Erster Auftritt


[257] Vor dem Turm. Vorwerke, halb gemauert, halb in Fels gehauen. Zwischen dem Gemäuer dämmerts, indessen der Himmel noch hell ist.

Olivier der Gefreite und ein paar invalide alte Soldaten, unter ihnen Pankraz und Andreas, sind beisammen.


OLIVIER ruft nach hinten. Rekrut, hierher!


Der Rekrut, ein flachshaariger Bauernsohn, läuft herzu.


Spring Rekrut, und hol mir Feuer zur Pfeife! Ich will Tabak rauchen.

REKRUT. Ja, Herr!


Will weg.


OLIVIER. Zu Befehl, Herr Gefreiter, hast du zu sagen! Verstanden!

REKRUT. Ja, Herr.

OLIVIER. Eselskopf! Dreckschädel! Bougre! Larron! maledetta bestia! Wie hast du zu sagen?

REKRUT glotzt ihn erschrocken an, schweigt.

OLIVIER. Hol's Feuer! Marsch!

REKRUT. Ja, Herr!


Springt weg.


OLIVIER. Dir werd ich den Hundshaber ausdreschen!

ANDREAS nach einer Pause. Ist das wahr, Gefreiter, daß du ein Student gewesen bist?

OLIVIER gibt ihm keine Antwort.


Pause.


PANKRAZ. So bist du demnach unser neuer Wachkommandant?

OLIVIER. Unterstehst du dich, mir eine direkte Frage zu stellen? Erfrechst du dich gegen mich dein Maul aufzuwerfen?

ANDREAS. Du hast ein hartes Mundleder! Solche wie du die bringens weit bei heutiger Zeit.


Man hört zeitweilig ein dumpfes Klopfen von hinten.


OLIVIER. Welcher Kujon hackt Brennholz im Keller, dieweil[257] ich hier Inspektion abhalt? Er soll aufhören, laß ich befehlen.

REKRUT kommt, bringt Feuer.

OLIVIER will sich die Pfeife anzünden. Von wo kommt der Wind?

REKRUT. Weiß nich, Herr.

OLIVIER. Bestie, so will ich dir die Nasenlöcher voneinandernageln, daß man sie mit zwölf Klafter Bindfaden nicht wieder soll zusammenbringen. Stell dich zwischen die Pfeifen und den Wind.

REKRUT. Ja, Herr.

OLIVIER. zündet seine Pfeife an. Ich kann das verdammte Klopfen nicht leiden. Sie sollen aufhören. Marsch hin, Rekrut. Ich befehls, Holzhacken wird eingestellt. Es alteriert mich.

PANKRAZ. Es hackt niemand Holz, es ist der dahinten: der Gefangene.

OLIVIER. Der Prinz, der nackig geht, mit einem alten Wolfsfell um den Leib?

PANKRAZ. sieht sich um. Sprich: der Gefangene. Nimm das andere Wort nicht auf die Zunge. Es bringt dich vor den Profosen.

OLIVIER. Da gehören zwei dazu. Die Zeitläufte sind nicht danach, daß sie eine Person wie mich schurigeln könnten. – Was treibt die Bestie? Was rumort er in seinem Käfig?

ANDREAS. Er hat einen Pferdeknochen ausgescharrt und wenn ihms die Kröten und Ratten zu arg treiben, schlägt er unters Geziefer drein, wie ein Hirnschelliger.

PANKRAZ. Sie kujonieren ihn seit er am Leben ist, so kujoniert er was ihm unter die Hände kommt.

OLIVIER. Horcht! Der Dudelsack! Jetzt hört er auf, mitten im Takt! Merkt ihr was?

PANKRAZ. Was ist da dabei?

OLIVIER. Jetzt spielts wieder. Und jetzt still. Signale sinds!

ANDREAS. Wie denn?

OLIVIER. Lehrt ihr mich die Judenschmugglerwitz kennen? Das ist eine ganze Sprache. Jetzt hört der Dudelsack auf: das heißt: schnell hinter den Erlen dahin, der Posten schaut nicht her. Eine einhörnige Kuh: um Neumond könnt ihr[258] hier durch. Eine Schickse die singt: paßt auf, da liegen Fuchseisen.

PANKRAZ. Wie du das weißt!

ANDREAS. Da sollten wir streifen. Da wir einmal auf Grenzbewachung hier sind.

OLIVIER. Laß sie. Ist mir gerad recht, was die schmuggeln.

PANKRAZ. Was denn?

OLIVIER. Waffen. Pulver und Blei. Hellebarden, Piken, Morgenstern, Äxt. Aus Ungarn herauf, aus Böhmen herüber, aus Littauen herunter.

PANKRAZ. Verfluchte Juden, wo sie es nur auftreiben.

OLIVIER. Die spüren was los ist. Spüren blutige Tag. Riechen den roten Hahn aufm Dach.

REKRUT geheim, ängstlich. Ein dreibeiniger Has hat sich sehen lassen, ein hageres Schwein ist dahergekommen, ein glühäugiges Kalb rennt durch die Gassen.

OLIVIER. Alle gehen gegen alle. Es bleibt kein Haus. Die Kirchen werden sie mit dem Kehrichtbesen zusammenkehren.

DER STELZBEINIGE der bisher geschwiegen hat. Sie werden ihn hervorziehen, und das Unterste wird zuoberst kommen, und dieser wird der Armeleut- König sein und auf einem weißen Pferd reiten und vor ihm wird Schwert und Waage getragen werden.

OLIVIER. Halt's Maul, böhmischer Bruder. Schmeiß einen Stein in den Zwinger, ich will die Remassuri nicht.

DER STELZBEINIGE. Vor ihm wird Schwert und Waage getragen werden!

OLIVIER. Schmeiß einen Stein, Rekrut! – oder der Henker soll dich mit dem breiten Messer barbieren!

REKRUT zittert. Aus dem Wolfsleib ist ein Menschenkopf gewachsen! er reckt fünffingerige Händ und faltets wie ein Mensch!

OLIVIER. Sieht das Vieh so kurios aus? Ich steig hinein und zieh ihm 's Fell ab! Das muß stichfest machen.

PANKRAZ. Geh nicht hin, stinkt auch.

OLIVIER. Bin in belagerter Stadt nächtlings auf Verwesendes gelegen, als wärs meine Bettstatt. Gebt eine Pike. Ich jag[259] ihn auf. Her die Pike! Wenn ich was will, so geschiehts! Hältst du meinen Blick aus?


Er reißt dem Pankraz seine Pike aus der Hand.


REKRUT schreit auf. Da fliegt ein Schlangenei! fliegts dir ins Gesicht, bist blind auf ewig! Da fliegts! Er deutet in die Luft. Wenn eine menschliche Kreatur ins Blutschwitzen kommt, so erbarmen sich die Schlangen, sie werfen sich in die Luft in einem Knäuel und gebären alle zusammen ein Ei, – das macht die Blinden sehend und die Sehenden blind!


Olivier wischt sich die Augen. Rekrut führt ihn sanft beiseite, nimmt ihm die Pike aus der Hand und legt sie weg; dann kniet er nieder, das Gesicht gegen das Gemäuer im Hintergrund.


ANDREAS tritt dicht an Olivier heran. Ich warn dich, Gefreiter. Denk an die scharfe Instruktion!

OLIVIER. Weiß von keiner.

ANDREAS. Da sind zehn verbotene Artikel.

OLIVIER. Wo kämen die her? Auf die pfeif ich!

ANDREAS. Auf die wird hier jedermänniglich vereidigt. Nicht auf zehn Schritt dem Gefangenen nahe. Kein Wort mit ihm, kein Wort über ihn, bei Leib und Leben.

OLIVIER. Den möcht ich sehen, der mich vereidigen kommt. Dem möchte ehender der rote Saft auslaufen.

PANKRAZ. ist hinzugetreten. Die hat hier das Gouvernement erlassen, dem wir allesamt untergeben sind.

OLIVIER. Den Kerl hab ich nicht gesehen. Der kann mir den Buckel hinunterrutschen. Das ist eine Hofschranze. Die hängen bald alle. Denen wird der Strick schon eingeseift.

ANDREAS. Das ist ein großer Herr. Der hat das Mandat über den Gefangenen und über uns.

OLIVIER. Ein gesalbter Lauskerl ist das. Er stinkt nach Muskat und Bisam, nach Balsam und Laussalbe und wäscht sich die Händ in einem silbernen Waschbecken.

PANKRAZ. Der hat das schleunige Recht. Dem ist Gewalt gegeben über unsere Hälse wie dem Schiffskapitän über seine Mannschaft.

OLIVIER. Das möchte ich sehen! Der soll an mich herankommen. Hier steh ich![260]

ANDREAS. Der läßt dir einen im eisigen Winter anbinden an einen Baumstrunk. Solche Gewalt ist ihm gegeben.

OLIVIER. Gewalt gegeben! Gewalt gegeben! über alte Kaschbettler vielleicht, über solche Marodierer die von der Muskete auf den Bettelnapf herabgekommen sind! Nicht über eine Person wie mich!

PANKRAZ. Du wirst es schon sehen, Gefreiter!

OLIVIER. Sehen? Was werd ich sehen?

PANKRAZ. Daß ihm hier die oberste martialische Gewalt gegeben ist, ob er gleich die Hand in einem silbernen Becken wäscht.

OLIVIER. Gegeben, von wem gegeben! Dazu muß einer die oberste martialische Gewalt in Händen haben, daß er sie in andere geben kann! Ist sie ihm leicht von dem da gegeben? Er zieht eine Münze heraus, hält sie dem Pankraz vors Gesicht. Der wiegt nicht! auf den hust ich! auf den tu ich was! Er wirft die Münze verächtlich über seine Schulter. Wenn mir hier das Quartier nicht konveniert, wenn hier nicht inner vierzehn Tagen alles nach meiner Pfeifen tanzt, so gibts ein Harnischwaschen zwischen mir und dem Hofkerl – wo ist der Kerl? Ich will ihn sehen!

ANDREAS. Den siehst du nicht. Sobald er uns eine Ordre zu geben hat, läßt er dreimal »habt acht« blasen, dann schickt er seinen Bedienten –

OLIVIER. Seinen Bedienten? an meine martialische Person? seinen rotzigen Bedienten! so will ich doch inner einem Monat dem Hofkerl sein silbernes Waschbecken um die Ohren hauen! Ihn hängen will ich und mit seinem Bauchfett meine Stiefel schmieren.

PANKRAZ. So ist es. Er läßt dreimal »habt acht« blasen. Da! –


Drei Hornsignale hintereinander. Anton erscheint auf einer hölzernen Brücke überm Vorwerk und schickt sich an herunterzukommen. Die Soldaten außer Olivier verziehen sich. Olivier steht da, als bemerkte er Anton nicht.


ANTON tritt von hinten auf ihn zu. Ist Er der neue Herr Wachkommandant?

OLIVIER schweigt.[261]

ANTON. In hohem Auftrag!

OLIVIER gibt keine Antwort.

ANTON nahe, in seinem Rücken, grüßt. In hohem Auftrag Seiner Exzellenz! Grüßt abermals.

OLIVIER dreht sich halb um, mißt ihn mit einem verächtlichen Blick von oben nach unten.

ANTON grüßt abermals, sehr freundlich. Dem Herrn Wachkommandanten einen guten Tag.

OLIVIER klopft seine Pfeife aus, ohne ihn zu beachten.

ANTON grüßt wiederum. In hohem Auftrag: der Herr zieh Seine Wach hier ab und besetz die Zugäng. Aber Seine Wachposten sollen den Rücken kehren und dabei alles im Aug behalten. Sie sollen auf alles aufpassen und nicht hören. Es bekümmert Ihn nicht, was hier vorgehen wird, aber ich sags Ihm: der Gefangene wird zur ärztlichen Visite vorgeführt.

OLIVIER pfeift was.

ANTON. Hat der Herr verstanden? Ich bitt den Herrn, daß Er den Befehl ausführ!

OLIVIER spuckt aus und geht weg.

ANTON ihm nachsehend, grüßt. Ein artlicher Herr! sehr ein artlicher junger Herr! Er will mir danken, aber mich nicht in Verlegenheit setzen. Ein freimütig soldatischer junger Herr! Mit dem einen Moment beisammenstehen ist wie mit einem anderen eine Stund diskutieren. Er muß eine aparte Sympathie für mich haben, aber er läßts nicht überfließen, damit der soldatische Appell nicht darunter leidet!

OLIVIERS STIMME außerhalb. Wache antreten! Wache rechtsum!


Kurzer Trommelwirbel.


ARZT kommt den gleichen Weg wie Anton auf die Bühne. Wo find ich den Kranken?

ANTON. Der Herr will sagen: den Gefangenen. Gedulde sich der Herr. Ich führ ihm die Kreatur heraus.

ARZT. Wo ist das Zimmer?

ANTON. Was für ein Zimmer?

ARZT. Nun, das Verlies, der Gewahrsam?

ANTON deutet nach hinten. Dort![262]

ARZT. Wie, dort?


Wendet sich hin.


ANTON. Vor dem Herrn seiner Nasen, mit Respekt zu sagen.

ARZT. Ich sehe einen kleinen offenen Käfig, zu schlecht für einen Hundezwinger. – Du willst mir nicht sagen, daß er dort – oder hier ist ein Verbrechen begangen, das zum Himmel schreit!

ANTON zuckt die Achseln.

ARZT. Dort? Tag und Nacht?

ANTON. Winter und Sommer. Im Winter wird eine halbe Fuhr Stroh zugeschmissen.

ARZT. Seit wie lange?

ANTON. Seit vier Jahren.

ARZT steht sprachlos.

ANTON. Vor vier Jahren ist alles verschärft worden. Einmal nachts sind große Herren geritten gekommen, haben mit dem Gouverneur konferiert. Von da ab schläft er auch nachts im Zwinger da, hat keinen freien Ausgang, die Füß an der Kette, eine schwere Kugel dran, die stinkende Wildschur am Leib, ob Sommer ob Winter, sieht die Sonn nicht mehr als im hohen Sommer zwei Stunden lang.


Man hört wieder die dumpfen Schläge, wie am Anfang.


ARZT verdeckt sich mit der Hand die Augen. Wie verbringt er den Tag?

ANTON zuckt die Achseln. Mit Nichtstun. Wie ein Herr oder wie ein Hund. Schieb ich ihm die Nahrung hinein, so freut er sich. Ich red immer mit ihm! Ängstlich schnell. Nur das Unumgängliche natürlich!

ARZT. Ich will hintreten. Ich will ihn sehen.

ANTON. Je nachdem der Herr die Ausdünstung vertragen wird.

ARZT tritt näher hin. Mein Auge gewöhnt sich. Ich sehe ein Tier, das an der Erde kauert. Tritt zurück.

ANTON. Das ist schon das Betreffende.

ARZT. Das! – Ruf ihn. Führ ihn her vor mich.[263]

ANTON sieht sich um. Ich darf vor keiner fremden Person mit ihm reden.

ARZT. Vor dem berufenen Arzt wird dirs erlaubt sein. Ich trage die Verantwortung.

ANTON. Sigismund! – Er gibt keine Antwort. Da ist er bös. Da muß man ihn nicht reizen. Wütig wird er sonst, ganz hirnschellig; ich kenn ihn gut. – Er hört mich schon. Das seh ich an seinen Augen. Sieht der Herr die herglühen? – Achtung! Er leidet nicht, daß man ihn angeht. Er hat sich einmal mit einem Fuchs verbissen, den die Wächter ihm zur Kurzweil übers Gitter werfen taten.

ARZT. Kannst du ihn nicht rufen? nicht zureden? Ist er denn ohne Vernunft?

ANTON. Der? Kann Latein und wird mit einem dicken Buch fertig, wie wenns eine Speckseiten wär. – Aber manchmal krampft sich ihm 's Wort im Mund und er bringts nicht heraus. Andere Zeiten ist er wie der Herr und ich. Nähert sich dem Zwinger, sanft anrufend. Komm der Sigismund! Wer wird denn da sein? Der gute Anton ist da. Der Anton macht die Tür auf. Er öffnet die Tür mit der Pike, die an der Mauer gelegen hat. Da, jetzt leg ich meinen Stecken weg. Er legt die Pike auf die Erde. Jetzt sitz ich aufm Boden. Jetzt schlaf ich. Leise zum Arzt. Geb der Herr Achtung. Erschrecken darf er nicht, sonst wirds bös.

ARZT. Hat er denn eine Waffe?

ANTON. Immer einen Roßknochen. Sie müssen früher in dem Winkel das Vieh verscharrt haben. – Es ist innerst eine gute Kreatur, geb ihm der Herr was ein, daß er wieder sanft wird.

ARZT. Wo die ganze Welt auf ihm liegt. Es ist alles zusammenhängend.

ANTON. Pst! er rührt sich. Er schaut die offene Tür an. Das ist nichts Gewohntes! – Gegen den Zwinger hin. Soll ich mich legen? dann legst dich zu mir? Gemütlich![264]

SIGISMUND tritt aus dem Zwinger hervor, in einer Hand einen großen Stein.

ANTON winkt ihm. Geh, da setz dich zu mir.

SIGISMUND redet nach. Setz dich zu mir!

ANTON auf der Erde sitzend. Ist ein Herr gekommen.

SIGISMUND gewahrt den Arzt, zuckt zusammen.

ANTON. Nicht fürchten. Ein guter Herr. Ein feiner Herr. Was denkt der Herr von dir? Leg den Stein weg. Er denkt, du bist ein Kind. Bist aber zwanzig Jahr. Steht auf, geht langsam hin, windet ihm sanft den Stein aus der Hand. Mußt dich zusammennehmen. Ich hab ihm gesagt, du bist mein Freund. – Denk, er weiß wie du heißt.

ARZT. Sigismund, komm zu mir!

SIGISMUND schaut hin.

ANTON. Siehst dus? ein guter Herr! – Leise. Seh der Herr seine Augen. – Laut. Der Herr wird dir helfen. Besseres Essen! eine Decken! Aber du mußt dein Gutes herzeigen. Ein Kind nimmt sich zusammen, ein Hund nimmt sich auch zusammen. Weißt noch: der Hund Tyras! Zum Arzt, aber Sigismund hört zu. Er war als Kind bei bäuerischen Leuten, recht guten Leuten, bis zum vierzehnten Jahr. Herumgelaufen, gesprungen, geschossen mit der Armbrust! Das war ein gutes Leben! Leise. Seht nicht starr hin, er verträgt nicht den scharfen Blick, da wird er wie Eisen. Halblaut, ohne hinzusehen. Jetzt wird der Sigismund auch sprechen. Alle werden wir miteinander diskurieren. Mit Reden kommen die Leut zusammen. Hund reden auch. Schaf auch: machen bäh!

SIGISMUND. – auch sprechen!

ANTON. Zum Toni wird der Sigismund sprechen. Denn heut ist einmal 's Sprechen erlaubt.[265]

SIGISMUND. – is Sprechen erlaubt?

ANTON. Und obs erlaubt ist! Befohlen ists! Vorwärts jetzt, wer diskurieren will! Haut sich auf die Knie. Haccus, Maccus, Baccus, das sind drei heilige Wort! bewähren sich an jedem Ort! die heiligen sieben Planeten, die trösten uns in allen Nöten! – Wird dir auch schon besser gehen.

ARZT ohne den Blick von Sigismund zu verwenden. Ein ungeheurer Frevel! Nicht auszudenken ist das.

ANTON. Gib Antwort! oder was soll der Herr denken? Der Herr ist weit her kommen.

ARZT tritt näher. Möchtest du anderswo wohnen, Sigismund?

SIGISMUND schaut zu ihm auf, dann wieder weg; spricht dann schnell vor sich hin, wie ein Kind. Vieher sind vielerlei, wollen alle los auf mich. Ich schrei: Nicht zu nah! Asseln, Würmer, Kröten, Feldteufeln, Vipern! Sie wollen alle auf mich. Ich schlag sie tot, sinds erlöst, kommen harte schwarze Käfer, vergrabens.

ARZT. Rührende Stimme, noch halb kindisch. – Hol ein Licht, ich muß ihm ins Auge sehen.

ANTON. Ich laß den Herren nicht allein mit ihm, darfs nicht! Ruft nach hinten. Ein Kienspan daher!


Arzt geht hin, legt Sigismund die Hand auf die Stirn. Hornsignal draußen.


ARZT. Was ist das?

ANTON. Es heißt, daß niemand herandarf oder es wird scharf geschossen.

SIGISMUND sehr schnell. Deine Hand ist gut, hilf mir jetzt da! Wo haben sie mich hingetan? Bin ich jetzt in der Welt? wo ist die Welt?

ARZT. Die Grenze ist verwirrt zwischen innen und außen.

SIGISMUND sieht ihn an mit verstehendem Ausdruck. Ist alles durcheinander, blast ein Engel, bringt alles in Reih und Glied. – Schöne Hand, geschickte Hand! greift in Kotter hinein, greift untern Stein, zieht den Krebs hervor! schmeißt ihn in Topf, zündet 's Feuer an, wird der Krebs schön rot und die Fische schön blau![266]

ANTON. Sag's Sprüchel von den Fischen!

SIGISMUND schnell. So sagen die sieben Siegel: daß alle Fisch werden brüllen, die Engel werden weinen, und werfen sich mit Steinen, die Gräslein werden zahnen und alle hohen Tannen –

ANTON. Was er einmal gehört hat, geht ihm nach. Vergißt nichts.

ARZT. Die ganze Welt ist gerade genug, unser Gemüt auszufüllen, wenn wir sie aus sicherem Haus durchs kleine Guckfenster ansehen! Aber wehe, wenn die Scheidewand zusammenfällt!


Ein Soldat kommt und bringt einen brennenden Kienspan.


ANTON. Da ist die Kienfackel!


Reichts dem Arzt.


ARZT. Ich muß sein Auge sehen. Drückt Sigismund, der an seinen Knien lehnt, sanft gegen sich und leuchtet ihm von oben ins Gesicht. Nichts von der Starrheit des Wahnsinns. Bei Gott, kein mörderisches Auge, nur ein unermeßlicher Abgrund. Seele und Qual ohne Ende. Er gibt die Kienfackel zurück, Anton tritt sie aus.

SIGISMUND. Licht ist gut. Geht herein, macht 's Blut rein. Sterne sind solches Licht. In mir drin ist ein Stern. Meine Seele ist heilig.

ARZT. Es muß einmal ein Strahl in ihn gefallen sein, der das Tiefste geweckt hat. So hat man doppelt an ihm gefrevelt.


Julian, der Gouverneur, von einem Soldaten begleitet, der eine Laterne trägt, erscheint drohen auf der hölzernen Brücke, sieht herab.


ANTON. Seine Exzellenz sind selbst hier. Es wird gewinkt von oben. Da soll die Untersuchung zu Ende sein.

ARZT. Das bestimme ich. Er fühlt Sigismund den Puls. Was gebt ihr ihm zu essen?

ANTON leise. Da täte der Herr nicht zufrieden sein. Leg der Herr ein Wort ein. Es ist für einen räudigen Hund zu gering.

ARZT. Ich bin zu Ende.[267]

ANTON. Jetzt geht der Sigismund schön hinein.


Sigismund zuckt, kniet am Boden. Anton nimmt die Pike auf, öffnet ganz die Tür zum Zwinger. Sigismund bleibt auf den Knien, streckt die Hand aus.


ARZT verhält sich die Augen. O Mensch! o Mensch!


Sigismund stößt einen klagenden Laut aus.


ANTON. Sollen sie mit Stangen kommen, dich eintreiben?

ARZT. Ich bitte dich, geh für heute an deine Stätte. Ich verspreche dir, daß ich tun werde, was ich vermag.

SIGISMUND steht auf, verneigt sich gegen den Arzt.

ARZT vor sich. O mehr als Würde in solcher Erniedrigung! das ist eine fürstliche Kreatur, wenn je eine den Erdboden trat.


Sigismund ist in den Zwinger zurückgegangen.


ANTON hat den Zwinger von außen verschlossen. Der Herr erlaubt, daß ich vorangeh. Der Herr ist sogleich droben im Turm erwartet.


Sie gehen hinauf.


Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 2–5: Dramen, Band 3, Frankfurt a.M. 1979, S. 257-268.
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