Viertes Kapitel

[334] Am folgenden Morgen wanderte Hermann nach der Buschmühle, mit sich einig über den Plan, nach welchem er die verirrten Jünglinge in das rechte Geleis zurückführen wollte. »Wie doch das Unangenehme meistens die besten Ausgänge hervorbringt!« sagte er zu sich selbst. »Ohne den gestrigen Vorfall würde ich meines Weges weitergezogen sein, und die Gelegenheit verabsäumt haben, etwas Gutes und Heilsames auszurichten.«

Als er am Orte der Zusammenkunft eintraf, fand er die Studenten schon auf einer Dachkammer versammelt. Fahl schien das Licht durch beräucherte Fensterscheiben und gab den ohnehin mit frühen Runzeln gezeichneten blassen Gesichtern dieser jungen Leute ein noch trübseligeres Ansehen. Sie saßen und standen umher, die Pfeife war, wie sich von selbst versteht, auch hier in voller Tätigkeit und der Qualm in dem engen Raume beinahe unerträglich. Der Mecklenburger kam auf[334] Hermann zu, faßte ihn bei der Hand und stellte ihn mit den Worten: »Da seht ihr endlich einen vom Männerbunde«, den andern vor.

Alle drängten sich um ihn und wollten vom Männerbunde wissen. Hermann versetzte: »Ich werde euch noch genug nachher zu sagen haben, jetzt tut ihr erst das Eurige.«

Die Studenten zogen Dolche aus ihren Röcken, zückten sie, und riefen mit dumpfer Stimme: »Den Verräter treffe der Tod!« Darauf warfen sie dieselben zusammen auf einen Haufen.

Der Mecklenburger setzte sich an einen kleinen wacklichten Tisch, in der Mitte der Kammer; ein andrer, der den Sekretär vorstellte, ihm gegenüber. Dieser zog ein Heft beschmutzter unordentlicher Papiere, welche Akten bedeuten sollten, hervor, und schlug seinen Kollegienstecher in die Tischplatte. Die übrigen saßen oder lagerten sich umher. Hermann nahm zu seiner Sicherheit einen Platz an der Türe.

Der Sekretär erhob die Stimme und fragte: »Welche Kreise Deutschlands sind hier auf diesem vierten Tage des Bundes der Jungen versammelt?«

»Obersachsen!« antwortete einer mit unzweideutiger scharfer Kopfstimme; »Franken!« riefen vier. Schwaben ward durch fünf. Niedersachsen und Westfalen jedes durch zwei vertreten, für Burgund meldeten sich drei schwarzhaarige einigermaßen heimtückisch aussehende Belgier. Bayern, Oberrhein, Niederrhein, Österreich fehlten.

Der Sekretär stand auf und sagte: »Bruder Präses, sechs Kreise Deutschlands sind versammelt.«

Der Mecklenburger entblößte sein Haupt und sprach: »Ich erkläre hiemit den Tag für beschickt und eröffnet. Geliebte Brüder des Bundes für Freiheit und Recht, Vernunft und Wahrheit! Frisch, frei, fromm, fröhlich, das ist immer die Hauptsache. Schwer Werk liegt auf teutscher Jugend, wir sollen die alte, dumm und faul gewordne Zeit wieder einrenken, die Flicker und Stücker vertreiben, den Stall lüften, das Molch- und Otterngezüchte aus seinen Höhlen schwefeln, daß alles teutsch werde, christlich und gut. Es ruht, wie gesagt, auf der Jugend, die Alten sind nichts nutze.«[335]

»Davon habe ich eben ein Beispiel gehabt«, sagte einer aus Franken. »Ich stehe mit meinem Alten in Rechnung, so viel für Hauspump, so viel für Bücher, Wäsche und so weiter. Nun hatte ich ihm sechzig Gulden für Kollegia angesetzt. Denkt euch, verlangt das Kamel, ich soll nachweisen, daß ich sie gehört habe.«

»Bruder, unterbrich mich nicht!« rief der Mecklenburger. »Laß deine eignen Angelegenheiten hinweg, wo es die große Sache des Vaterlandes gilt. Brüder! Lange Reden zu halten ist nicht meine Sache, ich bin aus Mecklenburg und heiße Brüggemann. Zuschlagen muß man, das ist das kürzeste, und jeder versteht, wie er dieses zu nehmen hat. Lange genug hat das Wort die Welt verfitzt, gesunde Knochen und tüchtige Fäuste sollen ihr wieder zum Besinnen verhelfen. Also Bruder Schreiber und Schriftwart, lies kurz und gut die Frage des Tages ab. Dann stimmt, und hernach streife jeder den Arm auf, gürte seine Lenden, und tue, was der Beschluß ihm auflegt!«

Der Sekretär las aus den sogenannten Akten: »Der dritte Bundestag hat die Königs- und Fürstenfrage zur Entscheidung des vierten gestellt. Die heute versammelten Kreise und Stände des Reichs, welches da kommen soll, haben folglich darüber abzustimmen: Sollen die Könige und Fürsten alle ohne Ausnahme niedergemacht werden, oder kann man in betreff einiger und welcher? mildere Entschließung eintreten lassen?«

»La mort sans phrase!« riefen die Belgier hastig.

»Burgundier«, versetzte der Präses, »es steht noch nicht einmal fest, ob wir euch zum Reiche nehmen, oder euch nicht lieber den Pariser Wölfen überlassen. Wollt ihr aber mit uns tagen, so redet die Sprache Teuts, und nicht die der Welschen und Franschen.«

»Ich lasse meinen König nicht umbringen«; sagte der aus Obersachsen. »Ich habe eine Freistelle auf der Fürstenschule gehabt, er heißt Friedrich August der Gerechte; was kann er dafür, daß er ein König ist.«

»Alle ohne Ausnahme abgemuckt!« riefen die Franken. Niedersachsen stand zu Obersachsen; die Debatte wurde stürmisch. Einige Schwaben und einige Westfalen suchten vergeblich[336] einander deutlich zu werden. Ein Kreis verstand den andern nicht.

Der Präses klopfte auf den Tisch, und redete, nach dem alles still geworden war, so: »Zankt euch nicht! Durch Span und Zwist sind die Reiche verfallen, das hat Rom und Griechenland gestürzt, soll auch unsre Stärke dadurch schwach werden? Ich meinesteils bin für Mäßigung. Furchtbar ist ein Volk, welches sich im Glücke zu fassen weiß. Wir haben die Oberhand, laßt sie uns nicht mißbrauchen. Ich schlage eine Sondrung vor. Die bis zur Leipziger Schlacht teutscher Sache noch nicht beigetreten waren, sollen sterben, und denen, die vor diesem Zeitpunkte ihre Pflicht erfüllt haben, geben wir Pension, oder Leibzucht, vaterländischer zu reden. Auf diese Weise sind wir zugleich gerecht und milde.«

Über diesen Vorschlag entstand ein hitziger Streit, bei welchem die äußerste Rechte und die äußerste Linke einander beinahe zu Kragen geraten wären. Endlich siegte die gemäßigte Mitte, die Mehrheit nahm den Vorschlag an, und der Mecklenburger entwarf sogleich die Pensionssätze, wobei der für den größten Fürsten von Norddeutschland mit besondrer Rücksicht auf dessen Verdienste und Schicksale bis zu achthundert Talern jährlich anstieg, obgleich die gewöhnliche Pension eines Königs nicht mehr als fünfhundert betragen sollte.

Während man noch mit der Festsetzung dieser Angelegenheit beschäftigt war, sagte ein Franke: »Ihr habt einen Hauptpunkt vergessen. Was soll mit den dirigierenden Bürgermeistern der freien und Hansestädte werden?«

Es entstand eine Pause allgemeinen Nachdenkens. »Daß auch in den sogenannten freien Städten keine Freiheit weilt, daß dort die Gewalt oft noch verderbter ist, als in den Fürstentümern, kann niemand leugnen«, sagte endlich der Präses. »Wo wird man mehr mit dem Paß geschoren, als in Frankfurt? Wo ist teurer leben, als in Hamburg? Aber dein Bedenken ist ganz richtig, Bruder. Wenn wir auch die Bürgermeister hinwegräumen, so bleiben ja immer noch die Senate übrig, fünfzig Mann in jeder Stadt, die zur Zwingherrschaft berechtigt, ja auch daran beteiligt sind.«[337]

Die Burgundier rieten zur Abschlachtung der gesamten Senate, welcher Gedanke jedoch als zu blutdürstig von den eigentlich deutschen Kreisen einstimmig verworfen wurde. Man sprach von Kerker, eidlichem Verzicht und dergleichen, fand aber diese Mittel alle zu ungenügend. Zuletzt rief ein Schwabe: »Brüder! Eine nach der andern frißt der Bau'r die Würst'. Laßt uns die Könige und Fürsten erst einmal auf'm Kraut haben, unterweil fällt uns vielleicht wegen der Bürgermeister etwas ein.«

Alles lachte über den Schwaben, konnte aber gleichwohl keinen besseren Rat ersinnen, denn er. Wer weiß, wie lange dieses Nachdenken noch fortgesetzt worden wäre, wenn nicht Hermann, der dem Wahnsinne nicht länger zuzuhören vermochte, eine Doppelpistole, welche er in der Stadt erhandelt, herausgezogen und sie vor den Studenten langsam scharf geladen hätte? »Was soll das?« fragten einige.

»Der Männerbund führt nur Schießgewehr«, versetzte Hermann kalt. Er spannte den Hahn und hielt die Pistole vor sich hin. Dann sagte er: »Der erste, welcher mir zu nahe kommt, wird totgeschossen. Ihr albernen Toren, ihr verblendeten Jünglinge! Ein schlimmes Übel erfordert bittre Arzneien. Indem ich euch zu heilen unternehme, sage ich daher, daß ich nicht weiß, ob ich über eure Schlechtigkeit zürnen, oder über eure Dummheit lachen soll. Ihr beruft euch, irregeführt von euren Verleitern immer auf das Altertum; ahmt demselben nach und erinnert euch zuerst daran, daß zu jenen Zeiten die Jungen nicht mitsprechen durften; in Sparta mußte einer dreißig Jahre alt sein, wenn er den Mund über Staatsangelegenheiten auftun wollte. Ihr Unsinnigen, die ihr euch herausnehmt, Könige und Fürsten absetzen, pensionieren, ja erdolchen zu wollen, weil sie, wie ihr wähnt, ihrer Würde nicht vorzustehen wissen, und die ihr selbst noch nicht den allerkleinsten und abgeleitetsten Teil dieser Würde zu bekleiden vermöchtet! Geht in euch, lernt eure Hefte, singt Trink- und Burschenlieder, genießt die schöne Jugend, und überlaßt die Sorge um den Staat den Alten. Eines sage ich euch noch. Ich halte euch nicht für so unvernünftig, daß ihr auf eure eigne Faust, ohne Hülfe älterer gewichtigerer Männer zu revolutionieren die Tollkühnheit[338] besitzen solltet. Nun denn, so erfahrt, daß, wenn ihr aufsteht, kein Torschreiber und Supernumerarius euch beispringen wird; alles, was den Burschenrock ausgezogen hat, sitzt ruhig, mit Tabagiegespräch zufrieden, im bürgerlichen Leben, der Männerbund ist eine Lüge, womit euch irgendein Bösewicht geködert hat; ihr seid die Affen, welche für die Katze die Kastanien aus dem Feuer holen sollen.«

Schwer würde es sein, die Wirkung dieser Anrede auf die Studenten zu beschreiben. Sie hatten sich in einem Winkel zusammengedrängt, zitterten vor Grimm, waren jedoch keinesweges lüstern, der Mündung des Pistols näher zu treten. Vielmehr gaben sie ganz das Bild gemalter Wüteriche ab, wie Shakespeare sagt.

Hermann war eben im Begriff, seinen Spruch mit einer gesteigerten Nutzanwendung zu schließen, als von unten Stimmen ertönten und Pferdegetrappel hörbar ward. Diese Laute verwandelten auf einmal die Szene. Hermann und die Studenten rannten einträchtig zu einer Bodenlucke und sahen den ganzen Hof voll von Gendarmen, Häschern und bewaffneten Bauern. Sogleich ergriffen die jungen Leute mit katzengleicher Geschwindigkeit die Flucht. Einige ließen sich eine Falltüre hinunter, andre verkrochen sich in den dunkelsten Ecken des Gebälks, die Entschlossensten kletterten auf die den Häschern abgekehrte Seite des Dachs, sprangen in den Garten und eilten zu Walde. In einem Augenblicke war der ganze Söller von den Demagogen leer, nur Hermann blieb im Gefühle seiner Unschuld auf demselben zurück.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 334-339.
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