Sylli an Clerdon

[508] Den 8. März.


Ich habe Ihnen gestern und vorgestern geschrieben, l.C.; doch muß ich Ihren eben erhaltenen Brief auf der Stelle beantworten.

Wenn Sie wüßten, wie es mich ängstigt, daß Sie so viele Sorge, so vielen Kummer meinetwegen haben! Glaubt's doch, Ihr guten Leute, glaubt's, daß ich lange nicht so übel dran bin, als Ihr es Euch vorstellt. Alles Schöne in der Natur, alles Gute ist mir ja schön und gut, wird's noch alle Tage mehr. Oder wißt Ihr eine, die jede menschliche Freude inniger kostet, als Eure Sylli? Und[508] wie sollte ich nicht an Liebe glauben, ich, der die Brust so enge davon ist? Nur die Hyazinthe hier! wie oft stand ich nicht vor ihr, mit klopfendem Busen; sog an ihrem Wesen mit all meinem Sinn, bis es meine Nerven durchbebte, und ich die schöne, gute in mir lebendig hatte, und – nennt es Torheit, Unsinn, Schwärmerei – und ich Gegenliebe von ihr fühlte! So pfleg ich eines jeden Dinges, von welchem Wohltun unmittelbar ausgeht, es sei aus Gestalt oder Geist, Liebe, Harmonie, Gemälde, was es wolle; ich halte es an mich, leih ihm Herd und Feuer, ruhe nicht, bis sein inneres Wesen, das Gute, Schöne, das Wohltun in mich strömt, Leben in mir empfangen hat und Liebe. Ach! nichts soll untergehen, das mir einen Blick der Vereinigung zuwarf, das mir Leben gab und Leben von mir nahm; wenigstens so lange soll es nicht untergehen, als ich selbst daure.

Nun bin ich hiermit freilich mancher Verletzung bloßgestellt, die ich ohne das nicht empfände. Alle die Dumpfheit, Achtlosigkeit, Geringschätzung, Flüchtigkeit der Menschen um mich her, und die noch ärgere Schmach ihrer vorüberrauschenden Entzückungen trifft mich, verwundet mich. So von allen Seiten angefochten, jedermanns Hand wider mich, ist doch meine Hand, ich schwör es Euch, wider keinen. Ich seh immer noch viel Liebes und Gutes an den Menschen. Da hab ich hier einige rosenwangichte Mädchen, die mich durchaus erquicken, so oft ich sie sehe. Es wird einem unter ihnen, als wandelte man zur Frühlingszeit in einem Blütenregen. So voll Mut, so voll Lust sind sie, daß sie Hülfe rufen müssen. Da hangen sie dann an meinen Armen, an meinem Hals, entladen ihre Lippen, und lassen in ihren schuldlosen Augen mich einen Zauber schöpfen, der mich alles vergessen macht. Mit einer Wonne drück ich sie dann an mein Herz, fast als wenn's Liebe, daurende Liebe wäre. Und seht, geradeso treib ich's mit hundert andern Dingen; lasse alles gut sein, und mir zugute kommen, was nur gut sein mag. Ich werfe nichts auf den Boden, trete nichts unter die Füße, mag aber auch nichts aufspeichern, nichts von Menschengunst und Achtung. Seht, wenn mir's wohl einmal wird, als sollte dergleichen dauren, als erwartete ich's, so überfällt mich doch gleich eine Schwermut, ein Zagen, daß ich vergehen möchte. Wie warm auch von außen mein Herz sich anfühlt, wie von sich scheinend es auch ist, so dünkt mich's alsdenn doch in der Tiefe kalt. Ja, das ist's, daß jede Anwandlung von Vertrauen, von Freundschaft in meiner Seele zum Trauer- und Schreckengedanken wird; daß ich's gleich[509] so hell vor mir habe, daß es nur Wiedererscheinung ist jener längst entwichenen Engelsgestalt, mit welcher ich ein Totengerippe in den Schoß nahm. Dann raschelt's mir von neuem unter der Haut, und ich fühle die grinsende Frucht sich in meinem Busen regen.

Ach! Clerdon, Amalia, Schwestern, zürnt nicht über Eure Sylli. Ihr wißt ja meine Geschichte zum Teil – und wenn Ihr sie ganz wüßtet, Euch das alles offenbar wäre, was hier tief und fest verschlossen liegt! – Aber redet, zeugt, ist es meine Schuld, daß es so mit mir geworden? War ich zaghaft, weichlich, dachte ich wohl darauf, mir Schmerz, Tränen zu ersparen; brachte ich je etwas in Anschlag, das nicht Liebe war? Voller Mut, voller Zutrauen, im Glauben unbeweglich, duldete ich nicht alles, wagt ich nicht alles, gab ich nicht alles dran, alles, alles? – Was half's? Nacheinander und miteinander mußt ich sie alle verdorren sehen, die Bäume und Lauben in den Gefilden meiner Jugend, und sinkend die Blumenbeete ihres Schattens verheeren!

O des unvergifteten Pfeils, der aus Freundeshand in Euer Herz fährt; den er lächelnd darin umkehrt, und voll Unschuld fragt: »Wie kann das so schmerzen? er war ja nicht giftig!«

Nicht diejenigen, die mit Grimm und böser Tücke mich von sich stießen, waren meine Verderber; die waren's, die ohne sichtbare Verletzung, mich nur so da ließen; gleich einer zeitig gewordenen Frucht, die sich vom Zweige trennt, und mit ihrer Schwere davongeht. Hört, ich bin nicht vom Blitze zersplittert, nicht abgehauen; nur ausgesogen bin ich; habe noch Kron und Blätter: und so mag denn der Stamm bleiben, bis auch diese einmal verwelken und nicht wiederkommen.

Wenn ich nur meinen Augen wehren könnte, umherzuschauen, wüßte sie wohin abzuwenden, weg von dem traurigen Einerlei menschlichen Lugs und Trugs. Es ist ein wahrer Jammer, wieviel die Leute voneinander fordern, erwarten, hoffen, sich und ihren Brüdern zutrauen, würklich zu geben und zu nehmen meinen. Jede Sonne bringt unsterbliche Liebe, unsterbliche Freundschaft auf die Welt; wer nur nicht weiß, daß auch mit jedem Tag ein Abend kommt, und was dreimal geschehen wird, ehe der Hahn krähet. Am mehrsten dauren einen die guten Seelen, die, wenn sie einige Jahre zusammen fortgeschlendert, oder wohl gar von Kindesbeinen an ihr Tun miteinander getrieben hatten, und ihrer Sache recht gewiß zu sein glauben, nur ein Schicksal, nur ein Grab sehen, allen Stürmen Trotz bieten; am Ende doch sich[510] unversehens einander in den Grund segeln; oft, der läppischsten, armseligsten Grille wegen, gescheitert daliegen, ohne Rettung. Wohl ihnen, daß sie selten das Geheimnis ihres Schicksals verstehen.

Ich habe lange ein Bild alles menschlichen Tuns und Seins, unserer sogenannten Laufbahn, in der Seele; ein ärgerliches, aber richtiges Bild: den Gang im Kranen. Mit zugeschlossenem Auge rennt jeder vorwärts in seinem Rade, freut sich der zurückgelegten Bahn; weiß soviel Torheiten, soviel Jammer hinter sich, und merkt nicht, daß nah an seinem Rücken alles das wieder emporsteigt, von neuem über sein Haupt, vor seine Stirne, und unter seine Tritte kömmt. Ich mag hievon nicht reden: denn wer's am hellsten einsieht, hat's nur um so viel besser, daß er in seinem Rade stille stehen bleibt, die andern auslacht, oder beseufzt – und sich mit – – Oh, er ist weit am schlimmsten dran!

Wo ich hingeraten bin! – Das war mein Wille nicht; aber nun sei es mein Wille; denn was schadet's? Ihr wißt ja, was tausendmal gesagt worden, daß jedweder seine Not in Augenblicken, wo er mit seinem ganzen Dasein in ihre Vorstellung übergeht, als die größte fühlen muß: und so laßt Euch dann nochmals gesagt sein, daß Eure Sylli es im Grunde doch so schlimm nicht in der Welt hat. Glaubt mir, glaubt den Worten unsers lieben Primrose: »Die dunkelsten Gegenstände, je näher wir ihnen treten, erhellen sich mehr, und das Auge des Geistes bequemt sich nach der trüben Lage.« Auch führt ja Clerdon so oft die Verse im Munde:


»Kein Leiden ist so groß, ein Chor von stillen Freuden

Gesellt sich ihm mitleidig bei.«


O glaubt, glaubt, so wenig auch der Zeugen dafür sein mögen: wer nicht weiß, wie man sich auf Dornen bettet, den hat die beste Rast noch nie erquickt.

Freilich wär all dies Sagen nichts, wenn mein Herz von den Menschen los wäre; aber, gewiß, es hängt an ihnen mit seinen besten Nerven und Gefäßen. Kann doch niemand sich erwehren, die Kinder zu lieben, an denen wir sicher nicht mehr haben, und von denen wir nicht mehr erwarten, als ich von meinen Menschen. So einen kleinen, hübschen, muntern Jungen, wenn ihr den drückt und küßt und herzt, und ihn nicht lassen könnt; ist das wohl, daß ihr den vortrefflichen Mann denkt, der vielleicht in ihm steckt? Nein, das bloße Kind zieht euch an, wie es in[511] dem gegenwärtigen Augenblicke vor euch leibt und lebt; weil es ist lieblich anzuschauen, süßen Mund, freundliche, blickende Augen, hüpfende Glieder, Leib und Leben hat wie ihr, und seine Nerven mit den eurigen Triller schlagen. Ihr wißt, daß ihr seine Zuneigung mit Naschereien und Spiel erkauft, und genießt sie nichtsdestoweniger mit herzlichem Wohlgefallen. Ihr trauert nicht, zürnt nicht, wenn ein anderer mit glänzendern Geschenken oder höherem Tanz es von euch ablockt, und es euch dann nicht mehr mag, und euch »Bah!« schilt; oder wenn es geradezu eurer müde wird, weil ihr seine Laune nicht länger unterhalten, seine Begierden alle nicht erfüllen konntet. Ich erstaune, daß die Bemerkung, wir Erwachsene sein nur ältere Kinder, mehrenteils, wo nicht immer, mit einer verachtenden bittern Miene, und zum Behuf der Lieblosigkeit angebracht worden; da sie mir der zuverlässigste Lebensbalsam zu sein scheint. Und dann – ein wenig besser als Kinder, sind wir – Mann und Weib, Jüngling und Braut, doch noch allemal.

Ja! helle Wonne ist es, so die Menschen zu lieben, ohne Eitelkeit ohne Ansprüche, eben, mit lauter Liebe. Da geht alles so gerad und rein zum Herzen, und das Herz ist so mächtig. – O laßt, laßt mich nur schweben im Limbus, bis ich vollendet werde!

Quelle:
Sturm und Drang. Band 1, München 1971, S. 508-512.
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