Zehntes Kapitel
Das kürzeste Kapitel dieses Buches nebst einer Anmerkung des Herausgebers

[112] Die letzteren Reden zu verstehen, muß gesagt werden, bevor Münchhausen wieder das Zimmer betritt, daß unter den vielen wunderwürdigen Dingen, die den Schloßbewohnern an dem Gaste auffielen, zwei im vorzüglichsten Grade ihr Erstaunen erregten. Er hatte nämlich ein blaues und ein braunes Auge, welcher Umstand seinem Antlitze einen ungemein charakteristischen Ausdruck gab, um so charakteristischer, als, wenn seine Seele voll gemischter Empfindungen war, die verschiedenen Elemente solcher Stimmungen gesondert in den beiden Augen hervortraten. Fühlte er z.B. eine freudige Wehmut, so leuchtete die Freude aus dem braunen Auge, die Wehmut dahingegen zitterte im blauen. Denn diesem blieben die zarten, dem braunen die starken Gefühle zugewiesen.

Sein Gesicht war, wie ich es schon beschrieben habe, nämlich bleich, mit einem gelblichen Anfluge, etwa von der Farbe des pentelischen Marmors, oder eines in Wachs gesottnen Meerschaumpfeifenkopfes, der seinen Raucher noch nicht gefunden hat. Stiegen in ihm Affekte auf, welche bei uns andern ein Erröten hervorzubringen pflegen, so lief über seine Gesichtsfläche ein grüner Farbenton. Daher hatte der alte Baron auch sehr richtig den Ausdruck: Ergrünen, gebraucht, und wir werden uns desselben ebenfalls bedienen müssen, wenn Münchhausen im Verlaufe dieser Geschichten in Affekt geraten und die Farben wechseln sollte.

Anfangs hatten die Schloßbewohner diese Phänomene mit einem geheimen Schrecken betrachtet. Bald indessen tilgten die großen Eigenschaften des Mannes und seine hinreißenden Darstellungen den Schrecken, und es blieb nur eine starke Neugier nach, was es mit jenem Farbenspiele für eine Bewandtnis haben möge? Diese Neugier war begreiflicherweise in dem alten Baron am stärksten.

Aber sie sollte auch an diesem Abende noch nicht gestillt werden. Denn nachdem er mit seiner Tochter eine geraume[112] Zeit auf die Rückkunft Münchhausens gewartet hatte, trat statt seiner der Bediente Karl Buttervogel in das Zimmer und sagte: »Mein Herr läßt sich entschuldigen; er kann das Buch nicht finden. Auch muß er« – setzte der Mensch geheimnisvoll und halbleise hinzu – »seine chemischen Mittel brauchen.«

»Mittel? Chemische Mittel?« fragte der alte Baron besorgt. »Ist Sein Herr krank geworden?«

»Das nicht«, versetzte Karl Buttervogel, »aber der Lebenspurzeß kam in Abnahme und die Gassen müssen angewendet werden.«

»Er will wohl sagen: Lebensprozeß, und: Gase?« sprach der alte Baron nach einigem Besinnen. »Aber was soll denn das bedeuten?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte der Bediente mit einer wichtigen Miene. »Es ist noch nicht aller Tage Abend und mit meinem Herrn steht es so so. Ein gescheiter Herr, ein gelahrter Herr, aber, aber, ich lobe mir Vater und Mutter!«

Der Schloßherr drang vergebens in den Menschen, sich näher zu erklären. Das neue Geheimnis hatte indessen nicht Zeit, in den Seelen der Schloßbewohner Wurzeln zu schlagen, denn Münchhausens Reden waren gerade in den Tagen, welche diesem Abende folgten, besonders gehaltreich, so daß der alte Baron selbst die Frage nach den Ursachen des Farbenspiels im Antlitze seines Gastes eine Zeitlang vergaß.

Wir werden im folgenden einige dieser Reden und Erzählungen zur Kunde der Lesewelt bringen.


Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 3, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 112-113.
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