Drittes Kapitel
Blätter aus Emerentias Tagebuche

[251] »Was Vorläufer! Es kommt uns niemand nachgelaufen« – und: »Ich kenne keinen Größeren, diese Kondition gefällt mir nicht, ich setze mich auf meine eigene Hand.« – So hat denn also des Schicksals Zeichen recht. Blumenhut und Lauferschurz deuten nicht in die ungewisse Ferne, nein, in der nächsten Nähe hält sich, den meine Seele ewig lieben wird, mein Fürst, mein Freund, der Birmane von Nizza! Nach langen Prüfungsjahren schlägt die Stunde der Wiedervereinigung, die Augen meines Freundes suchen mich unter den Töchtern von Zion, und Sulamith schläft nicht, die Taube. Niemanden sendet er voraus, »gleich kommt er selbst, er ist im Schlosse, denn es läuft ihm ja niemand nach« – er ist da, denn »er kennt ja keinen Größeren«. – Glückliche Emerentia!


*


Aber welcher von beiden ist's? – Ist's der Freiherr, oder bis du es, Karl? Hier prüfe, hier sei bedachtsam, hier zeige deinen ganzen Scharfsinn, Herz! –


*


Ach, das Herz ist stumm. Münchhausen und Karl sind mir beide gleichgültig. Das ist nun herrlich für die ferneren Beschlüsse des Geschicks, da ich dem Fürsten nur Freundin im reinsten Sinne des Worts sein will, aber übel für den Augenblick.


*


Denn ich erkenne den Plan des Prätendenten von Hechelkram. Unter der Verkleidung will er seine Emerentia erforschen, und wie herrlich würde sie ihre Aufgabe lösen, wenn sie plötzlich vor den Wahren träte und spräche: »Fürst, Sie sind erkannt; Liebe sieht mit Adlersblicken, Treue hält, was sie gefaßt, teuren Hauptes leisestes Nicken kündet den ersehnten Gast!«
[251]

*


Daß mir beide so gleichgültig sind! – Eigenartige Qual, seltsame Verwirrung, festgeschürzter Knoten!


*


Ich glaube, der Freiherr ist's. Wir standen heute am Entenpfuhl, friedlich fischte das Gefieder nach dem grünen Flott zu unsern Füßen, ein erquickender Landregen fiel sanft vom grauen Himmel, der Freiherr erzählte mir eine seiner sinnigen Geschichten, wie er vorlängst durch ein Senfpflaster, auf das Haupt gelegt, und dessen Ziehkraft sich ein ausgefallenes Bein wieder eingerenkt habe – mein Busen wurde so weit, mir wurde so wohl und so weh, so – so –

Dumme Störung! Da werde ich gerufen, um Speck auszugeben. Wo die Lisbeth nur bleibt, die Landstreicherin, das unnütze Geschöpf? Kommt sie wieder, soll sie es entgelten.


*


Nein! Nein! Nein! Das Geheimnis ward offenbar, Karl ist Rucciopuccio! Da sitze ich in der tiefen Stille der Mitternacht auf meiner einsamen Kammer und vertraue euch stummen Blättern die wundersame Post. Ja, wundersam muß ich wohl diese Fügung nennen, welche zum zweiten Male den Nußknacker entscheidend in mein Leben blicken läßt.

Ich stand heute in der Frühe schon mit einer Fülle von Ahnungen von meinem Lager auf. Die Strümpfe sahen mich so bedeutend an, in den Pantoffeln war ein stilles Wesen und Weben, die lange Schnuppe des Nachtlichts, welches herabgebrannt war, wies tiefsinnige Figuren. Ist es mir doch einmal bestimmt, daß nichts gewöhnlich um mich sein kann, bin ich doch in allen meinen Tagen das Spielwerk dunkler, hoher Mächte gewesen!

Mein Haupt war wirr und wüst! Ich stieß das Fenster auf, die glühende Wange im Morgenwinde zu kühlen. Von Nizza hatte ich in der Nacht geträumt, vom Meer, von den Alpen. Die beiden Juden hatte ich auf dem höchsten Gipfel gesehen, die mich nach der schrecklichen Katastrophe den Eltern brachten. Sie standen in einer Glorie von Sonnenstrahlen, hatten Schmerz in den Zügen, und ich hörte den einen zum andern[252] sagen: »Daß man uns gemacht hat zu guten Staatsbürgern, das ist die Trauer von unsren Leuten in der Gegenwart, woraus sie malen Bilder und schreiben Verse. Die alte Zeit, die alte Zeit war besser, Jakob, wo wir rumliefen, wie unsre Väter in der Wüste Sin, die da lieget zwischen Elim und Sinai.«

Ein bedeutender Traum, ein prophetischer Traum! Was weiß ich von der Wüste Sin, die da lieget zwischen Elim und Sinai? Im Traume lernte ich diese ebräischen Namen; die höhere Hand wollte mir einen Wink geben: »Siehe, ich bin da und werde wirken ein Wunder in deiner Nähe.«

Ich sah zum Fenster hinaus.

Karl trat unten in den Hof. »Himmeltausend Sakrament!« rief er, »kriege ich heute wieder nichts zu fressen?« – Entsetzliche Ausdrücke für das Tagebuch eines zarten Mädchens! aber ich muß ja alles treu mit den kleinsten Zügen berichten.

Der Laut jener Worte brachte mir alte Erinnerungen zugetragen. Wie aus weiter Ferne drang es, gleich der Stimme, die mir einst lieb war, in das Ohr! Diese sonderbare Ähnlichkeit der Töne, das Fluchen – der Fürst pflegte auch bisweilen zu fluchen, doch bediente er sich mehr der sogenannten schweren Angst – mein Traum von Nizza, die trauernden Juden, die Wüste Sin, die Zeichen am Nachtlicht, das Pantoffelwesen, die bedeutenden Strümpfe – – –

Karl setzte sich auf einen Stein im Hofe, sagte: »Ich muß mal in den Taschen suchen« – suchte in der linken Jackentasche, rief: »Na, wenigstens noch ein paar alter, überjähriger Nüsse gegen das Verhungern« – griff in die andere Tasche, zog daraus hervor – – –

Ich hielt mein Herz mit bebender Hand, ging in die Speisekammer und schnitt für Karin ein Butterbrot – –

Ich kann nicht weiter schreiben – die Erinnerung überwältigt mich – meine Pulse fliegen – –


*


Ich bin ruhiger. Gestern schwamm der Segen, der mir geworden, ein buntverwirrender Farbenschimmer vor meinen Augen, heute hat er sich zum entzückenden Landschaftsbilde[253] auseinandergesetzt, in welchem jeder Baum spricht: »Mein Schatten gehört dir«, und die gemalte Quelle flüstert: »Schwester, ruhe an meinem Borde!«

Ich trat mit dem Butterbrote leise hinter Karl Buttervogel. Zum letzten Male stehe der Name in den Blättern! Er hatte mich nicht kommen hören und knackte ruhig mit dem Instrumente, welches er aus der rechten Jackentasche gezogen hatte, seine Nüsse auf.

Ich sah ihm über die Schulter. Aber ach! da wankten meine Kniee, ich ließ das Butterbrot fallen, Karl ließ den Nußknacker fallen, ich hob den Nußknacker auf und Karl hob das Butterbrot auf! Ich drückte den Nußknacker an meine Lippen. Er war es, er war es! – Der alte, treue Knacker, die erste, auf Rucciopuccio hindeutende Liebe! O ihn, ihn hatte ich gleich erkannt. Und hätte ich ihn denn auch verkennen können? Des Menschen Antlitz und Gestalt wandelt sich leider mit den Jahren, ein Nußknacker bleibt, was er war.

Ach, bitter-schmerzlich war dennoch dieses Wiedersehen! Das teure Heiligtum meiner Jugend sah mich an, wie eine Ruine. Von dem Rot der Uniform war der brennende Glanz gewichen, die Farbe der Unterkleider ließ sich kaum noch erkennen, erloschen waren die schönen, grellblauen Augen, der Mund hatte durch das beständige Knacken seine beste Kraft verloren, einen Hut trug er kaum noch, nur den Schnurrbart hatte die Mißgunst der Zeiten verschont; er hing schwarz und voll wie in jenen goldenen Tagen über den alt und müde gewordenen Lippen.

Ein Strom von Tränen befreite die Brust. Dann faßte ich mich und dachte an mich und mein Geschick. Karl hatte das Butterbrot verzehrt und sah mich groß an. »Gelt«, rief er (ich muß ja seine eigenen Worte brauchen) »das ist ein närrischer Kerl? – Ich habe den Schurken einmal vor vielen Jahren in einem italienischen Badenest auf'm Kehricht hinterm Hause gefunden. Ich steckte ihn zu mir und brauche ihn seitdem fortwährend, und der Racker« (ich erliege fast der Qual solche Worte zu schreiben) »ist immer noch ganz. Dazumal diente ich bei vierzehn Berliner Edelleuten, die das Bad brauchten und sich zusammen einen Bedienten hielten.«[254]

»Fürst«, sagte ich ernst und gehalten, »verstellen Sie sich nicht länger. Weder Ihre Bedientenjacke noch die scheußlichen Ausdrücke, zu denen Sie Ihre edeln Lippen zwingen, um unerkannt zu bleiben, täuschen mich ferner. – ›Was Vorläufer! Es kommt uns niemand nachgelaufen‹, und: ›Ich kenne keinen Größeren‹, die bedeutenden Strümpfe, das Pantoffelwesen, die Zeichen an der Schnuppe des Nachtlichts, mein Traum von Nizza, die trauernden Juden, die Wüste Sin, die da lieget zwischen Elim und Sinai, das waren schon Symbole, welche nicht trügen konnten. Nun die Melodie Ihrer Stimme, Ihr Fluch, jetzt gar der geliebte Nußknacker in Ihrer Hand, und endlich, daß Sie von dem Kehricht wissen und von der finstern Tat meiner verklärten Mutter, welche Nußknackern in jenes Elend verstieß – – alles das – – mein Gott, leugnen Sie doch nicht weiter, häufen Sie nicht unnütze Qual auf ein armes Mädchen, die immer Ihrer wert geblieben ist! Sein Sie gut und liebevoll, lassen Sie die Maske fallen und sprechen Sie: ›Emerentia, ja, ich bin es‹.«

»Was soll ich denn sein?« rief er. »Ich bin kein Es. Ich bin, was ich bin – Donnerwetter!«

Seine rauhe Festigkeit machte mich doch einen Augenblick wieder zweifelhaft. »Wenn Sie es nicht sind«, sagte ich entschlossen, »so ist es Ihr Herr, denn einer von Ihnen beiden muß es sein.«

Ich wollte gehn. Karl hielt mich aber am Kleide zurück. Mein Mittel hatte gewirkt. »Ich sehe wohl«, sagte er, »daß es Ihnen ein Ernst ist, wenn ich es bin. Also wollte ich Sie nur fragen, was daraus wird, wenn ich es bin?«

»Wenn Sie es sind«, versetzte ich, »so bin ich Ihre Freundin im reinsten Sinne des Worts. Mein ganzes bisheriges Leben war eine Vorbereitung auf diesen großen Moment. Gnädigster Herr! In den Blütentagen der Jugend opferten wir der Leidenschaft auf dem Altare unserer Herzen! Für dieses Opfer ist uns der Weihrauch ausgegangen. Aber der Altar blieb bestehen; lassen Sie uns auf demselben der Freundschaft ein Opfer entzünden, für welches ich ewig, Ihnen gegenüber Vorrat besitzen werde.«

Karl kratzte sich im Kopfe (der Ungeheure! so tat er) und sagte: »Ich denke nur immer noch, Sie haben mich bloß zum[255] besten. Indessen aber will ich's versuchen, und wer mich anführt, den soll der Teufel holen. Das heißt also, Sie sind meine Freundin, heißt nämlich, wenn Sie meine Freundin sind, so müssen Sie auch dafür sorgen, daß ich mehr zu essen und zu trinken kriege. Wenn Sie auf diese Manier meine Freundin sind, so will ich's sein. Dann sehen Sie nur gleich heute zu, daß ich einmal ein rechtschaffen Stück Fleisch kriege.«

Er spielte fürchterlich mit mir. Daß er seinen wilden Humor selbst in diesem großen Momente nicht ablegte! O Männer, Männer, wie geht ihr mit uns um! – Eine Lustigkeit der Verzweiflung ergriff mich, und in den Bahnen seiner ausschweifenden Laune ihm folgend, rief ich: »Sie sollen heute zwei Pfund Rindfleisch haben!«

Das erschütterte ihn. Er sah mein Leiden, welches durch den Scherz schauerte. Tränen traten in sein Auge, er sagte: »Sie sind doch sehr gut, und ich bin's denn also.« Er ging, übermannt von edler, menschlicher Rührung.

In seinen Tränen fand ihn mein Gefühl, wie mein Verstand ihn schon früher erkannt hatte. Seiner Rolle blieb er sonst treu. Mittags meldete er sich um die zwei Pfund Rindfleisch. Ich gab sie ihm und bereitete für uns einen Pfannkuchen, den Vater täuschend mit der Nachricht, die Katze habe das Fleisch gefressen. Er hat es rein aufgegessen; seine Verstellung muß ihm doch schwergefallen sein.

Wo die alberne Lisbeth nur bleiben mag, der Aschenbrödel? Mit dieser Welt im Busen muß ich nun jetzt am Feuerherde stehen! Auch war der Pfannkuchen versalzen und ungenießbar.


*


Heute ist es zu einer vollständigen Erklärung zwischen uns gekommen. Ich erinnerte ihn an unsere Spaziergänge bei Nizza, so an die Wechselverfertigung, an die sechste Elefantenkompanie und an die Kabale des Kaisers aller Birmanen. Ich erinnerte ihn an Hechelkram und an seine Rechte darauf. Ich nannte ihm den süßen Namen jener Zeit: Rucciopuccio. Ich fragte ihn, ob er wohl an alles das noch denke? Er sagte zu allem ja.

Auch in dieser vertrauten hingebungsvollen Stunde blieb er[256] Bedienter in Wort, Gebärde, Haltung. Ich bat ihn herzlich, er möge doch mir gegenüber diese häßliche Hülle aufgeben und der Fürst sein. Er versetzte, es gehe nicht an, ich möchte ihn um Gottes willen zufriedenlassen. – Ich will nicht weiter in ihn dringen, er fürchtet vermutlich, daß, wenn er sich vor mir demaskiert, er sich auch sonst vergessen könne, denn welche unendliche Mühe muß den Hohen dieses angelegte niedere Wesen kosten!

Sein Inkognito hat vermutlich einen Doppelzweck. Mich wollte er unerkannt prüfen, und dann will er auch im Verborgenen abwarten, welchen Erfolg seine Verwendungen an einige Mächtige des Hofes um Hechelkram haben werden. Ich sagte ihm diese meine Vermutungen in das Antlitz, und er antwortete: Es sei alles so, wie ich meine.

Wie es ihm nur möglich gewesen ist, mich zu finden, da ich in Nizza Marcebille von Schnurrenburg-Mixpickel hieß? Darüber werde ich ihn doch nächstens befragen.

Die Entwickelung unserer Angelegenheit muß in Geduld abgewartet werden. Erfolgt seine Anerkennung als Fürst, so wird sich auch für mich das Stift finden. Ich erfülle mein Schicksal und bin ruhig.

Eins geht mir aber im Kopfe umher. Er hat keine Gemahlin. Das wird meiner Stellung eine ihrer Blüten abstreifen. Ich wollte ja der segnende Schutzgeist seines Hauses sein, die Gatten miteinander versöhnen. Das fällt nun weg. So hält uns das Leben doch nie ganz Wort.


*


Daß er so gar nicht Rucciopuccion ähnlich sieht! – Vergebens mühe ich mich ab, einen Zug der Vorzeit in seinem Gesichte zu erspähen. Aber freilich ist es denn auch einige Jahre her, daß wir auseinanderkamen –

– Die dumme Lisbeth hat mir vor ihrem Abzuge mein Schreibzeug verkramt, ich muß mich mit Federn behelfen, die alle bequemen schriftlichen Ergießungen unmöglich machen. Sie ist ein abscheuliches Geschöpf –

– und dann hat er viel auszustehen gehabt. Er bekam selbst hin und wieder von seinen Herrn Schläge. Natürlich! Die indischen Fürsten sind Barbaren.[257]

Auch Münchhausen ist mir nun entziffert. Dieser hohe Geist, dieser neue Prophet der Natur und Geschichte wird der Kammerherr des Fürsten sein, oder sein Adjutant, oder sein Hofstaatssekretär, oder eine andre dieser reinen, idealen Gestalten.

Auch ihm wird seine Rolle schwer, ich sehe es wohl. Sein schmerzliches Zucken, wenn er den Gebieter zum Scheine anfahren muß! Neulich tat er so, als ob er den Stock gegen ihn brauche, und der Fürst tat, als schreie er.


*


Münchhausens Geschichten werden mir jetzt klar. Der Vater nimmt sie wörtlich und glaubt daran zum Teil. Ich ahnete gleich eine geheime Bedeutung – und habe mich nicht getäuscht. Die smaragdgrüne Bergebene Apapurin ... usw. ist unsere Jugend, goldgelbe Kälber der Empfindung grasen auf ihr, die Gedanken der Jungfrau sind pfirsichrot und alle Äußerungen ihres Wesens herb und keusch, wie Schlippermilch. Nachher spaltet sich die Welt ihres Inneren, diese Spaltungen und Unterspaltungen werden durch die sechs Gebrüder Piepmeyer angedeutet, einander zum Verwechseln ähnlich, wie unsere Spaltungen, dann kommt die Prosa des Lebens unter dem Bilde des Wachtfriseurs Hirsewenzel und flicht den großen Knoten widerstrebender Verhältnisse, den Rattenkönig gemischter Empfindungen.

Manches einzelne bleibt mir freilich in jener Symbolik noch dunkel. Welcher Moment des weiblichen Lebens wird z.B. durch die Folgen der einzigen Lüge Münchhausens dargestellt?


*


Ein köstlicher Genuß ist es, zu sehen, wie das Hohe, das Göttliche unter der Knechtsgestalt, in welcher es hin und wieder erscheinen muß, siegreich für den Kundigen hervorblitzt. Wiewohl mein erlauchter Freund den Bedienten zum Erschrecken natürlich spielt, so läßt sich Fürstenblut dennoch[258] nicht verleugnen, und davon wurde mir heute die Erfahrung.

Der Prätendent von Hechelkram putzte die Stiefeln seines sogenannten Herrn. Ich habe nun wohl sonst bemerkt, wenn ich die Diener dieses Geschäft verrichten sah, daß sie es in unedler gebückter Stellung, mit widerlich kurzen, schnellen, heftigen Bewegungen ausführten – ein unerfreulicher Anblick!

Ganz anders, was ich heute sah.

Karl saß. Er hielt sich vornehm nachlässig zurückgebeugt, er sah kaum den Stiefel an, langsam fuhr seine Hand mit der Bürste über diesen, der so tief unter seiner Würde war, hin und her – und berührte das gemeine Leder obenhin, nur zum Schein.

Freilich wurde der Stiefel nicht ganz blank, und Münchhausen schalt Karln, sich verstellend, Faulpelz. – Das ist eine der schwersten Prüfungen, welche mir dieses Verhältnis auflegt, daß ich, um es in seiner ganzen Wahrheit zu zeichnen, so viele gemeine Fluch- und Schimpfwörter, euch, o ihr meine reinen Blätter, aufdrängen muß!

Der Fürst hat einen unglaublichen Appetit. Heute verzehrte er wieder eine ganze Bratwurst, und sie gehörte zu den größeren im Kreise ihrer Schwestern! Das indische Klima wird so an ihm gezehrt haben. Wenn sie ihm nur bekömmt!


*


Vor meinen Ohren summt ein altes Lied:


Einst liebtest du den Nußknacker,

Nach dem Nußknacker liebtest du mich ...


So weit kann ich's, aber die folgenden Verse wollen mir nicht beifallen, wie oft ich's auch für mich hin singe. Dabei uns zu erkennen war in der fürchterlichen Stunde, wo uns die Juden schieden, das heilige Gelöbnis. Ich habe den Fürsten daran erinnert, aber auch er kann die folgenden Verse nicht finden.[259]

Mir ist es unmöglich geworden, dem wilden Humor, der in dem Namen: Karl Buttervogel flattert, mich ferner zu fügen. – Bin ich denn nicht ein Weib, d.h. ein Wesen ohne allen Sinn für Ironie; tiefem, schlichtem Ernste einzig hingegeben? Um mich nicht aus dem Bilderkreise, den der Fürst gewählt, zu entfernen, nenne ich ihn vor den andern Karlos den Schmetterling. Der Vater lachte, als er diese Bezeichnung zum ersten Male von mir hörte. Er versteht mich nie. Münchhausen begriff mich wieder ganz, begriff mich, ohne daß ein Wort der Erklärung zwischen uns gewechselt wurde.

Er sagte: »Wenn der Esel« (o Gott, wie leide ich!) »nur dadurch nicht stolz wird!« Ja freilich wird, wenn so nach und nach über ihm das Licht verklärender Beziehungen und Bezeichnungen aufgeht, der angestammte Stolz sich herrlich zeigen!

O Münchhausen, Münchhausen, großer Herzenskündiger!

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 3, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 251-260.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Münchhausen
Münchhausen: Eine Geschichte in Arabesken
Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken
Der Oberhof: Aus Immermanns Münchhausen
Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken
Münchhausen: Eine Geschichte in Arabesken, Volumes 1-2 (German Edition)

Buchempfehlung

Spitteler, Carl

Conrad der Leutnant

Conrad der Leutnant

Seine naturalistische Darstellung eines Vater-Sohn Konfliktes leitet Spitteler 1898 mit einem Programm zum »Inneren Monolog« ein. Zwei Jahre später erscheint Schnitzlers »Leutnant Gustl" der als Schlüsseltext und Einführung des inneren Monologes in die deutsche Literatur gilt.

110 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon