Neuntes Kapitel

[114] Eine geheime Scheu hatte ihn noch immer abgehalten, sich seinen Wohltätern vorstellen zu lassen, obgleich er das lebhafteste Verlangen empfand, der edlen Herzogin wieder in das Antlitz zu sehn. Er errötete, wenn er ihrer gedachte, und verschob den Tag des Besuchs von Woche zu Woche, unter dem Vorwande, daß er noch zu angegriffen sei, um in Gesellschaft erscheinen zu können, obgleich der Arzt ihm längst alle Rechte der Gesunden eingeräumt hatte. Diesem Manne mußte er sich dankbar und verpflichtet fühlen; dennoch empfand er kein Behagen an seinen Gesprächen. Der Arzt hatte seine Wissenschaft mit Geist und Freiheit studiert, die verwandten Naturgebiete waren von ihm in den Kreis der Betrachtung gezogen worden, er teilte sich gern und ausführlich mit. Aber freilich hatten diese Studien die gewöhnliche Folge gehabt. Dem Eingeweihten war das animalische Leben die Hauptsache geworden. Von Natur zweiflerisch gesinnt, hatte er durch ein wundes Verhältnis welches ihn heimlich peinigte, einen noch schärferen Blick für den Zwiespalt der einzelnen Dinge bekommen. Alles Geistige und Gemütvolle fand an ihm einen entschiednen Verneiner, der die ätzendsten Einwürfe im ruhigsten Tone vortrug.

Jene trostlose Meinung, daß der Mensch sich nur durch eine Art von höherem Instinkt über das Tier erhebe, trat hier in reiner ausgeprägter Gestalt auf. Der Arzt war unerschöpflich in Beispielen, welche beweisen sollten, daß alles ideelle Streben der Menschheit und des Menschen immer nur zur Torheit oder zum Verbrechen geführt habe, daß der Kreis, in welchem sich die Geschlechter umherdrehn, ein überaus kleiner sei, und daß nur die unermüdliche Einbildung der Selbstgefälligkeit ihn zu einem großen erweitre, oder seine Peripherie in die beliebte[114] grade Linie nach dem sogenannten Ziele der Vollkommenheit verwandle.

Hermann hatte sich, wie wir wissen, selbst für einen frühreifen Propheten des Nihilismus gehalten. Wie aber das Licht der Kerze neben der Strahlenglut der Sonne erbleicht, so schmilzt die Spielerei eines angeeigneten Wahns am Feuer einer echten Gesinnung. Er bestritt den Arzt mit allen Waffen, die ihm zu Gebote standen, und führte die Sache der Begeistrung, so gut er konnte. An Eifer fehlte es ihm nicht, aber die Rüstkammer, welche für solchen Streit nur in der Geschichte oder in dem eignen, auf große Weise geführten Leben anzutreffen ist, war ihm verschlossen. Sein Leben, wenn er es gründlich untersuchte, erschien ihm ziemlich dünn, und die Geschichte hatte er, wie er zu seinem Schrecken bemerkte, über der Beschäftigung mit den Zeitungen bis auf einige allgemeine Umrisse fast vergessen. Der Fülle von Stoff, welche der Arzt phalanxartig ihm entgegensetzte, wußte er selten auslangend zu begegnen, und mußte sich eines Tages, als jener jede eigentliche Freundschaft bestimmt leugnete, und mit grausamer Deutlichkeit alle Verbindungen unter Männern aus dem Interesse ableitete, mit dem Argumente der Frauen helfen; daß er trotz allem Gesagten doch fühle, es sei anders und besser.

»Orest und Pylades, Damon und Pythias gehören in das Reich der Fabeln«, sagte der Arzt. »Wenn es wahr ist, was man von Jonathan erzählt, so sehe ich darin nichts Großes. Er wußte recht wohl, daß er von seinem Vater Saul wenig zu befürchten habe, und daß es immer vorteilhafter sei, sich zur aufgehenden Sonne zu halten, als zur sinkenden. Und so geht es noch heutzutage. Wie empfindsam wurde der Göttingische Dichterbund ausgeputzt! Die Jünglinge umarmten einander unter der Bundeseiche unweit der Leine, hoben die Finger empor und leisteten den Schwur ewiger Treue, Klopstock erschien in ihren Versammlungen als Oberpriester und Erzdeutscher; wie schön, wie erhebend! Die Treue hielt auch vor, solange einer vom andern regelmäßig seine Ode empfing; als aber dieser Tauschhandel wechselseitiger Begeistrung flau ward, schlief die Liebe allgemach ein, und an ihrer Stätte erwachte ein grimmiger Haß, der noch nach Jahren gedruckt[115] hervorbrach, und von dem wenigstens ich den Grund nur darin finde, daß Voß Stolberg und Stolberg Voß zu besingen überdrüssig geworden war. Glauben Sie mir, die Sache steht, nüchtern betrachtet, so: Jugendfreundschaften dauern nie aus, und was in den späteren Jahren Freundschaft genannt wird, bezieht sich auf Sachen und Zwecke, nicht auf die Person. Wenn man aufrichtig sein will, so wird man sich gestehen müssen, daß ein Mann immer vor dem andern im letzten Winkel seiner Seele einen geheimen Widerwillen behält. Auch in dieser Hinsicht sollten wir uns von unsern Mitgeschöpfen nicht so weit entfernt glauben. Der Sozietätstrieb läßt sich nicht leugnen; er ist aber auch in den Ameisen und Bienen, in der Wanderratte, und unter den Vögeln, in den Krähen und Staren sichtbar. Die Freundschaft soll, wenn sie echt ist, reingeistiger Natur sein, nun frage ich: wie kann sie also uns, die wir in Haut und Knochen, Fleisch und Sehnen hangen, eignen?«

»Mit solchen Reden kann man freilich den Frühling entlauben, die Menschheit entmenschen, und den Himmel entgöttern!« rief Hermann. – »Sie selbst aber sind, wie alle Verkündiger des Nichts, Ihr eigner Widerleger. Sie fühlen sich zu andern hingezogen, ohne Eigennutz; Sie haben Zuneigungen, die um ihrer selbst willen vorhanden sind, ohne Rücksicht auf Vorteil, oder sonstige unedle Motive.« – »Was wollen Sie damit sagen?« fragte der Arzt verlegen.

»Ich bin geheilt. Ihr Amt hat bei mir aufgehört«, versetzte Hermann warm und eifrig. »Dennoch kommen Sie täglich zu mir. Ich weiß, daß ich Ihnen nichts bieten kann, was Ihren Verstand beschäftigte. Und doch kommen Sie, und wir sind stundenlang zusammen. Soll ich aus dieser Annäherung, wodurch Sie mich höchlich ehren und erfreun, die Folgrung gegen Sie machen, oder übernehmen Sie dies nun selbst?«

»Ich muß ja wohl«, erwiderte der Arzt, indem er beruhigt Atem schöpfte, und seine Hand aus der Hand Hermanns, ohne dessen Druck zu erwidern, zurückzog. Er sprach von andern gleichgültigen Dingen, konnte aber ein Lächeln nicht verbergen, womit er hin und wieder unsern Freund von oben bis unten betrachtete. Beim Abschiede sagte er: »Sie glauben[116] nicht, wie unsereinen, jetzt, wo man fast nur eingebildete Kranke unter Händen hat, ein wirkliches großes Übel, wie das Ihrige war, anzieht. Und dann sah ich, als ich Sie baden ließ, daß Sie den schönsten normalsten Körper besitzen, den ich je erblickte. Ich muß gestehn, daß mir ein solcher Leichnam noch nie auf dem anatomischen Theater vorgekommen ist.«

Hieraus merkte denn Hermann freilich, daß er dem Arzte mehr ein pathologisches Objekt sei, als ein Gegenstand der Zuneigung. Verstimmt und traurig fand ihn Wilhelmi, der in der Regel gegen Abend kam, mit ihm Schach zu spielen. Zu diesem zog ihn die Sympathie in dem Maße hin, als ihn der Arzt abstieß. Auch hier trat ihm eine verzweifelnde Ansicht des Lebens entgegen, aber die Verzweiflung entsprang aus dem fruchtlosen Suchen nach der irdischen Erscheinung der himmlischen Urania. Wilhelmi gehörte zu den vielen Deutschen, bei denen der Sinn die Tatkraft überwiegt. Es scheint fast, daß man mit einem gewissen Leichtsinn handeln müsse, um eigentliche Resultate zu erblicken. Er war mit seinem bedeutenden Verstande, mit seinen Kenntnissen und Gesinnungen doch nur in kleinliche Verhältnisse geraten; unter Zaudern und Wählen waren ihm die besten Lebensjahre verstrichen. Nun war er der Diener eines abgelegen hausenden Dynasten, und konnte sich in dieser Stellung unmöglich gefallen. Aus dem Mißverhältnis, in welchem er sich zu seinem Geschicke fühlte, erwuchs ihm das Gefühl für das allgemeine Mißverhältnis in der Welt, ein Gefühl, welches durch körperliche Leiden noch geschärft wurde. Unzufrieden mit allem, was er in der Wirklichkeit sah, erbaute er sich eine Art von Traumwelt, und suchte sich in allerhand Willkürlichkeiten eine problematische Existenz zu gründen, da das Leben ihm die Mittel zu einer andern nicht bieten wollte.

Die Jugend hat einen natürlichen Hang, die Welt anzuklagen, um das Recht zu bekommen, sie zu verbessern, und wer diesen Ton voll und stark erklingen läßt, wird ihr immer angenehm sein. Hermann hatte von dem ernsten verdrießlichen Manne eine hohe Meinung gefaßt, und überbot sich mit ihm in Reden gegen die Menschheit und Zeit, wo es sich denn oft ergab, daß er über das Ganze grade das Gegenteil von dem[117] sagte, was er kurz vorher dem Arzte gegenüber im Einzelnen aufrecht zu erhalten versucht hatte. Der Schimmer des Geheimnisvollen, welcher Wilhelmi umwebte, vermehrte nur den Eindruck seiner Persönlichkeit. Hermann hatte bemerkt, daß wenn er jenen nach seiner Wohnung im ältesten Teile des Schlosses begleitete, er nicht in das eigentliche Arbeitszimmer des Freundes gelassen, sondern in einem Vorgemache abgefertigt wurde. Die Spöttereien des Arztes über die Höhle des Sehers, welche kein Profaner betreten dürfe, reizten seine Neugier nur noch stärker, und er spürte mehrmals die Versuchung, wenigstens durch das Schlüsselloch in das Mysterium zu blicken, wenn Wilhelmi, ihn zurücklassend, durch die Pforte abschritt, um ein Buch, oder sonst etwas, worauf die Unterhaltung geführt hatte, zu holen.

Wilhelmi seinerseits erfreute sich endlich eines geduldigen Zuhörers, ja einer zweiten Stimme in dem Konzerte, welches er so gern anstimmte, und in dem er bisher fast immer nur Solo hatte spielen müssen. Aus dem Zusammenreden entstand bald ein Zusammenempfinden, und da Hermann ihm mit wahrer Liebe entgegenkam, so konnte ein aufrichtiges Wohlwollen des älteren Mannes nicht ausbleiben. Dieser nahm sich im stillen vor, eine Lieblingsgrille, welche er noch niemand zu eröffnen gewagt hatte, mit seinem jungen Freunde auszuführen.

Als einige Partien gemacht worden waren, in denen sich Hermann heute ziemlich schwach verhalten hatte, stand Wilhelmi auf, ging mit feierlichem Anstande durch das Zimmer, trommelte sodann auf den Fensterscheiben, und sagte und tat hiernächst gewisse Dinge, die nicht verraten werden dürfen. Seine Mutmaßung bestätigte sich. Hermann antwortete, wie er mußte, und beide schüttelten einander als Brüder einer weit verbreiteten Genossenschaft herzlich die Hand. »Kommen Sie«, sagte Wilhelmi, »ich habe Ihnen etwas zu vertraun.« Erwartungsvoll folgte Hermann seinem Verbündeten durch die langen Gänge des Schlosses. Es war schon spät, und die Fußtritte hallten auf dem Estrich. Wilhelmi nahm in seinem Vorzimmer zwei Armleuchter vom Tische, zündete die Kerzen an, und hieß mit dem Ernste eines Magus Hermann in das Allerheiligste treten.[118]

Wir meinen das Studierzimmer. Hier wurde freilich die Erwartung des Gastes enttäuscht. Er sah nichts, als eine Art Faustischer Zelle, wie sie zu jedem deutschen Gelehrten herkömmlich gehört. Bücher standen auf Brettern, die vom Fußboden bis zur Decke emporreichten, Glasschränke mit Antiquitäten und allerhand Seltenheiten nahmen den übrigen Raum ein, jede etwa noch leere Stelle an der Wand war mit einem Kupferstiche, einer Zeichnung, oder einem Risse zugedeckt. Man konnte sich kaum umdrehn. Vergebens aber spähte Hermann nach Geheimnissen. »Warum halten Sie dieses Zimmer so verborgen?« fragte er ungeduldig seinen Wirt, der mit ängstlicher Sorgfalt einige Federn, die von dem ein für allemal angewiesenen Orte gewichen waren, zurechtlegte.

»Hier ist der einzige Raum auf der Welt, wo ich frei Atem hole«, versetzte Wilhelmi. »Zwischen diesen vier Wänden liegt mein Asyl; hier kann ich sein, wie ich will, und nur mein innigster Freund soll dieses kleine Königreich mit mir teilen. Kein kaltes, kein freches Gesicht störe den Frieden, der hier mich umsäuselt! Hier bleibe es Ordnung, wenn die Unordnung draußen auch noch so groß wird.«

Wirklich schien dieses Gemach, so überfüllt es war, ein Heiligtum saubrer Genauigkeit zu sein. Kein Stäubchen wäre wegzublasen gewesen, denn Wilhelmi fegte selbst mehrmals des Tages alles ab, und dem Diener war nur erlaubt, den Grund zu kehren. Symmetrisch geordnet lagen und standen auf dem Schreibtische Papiere, Federmesser, Brieffalzer in abgemeßner Entfernung voneinander, umsonst würde ein Maler hier das Modell zu der reizenden Verwirrung eines Stillebens gesucht haben. In Reihe und Glied schnurgrade standen die Bücher, von himmelblau angestrichnen Brettern hoben sich die Raritäten hinter wasserhellen Scheiben nett und deutlich ab.

»Helfen Sie mir!« sagte Wilhelmi zu Hermann, der die Totenurnen, die Elfenbeinsachen in den Schränken, die Zeichnungen und Risse an den Wänden betrachtete. Sie gingen in ein Seitenkabinett, und Wilhelmi schlug den Deckel von einem großen Kasten zurück. Mit Verwundrung sah Hermann darin einen vollständigen mystischen Apparat.[119]

Als sie ihn auspackten, horchte Wilhelmi auf. »Mir war es«, sagte er, »als hörte ich ein Geräusch.« Im Zimmer war aber nichts zu erblicken. Vorsichtig schloß er die Türe nach außen ab.

Hierauf schmückten beide das Zimmer in seltsamer und geheimnisvoller Weise aus. »Tun wir auch recht?« fragte Hermann bedenklich. »Es ist auf kein Schisma abgesehn«, versetzte Wilhelmi, »ich stelle diese Zeichen nur um uns her, unsre Gedanken von der gemeinen Alltäglichkeit abzusondern, die leider in jedem Momente sich aufdrängt.« Er nahm in einem thronartigen Lehnstuhle Platz, Hermann mußte sich gegenüber auf einem Tabouret niederlassen. Er war sehr gespannt auf das, was aus diesen Anstalten sich entwickeln werde. Wilhelmi begann seinen Vortrag folgendermaßen.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 114-120.
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