicken.

STIMMEN außen. Sigismund! Bleibe bei uns! Harre aus bei uns, verlasse uns nicht!

SIGISMUND. Ich bin allein und sehne mich verbunden zu sein.


Er steht auf.


STIMMEN. Sigismund! Verlasse uns nicht!

ANTON. Recht komödiantisch gebärden sich die. Das sind keine ehrlichen Leut.

SIGISMUND. Ich will zum Fenster und mit meinen Gefreundeten reden, sie rufen mich.


Er geht langsam gegen das Fenster.


ANTON ängstlich. Gehen lieber nicht zum Fenster!

ARZT vor sich. Eine Wendung, alldurchdringender Gott! – Oder laß mir die Herzader brechen und im Zusammenstürzen mich den Himmel sehen, darin ich mit diesem sein werde!

STIMMEN. Komme zu uns, Sigismund!


Sigismund tritt ans offene Fenster. Von draußen fällt ein Schuß. Arzt und Anton sehen, daß Sigismund getroffen ist, fangen ihn in ihren Armen auf und bringen ihn ins Innere des Zimmers, wo sie ihn auf einen Stuhl niederlassen.


ANTON beißt sich in die Faust. Von unten geschossen! Herr Doktor! Solche Mörder! So niederzüchtige Mordbuben!

SIGISMUND schlägt die Augen auf. Still, Anton, ich werde gleich sterben.

ANTON. Solange Leben ist, ist Hoffnung. Das hab ich oft gehört. Sagen doch etwas, Herr Doktor!


Arzt hält Sigismunds Puls.


SIGISMUND. Mir ist viel zu wohl zum Hoffen.


Er schweigt.


ANTON. Uns haben der Herr König nichts zu sagen?

SIGISMUND sieht den Arzt an. Gebet Zeugnis, ich war da, wenngleich mich niemand gekannt hat.


Arzt und Anton knien nieder.

Sigismund fällt zurück, tut einen tiefen Atemzug und ist tot.

Vorhang.


Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 2–5: Dramen, Band 3, Frankfurt a.M. 1979.
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