Das kleine Jöhr in mir

[83] Das kleine Jöhr in mir, / das nach jedem Sonnenstrahl greift und nach jedem Schmetterling, / das Vergissmeinnichtaugen hat und das mir vor meinem Tode hoffentlich nicht sterben wird, / entzückt sich noch immer über Ludwig Richter. // Der Grosspapa liebt Walter Scott. // Mein Schläfchen, / sonntags, / wenn es zu Mittag Nelson – Cotteletts. / Karpfen in Bier, oder vielleicht gar eine Gans gegeben, / erledige ich auf einem blauen, grüngestreiften Biedermannssopha, / über dem an einer gelben Urvätertapete ein Stich von Chodowiecki hängt; / und auf meinem Vertiko, / zwischen zwei Sträussen aus Zittergras, / paradiert eine blanke mit bunten Blumen bemalte Porzellankuh, / die, während ich schnarche, gemolken wird. // Indessen! // Das hindert mich Alles nicht. //Abends, / auf der Redoute, / mitten unter dem mittelsten Kronleuchter, / bin ich durchaus Europäer. //Eine wandelnde, höchst appetitliche Reklame für einen Wurstladen / hat ausser ihren Brillantohringen wirklich auch noch Tricots an. // Ich hebe mit gespreizten Fingern meinen Handschuh, / bugsiere ihn ihr geschickt bis auf fünf Millimeter vor das schwarze, glänzende Taffetnäschen / lächle / und lasse ihn dann fallen. // Er bleibt sofort stecken. // »Na, kleener Sectproppen, Kostenpunkt?«[83]

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Arno Holz: Phantasus. Stuttgart [1978], S. 83-84.
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