Brief an Richard Dehmel

[169] Ich reite viele Stunden jeden Tag,

Durch tiefen toten Sand, durch hohes Gras,

Durch gutes helles Wasser und durch schwarzes

Im Wald, das quillt und gurgelt unterm Huf.

Zuweilen reit ich auf die Sonne zu,

Die Kupferscheibe in den schwarzen Büschen,

Zuweilen gegen feuchten Wind, manchmal

Auf einem heißen steilen Weg, manchmal

Auf einem Damm in heller stiller Luft,

Daß ich die krummen Äste zählen kann

Der Apfelbäume auf der fernen Straße

Und einen Tümpel leuchten seh, weit weit!

Und meinen Fuchs und meine rote Kappe

Und weiße Handschuh sieht man auch weit weit

Und meine dunklen Hüften, Arm' und Schultern

Am gelben Damm bei dieser hellen Luft

Wie fliegend Glas, das überm Feuer flirrt.


Zuweilen reiten viele neben mir

Und viele vor mir, alles ist voll Lärm,

Die grünen Mulden dröhnen, und die Luft

Ist voller Klirren, und ich seh vor mir

(Mit feuchten Augen von dem starken Wind)

Die vordersten hinjagen auf dem Hang:

Ein Knäuel Braun' und Rappen, zwei, drei Schimmel,

Nur weiße Flecken, und in dem Gedränge

Der dunklen Reiter blinken gold die Helme

Und so die Klingen, wie ein Netz von Adern

Lebendgen Wassers blinkt im stärksten Mond

(Darüber, weißt du? schwebt es milchig weiß

Und viele Unken schreien, wundervoll).[170]

Zuweilen aber reit ich ganz allein,

So still! ich höre, wie die Mücke schwirrt,

Wenn sie dem Fuchs vom Hals zur Schulter fliegt;

Lang schau ich einer Nebelkrähe nach

Und folg der schwarzen auf dem grauen Weg

Durch dürre Wipfel hin und her, und seh

Fasanenhähnchen auf einander losgehn

Im niedern Gras, wo viele Anemonen,

Schneeweiße, stehn; sitz ab und laß den Fuchs

Mit nachgelaßnen Gurten ruhig grasen

Und riech dann noch, wenn ich zu Haus den Handschuh

Abstreif, gemengt mit dem Geruch vom Pferd

Den Duft von wildem kühlem Thymian ...

Und fühl in alledem so nichts vom Leben!


Wie kann das nur geschehn, daß man so lebt

Und alles ist, als obs nicht wirklich wäre?

Nichts wirklich als das öde Zeitverrinnen

Und alles andere wie nichts: das Wasser,

Der Wind, das schnelle Reiten in dem Wind,

Das Atmen und das Liegen in der Nacht,

Das Dunkelwerden, und die Sonne selbst,

Das große Untergehn der großen Sonne

Wie nichts, die Worte nichts, das Denken nichts!

Kann denn das sein, daß nur soweit ich seh

Das Leben aus der Welt gesogen ist,

Aus allen Bäumen, Bergen, Hunden, aus

Unzähligen Geschöpfen, so wie Wasser

Aus einem heimlich aufgeschnittnen Schlauch?


Gleichviel, es ist. Und nun schickst du mir her

Bin Buch, so rot wie die Mohnblumen sind,

Die vielen in den vielen grünen Feldern –

Ihr Rot ist mir so nichts, und das Erschauern

Der grünen Felder unterm Abendwind

Ist mir so nichts – was ist darin vom Leben! –

Und in dem Buch da ists, da ists, es ist.

Es macht mich schauern, springt von einem Wesen[171]

Zum andern, ist in allem, reißt das eine

Zum andern, sucht sich, sehnt sich nach sich selber,

Berauscht sich an sich selber, »flicht, o Gott!

In eins die bang beseligten Gestalten«,

Und ist in einem Pfauen so enthüllt!

So grauenhaft in Träumen und Narzissen,

So grauenhaft und süß enthüllt! in Puppen!

Wie kann das wieder sein? Gleichviel. Es ist.

Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 1: Gedichte, Dramen, Frankfurt a.M. 1979, S. 169-172.
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