|
[416] O Vergänglichkeit, du Sieg'rin
Aller Sieger, alte Göttin!
Angetan mit grauem Leibrock,
Eppich um die Brust geknotet,
Eine Krone, falb von Moose
Auf dem weißen Haupt, so sitzst du
Unter Trümmern regenmürbe,
Auf zerbrochner Säule Sturze,
Bei verblichnen Liebespfändern,
Bei dem Putz verwelkter Schönen,
Unter ausgetrunknen Flaschen,
Ach, und unter armen Beuteln,
Die von Golde strotzten, jetzo
Leer in deinem Dienste ruhn!
Einst im Fantenreiche blühte
Das Geschlecht der Tulifanten.
Reiches Kornland, zwanzig Schlösser,
Schöne Wiesen, manch ein Geldsack
Waren sein, jedoch wo blieb es?
Mäus' verwüsteten das Kornland,
Und der Strom verschlang die Wiesen,
Raben trugen aus den Säcken
All das blanke Geld zu Neste,
Doch die Gläub'ger kauften spöttlich,
Was gelassen Mäus' und Raben.
Seht ihr dort am stillen Hügel,
Erlengrün und bachbenetzet,
Jenes Mäuerlein, zwei Schuh hoch,
Drin die feuchtverstockte Holztür?[416]
Seht ihr jenen langen, hagern
Mann im Mantel, braun wie Zimmet,
Wie er feierlich durchs Feld schleicht?
Nun, die Mau'r verschließt, die Türe
Öffnet den Kartoffelkeller,
Dieser Keller der Kartoffeln
Ist das letzte von dem Erbe
Der berühmten Tulifanten,
Blieb allein von zwanzig Schlössern,
Weil kein Gläubiger ihn brauchen
Konnte, denen sonst doch brauchbar
Alles zwischen Erd' und Himmel.
Jetzo kam der braune Wandrer
Zu der Mauer, drauf sich setzend
Schaut' er ernst ins Gold der Sonne.
Nahm darauf aus seinem Mantel
Den Quartanten, sah die Farben
Der Geschlechter an des Landes.
Aber als der Abend dunkelt',
Schlug er zu das Buch und rufte:
»O wie hat mich Gott gesegnet,
Mich und meine edle Tulpe!
Wie mir im Gefühle wohl ist
Richt'ger Ahnen, im Besitze
Meines teuren Eigentumes!
Ach nur einen Wunsch, nur einen
Ließ der Himmel unerfüllet,
Diesen klag' ich hier den Lüften:
Daß mir würd' ein Sohn, ein edler,
Namens Erbe, Erbes Erbe!
Alt bin ich! Bald kommt die Stunde,
Wo der ferne Lehngevetter
Pflanzen wird auf diese Mauer,
Ach, sein Wappenschild, das fremde![417]
Denk' ich daran, dann erscheinst du
O Vergänglichkeit, du Sieg'rin
Aller Sieger, greise Göttin,
Riesig mir, gespensterhaft!«
Tulifant stieg, solches sagend,
Wehmutsvoll von seinem Erbe,
Und er kehrte langsam, seufzend
Heim zur vielgeliebten Tulpe.
Ausgewählte Ausgaben von
Tulifäntchen
|
Buchempfehlung
Als Hoffmanns Verleger Reimer ihn 1818 zu einem dritten Erzählzyklus - nach den Fantasie- und den Nachtstücken - animiert, entscheidet sich der Autor, die Sammlung in eine Rahmenhandlung zu kleiden, die seiner Lebenswelt entlehnt ist. In den Jahren von 1814 bis 1818 traf sich E.T.A. Hoffmann regelmäßig mit literarischen Freunden, zu denen u.a. Fouqué und Chamisso gehörten, zu sogenannten Seraphinen-Abenden. Daraus entwickelt er die Serapionsbrüder, die sich gegenseitig als vermeintliche Autoren ihre Erzählungen vortragen und dabei dem serapiontischen Prinzip folgen, jede Form von Nachahmungspoetik und jeden sogenannten Realismus zu unterlassen, sondern allein das im Inneren des Künstlers geschaute Bild durch die Kunst der Poesie der Außenwelt zu zeigen. Der Zyklus enthält unter anderen diese Erzählungen: Rat Krespel, Die Fermate, Der Dichter und der Komponist, Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde, Der Artushof, Die Bergwerke zu Falun, Nußknacker und Mausekönig, Der Kampf der Sänger, Die Automate, Doge und Dogaresse, Meister Martin der Küfner und seine Gesellen, Das fremde Kind, Der unheimliche Gast, Das Fräulein von Scuderi, Spieler-Glück, Der Baron von B., Signor Formica
746 Seiten, 24.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro