Cantata von der Klugheit zu leben

[64] Was war/ was ist/ und was noch werden kan/

Bedenckt ein weiser Mann.


Aria.


Glückseelig sind der klugen Augen

Die/ wie des Adlers scharfes Licht

Durch alle Sonnen-Strahlen bricht/

Mit solcher Schärf und Nutzbarkeit

In alle Zeit

Zu sehen taugen.

Glückseelig sind der klugen Augen.
[64]

Die meisten Menschen sind

Gleich einem Maulwurf blind/

Daß/ was vor ihnen ist/

Sie nicht ehr sehn/ biß sie es fühlen/

Und biß sie schon in ihrem Unglück wühlen.

Wer auf dem Meere dieser Welt

Der Klugheit Schifs-Compaß vergißt/

Wer seine Fahrt auf blindes Glück gestellt/

Wer nicht der Alten Wege finden/

Die Tiefen/ die vor ihm/ nicht kan ergründen/

Und selbst nicht weiß/ wohin die Tollheit schifft/

Der ist es/ der sich selbst ersäufet/

Freywillig auf die Klippen läufet/

Und den ein Sturm bey guten Wetter trifft.


Aria.


Klugheit muß das Schiff regieren/

Klugheit muß in Hafen führen/

Klugheit lebt hernach vergnügt.

Tausend hat ein Sturm bezwungen;

Nur der Klugheit ist gelungen/

Daß sie auch Gewalt besiegt.


Die Klugheit ist das Auge jeder Tugend/

Wer ohne sie den Weg zu finden meint/

Geht allzeit irr/ so richtig er auch scheint.

Fromm/ keusch/ gerecht/ und was sonst ungemein/

Kan ohne Klugheit schädlich seyn.

Ein Kluger sieht sein Alter in der Jugend/

Das/ was er künftig werden kan/

Wie das/ was er zuvor gethan/

Mit Weißheit vollen Augen an.

Und lernet draus/ die edle Zeit

Die vor ihm ist/ wohl anzuwenden.

Die Klugheit würckt mit Augen/ Ohr und Händen:

Sie hört und merckt/ was vormahls ist geschehn/[65]

Denn sieht sie und ergreift auch die Gelegenheit.

Wer so mit sich weiß umzugehn/

Den hat Gott recht zu seinem Bild erkohren.

Der heißt/ wenn ihm kein Purpur angebohren/

Wenn vor dem Scepter gleich kein eintzger niederfällt/

Ein König in der kleinen Welt.


Aria.


Komm doch/ Klugheit/ meine Schöne/

Küsse mich.

Du solst meine Liebste bleiben/

Denn du kanst die Zeit vertreiben/

Seeliglich.


Da Capo.

Quelle:
Christian Friedrich Hunold: Menantes Academische Nebenstunden allerhand neuer Gedichte, Halle/ Leipzig 1713, S. 64-66.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Raabe, Wilhelm

Die Akten des Vogelsangs

Die Akten des Vogelsangs

Karls gealterte Jugendfreundin Helene, die zwischenzeitlich steinreich verwitwet ist, schreibt ihm vom Tod des gemeinsamen Jugendfreundes Velten. Sie treffen sich und erinnern sich - auf auf Veltens Sterbebett sitzend - lange vergangener Tage.

150 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon