Achtes Kapitel

[384] Es schien, als seien die nächsten Tage bestimmt, unsres Freundes Herz, welches schon in kalten, seltsamen Umgebungen zu frieren begann, wieder von neuem auszuwärmen. Johannas Not regte mächtig sein Gefühl auf, und kurz nach jenem Abende sollte er auch einen alten Freund wiedersehn.

Er war in Madame Meyers Gesellschaft gewesen. Als geborner Hansestädter an reichliche Mahlzeiten gewöhnt, empfand er nach den dort landüblicherweise genossenen dünnen Butterschnittchen immer noch einen lebhaften Appetit, den er nun in einer Restauration stillen wollte. Aber obgleich es erst eilf Uhr war, so herrschte in diesem Teile der Stadt doch schon eine Totenstille, die Fenster waren dunkel, die Läden geschlossen und nur die Laternen warfen ihr mattes Licht über die menschenleeren Straßen. Er kam endlich in die Nähe eines Gasthofs, vor dessen Türe sich jemand in ähnlicher Not befand, wie er. Ein Reisender suchte mit Rufen, Schelten und Klopfen vergebens Einlaß durch die bereits fest verschloßne Pforte zu gewinnen. Das Geräusch zog Hermann mechanisch näher, und er erkannte mit freudigem Schreck die Stimme seines Freundes Wilhelmi. Dessen Freude war nicht geringer, beide begrüßten einander auf das herzlichste. Nachdem sie durch vereinte Bemühungen die Öffnung des Wirtshauses erwirkt hatten, Wilhelmis Wagen und Gepäck untergebracht worden war, blieben sie noch einen Teil der Nacht in traulichen Gesprächen beisammen. Hermanns erste Frage war, was Wilhelmi so unerwartet herführe? worauf jener ihm erwiderte, daß sein Verhältnis zum herzoglichen Hause gelöset sei, und daß er komme, um seine Sammlung dem großen Museum zu verkaufen. Man[384] habe ihm die bestimmte Hoffnung gemacht, ihm als Preis eine feste Anstellung bei jenem Institute zu geben.

Hermann wußte, wie leicht man es mit solchen Versprechungen des Orts nehme, und erschrak über den unbedachten Entschluß des Freundes. Er hütete sich indessen, seine Befürchtungen ihm mitzuteilen, um Wilhelmis Hypochondrie nicht rege zu machen. Wahrhaft schmerzlich war ihm aber die Lösung der Bande, welche er in Achtung, Liebe und Bedürfnis fest gegründet erachtet hatte. Auch der Arzt, so hörte er von Wilhelmi, sinne darauf, dem Schlosse Lebewohl zu sagen. Am befremdlichsten klang, was er über die Herzogin vernahm. Sie sei, erzählte Wilhelmi, nach Hermanns Abreise in eine düstre Melancholie verfallen, welche sich durch einen sonderbaren Widerwillen gegen die Gesellschaft ihres Gemahls ausgezeichnet habe. In dieser Stimmung habe sich der Geistliche ihrer bemächtigt, mit welchem sie nun den größten Teil ihrer Zeit in Andachtsübungen, die zuweilen selbst in Kasteiungen ausarten sollten, verbringe. Der Herzog sei über diesen Zustand um so bekümmerter, als ihm grade jetzt der vom Kaufmann nun mit vollem Eifer betriebne Prozeß viel zu schaffen mache.

Alles dieses konnte Hermann wenig erfreun. Es tat ihm wehe, daß ein so treuer gefühlvoller Mann, wie Wilhelmi, sich seinen Gönnern in einem solchen Augenblicke hatte entziehen können.

»Ich will mich nicht rechtfertigen«, sagte dieser, als Hermann nach einigen Tagen eine leise Andeutung seiner Empfindung blicken ließ. »Es gibt Dinge und Worte, die mit magischer Kraft das Gemüt unwiderstehlich nach sich reißen, und so muß ich dir gestehn, daß ich, in abgelegnen Winkelverhältnissen hingehalten, nicht zu widerstehn vermochte, als mir die Aussicht erschien, mich dem Öffentlichen angereiht zu sehn. Wie einst das Heilige Grab und späterhin die Neue Welt jeden strebenden Geist siegreich lockte, so ist es jetzt mit dem Staate. Nur das, was an ihn sich lehnt, nur das, was von ihm erkannt wird, hat Glauben an sich selbst, die Zeit der Privatdienstbarkeit ist durchaus vorüber.«

»Du sprichst da etwas aus, welches mir schon lange das Herz beschwert hat«, versetzte Hermann. »Wenn ich die Dokumente[385] jener verspotteten empfindsamen Zeiten betrachte, so muß ich sagen, daß diese schwärmerischen Freundschaften auf Leben und Tod, diese leidenschaftlich-platonischen Liebesverhältnisse, diese begnügten Familienglückseligkeiten, wie sie damals gang und gäbe waren, jetzt fast aufgehört haben. Das Gemüt hat die Fähigkeit verloren, sich in so traulicher Enge zu regen, alle Kräfte und Sinne der Menschen streben weiteren und höheren Zwecken zu. Das wäre nun recht schön, wenn wir nur schon ein Vaterland, oder große öffentliche Einrichtungen hätten. Aber alle diese erhabnen Tröstungen zeigen sich bei näherer Betrachtung denn doch meistens als Schein, höchstens als ziemlich schwache Versuche. Und so darbt unser Herz über den Mangel eines Freundes, einer Geliebten, eines Hauses sich zu Tode, und wenn es sich auf einem andern Altare opfern möchte, so fehlt eben dieser. Wahrlich, es ließe sich ein Werther des neunzehnten Jahrhunderts schreiben, der an diesem Doppel- und Nichtzustande verginge, und dessen Klagen auch rührend und beweglich ertönen würden.«

»Ja, wir leben in einer Übergangsperiode«, sagte Wilhelmi. »Das ist ein trivial gewordnes Wort, welches alle Schulknaben jetzt nachplappern. Schwieriger ist es, die ganze Bedeutung desselben zu fühlen, sympathetisch mitzuempfinden, wie viele Menschen an einem solchen Übergange zugrunde gehn. Wohl befinden sich in der Gegenwart eigentlich nur die oberflächlichen Naturen, welche von Schatten und Klängen genährt werden, während jede tiefer gehöhlte Brust ein heimliches Verzagen erfüllt. Auf alle Weise sucht man sich zu helfen, man wechselt die Religion, oder ergibt sich dem Pietismus, kurz, die innere Unruhe will Halt und Bestand gewinnen, und löst in diesem leidenschaftlichen Streben gemeiniglich noch die letzten Stützen vom Boden.«

»Wunderbare Gedanken und Träume beherrschen die Menschen«, sagte Hermann. »Trotz alles Redens von der praktischen Richtung des Zeitalters laufen die Vorstellungen und Dinge weit auseinander, und der Wahn hat eine furchtbare Macht gewonnen. Es ließe sich der Fall denken, daß jemand unter der Last eines eingebildeten Schicksals sein Leben hinkeuchte, und stürbe, ohne das Antlitz der Wahrheit geschaut zu haben.«[386]

»Wiederum aber sind auch die außerordentlichsten Glücksfälle gedenkbar«, versetzte Wilhelmi. »Eigentum und Besitz haben ihre schwere, tellurische Natur aufgegeben, sie streichen, gasartig verflüchtigt, durch die Lüfte, und niemand von uns weiß, ob nicht auch er in den Bereich eines solchen ziehenden Schwadens kommen werde. Kurz, Freund, es kann an deiner, und es kann an meiner Stirn mit unsichtbarer Schrift das Wort: Millionär, geschrieben stehn, so wenig Anschein die Sache auch jetzt für sich haben mag.«

»Nein, in der Tat, danach sieht es bei mir nicht aus«, sagte Hermann lächelnd. »Ich will nur froh sein, wenn ich aus meinem badenschen Ankaufe mit einem blauen Auge davonkomme. Übrigens wüßte ich auch nicht, was ich mit vielem Gut und Gelde beginnen sollte, es hat wenig Reiz für mich.«

»Um so geschickter bist du vielleicht, Vermögen zu bewahren«, antwortete Wilhelmi. »Oft kommt mir alles Eigentum wie ein Depositum vor, welches bei uns für ein nachkommendes glücklicheres Geschlecht hinterlegt worden wäre, welches wir treulich den Enkeln aufzuheben, aber selbst nicht zu genießen hätten.«

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 384-387.
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