Venezianisches Reisetagebuch des Herrn von N. (1779)

[263] Ich erinnere mich an die Dinge ganz genau, hatte immer sehr gutes Gedächtnis, bekam bei den Schulbrüdern das große Fleißkreuz, weil ich die österreichischen Regenten vor- und rückwärts aufsagen konnte. Auch alle Dienstmädchen meiner Mutter habe ich mir gemerkt und alle Mineralien meines Großvaters und die Namen des Sternbilds Orion.

Gründe der Bildungsreise. Maler, große Namen. Paläste, Sitten im Salon, Entréegespräche. Scheinen, Gefallen. Vorher von Venedig gewußt: Onkel hatte Bekannten, dessen Verwandte in oubliettes gestürzt (mit Nägeln und Rasiermesser) ...

Ankunft: Morgengrauen. hungrig. kühl. will sich um Unterkunft umschauen. Schauspielergesellschaft am Strand wartend. Eine kokettiert mit ihm vom Schoß ihres Kollegen herab.

Gehe durch ein paar Gassen. der halbnackte Herr, er hat einen Hut mit Maske und grobem Spitzenschleier überm Arm. ein feines, aber sehr gestückeltes Hemd. er begrüßt ihn, sagt, er kennt Wien, nennt ein paar Namen. erklärt, er habe alles beim Spiel verloren. Ich leihe ihm meinen Mantel; er spricht sehr schön von Freigebigkeit, von vergangenen Zeiten. der Herr erzählt, wie er eine galante Dame beim Grassalkovich vorgestellt[263] habe, habe sie gesagt, »brutto nome, pare una bestemmia« und ihn nicht zum Liebhaber haben wollen. (Wie er angezogen ist, hat er einen viel gesellschaftlicheren Ton, viel weniger gehoben.)

Speisengeruch. der Fremde will ihn nicht hier frühstücken lassen, verspricht, ihm eine Wohnung bei einem Edelmann zu verschaffen, geht mit ihm.

Die Edelfrau, der Edelmann, der Alte. Ich gebe Geld, damit ein Frühstück kommt. Bekomme das Zimmer der abgereisten Tochter. Alle sind mit dem Theater zusammenhängend. Stöhnen von oben; der Maler hat Magenkrämpfe. gehe mit hinauf, der Stein wird abgehoben; indessen bringt der Edelmann im Schnupftuch der Tochter die kleinen Fische. essen ein echt venezianisches Gebackenes (frittura).

Nochmals hinauf zum Maler, er zeigt mir ein Bild einer schönen Person (für dalle Torre), verspricht, mich zu ihr zu führen. Erzählt auf dem Weg die Geschichte der zwei Bilder des Herzogs Camposagrado: wie die Brüder ihm das ihrige schicken, lacht er unmäßig und weist eine Summe Geld an, damit sie ihm den Goya schicken, die Tintorettos copieren. Maler verspricht, mich dem Herzog vorzustellen.

Kommen zu der schönen Dame. Vogel im Käfig, schönes Porzellan, vorne Hyazinthen. Camposagrado. gegenwärtig, Details über das Pyrenäendorf, wo der Herzog Gerichtsherr.

Die junge Dame mit ihm im anderen Zimmer. Camposagrado sehr zornig, verschlingt den Vogel und geht. Ich werde eingeführt, benehme mich zurückhaltend. Die Alte supponiert mir, ein Geschenk zu machen. Ich ziehe mich zurück, habe keine Leichtigkeit. Jetzt müßte man entweder ein alles-vergessender Lump sein oder ein geschickter Schwindler. Ich lade sie zum Nachtmahl ein.

Gehe auf die Piazza. Versäume einen Aufzug, sehe einen Patrizier, der eben ein Harlekingewand anzieht. gehe ins Theater, die verschleierte (maskierte) Dame. Brief auf der Piazzetta empfangen.

Der Ritter Sacramozo setzt sich zu mir. seine Erscheinung. der Diener mit dem Brief. Der Diener scheint den Ritter zu[264] kennen. Sage dem Ritter, daß ich die Courtisane eingeladen. Er ist erstaunt, daß es wieder stimmt. – Gehe schlafen. Mücken.

Nächster Morgen: rendez-vouz mit dem Cavalier. zu der Dame, die bei der Morgentoilette. werde zunächst in ein Nebenzimmer gelassen, indessen sich die Dame mit dem Cavalier zurückzieht, die Dame kommt, entschuldigt sich etwas cavaliermäßig. Der Ritter geht mit mir frühstücken, erzählt mir seine Auffassung der Liebe. die frühere Passion für die Courtisane. sein Selbstmordversuch.

Nachmittag kommt der Edelmann zurück, meinen Mantel bringen; führt mich zum Notar.

Abends in der Nähe der Madonna dell'orto. Die schöne Dame an einem Fenster.

In der Kirche Camposagrado mit Dienern, die ihm leuchten; geht allein zurück, ein Hund geht ihn an. Er besteht den Hund mit den Zähnen.

Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen. Frankfurt a.M. 1979, S. 263-265.
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