Die Lebensalter.

[41] Als Gott, der Herr, die Welt geschaffen hatte, setzte er dem Menschen und dem Esel dreißig, dem Hund und dem Affen aber einem jeden zwanzig Jahre; darin sollten sie sich des Lebens freuen.

Es dauerte gar nicht lange, so kam der Mensch und wollte eine längere Frist haben. Indem er noch bat, trat der Esel vor Gottes Thron und sagte:

»Nimm mir zwanzig Jahre ab von meinem Leben, lieber Herr; die Last wird mir bei der vielen Arbeit und dem geringen Futter zu schwer!«

»Nimm sie ihm und gieb die zwanzig Jahre mir!« rief der Mensch, und unser Herrgott willfahrte den beiden.

Nach dem Esel stellt sich auch der Hund ein und klagte:

»Sieh an, Herr, meinen schlechten Dienst und die magere Kost, welche ich bekomme; und dabei muß ich in Schnee und Regen dem Menschen das Seine bewachen. Nimm mir ab die Hälfte meines Lebens! Wenn ich zehn Jahre lebe, so lebe ich lange genug.«

»Gieb sie mir!« bat der Mensch, und der Herrgott[42] nahm dem Hunde die Hälfte seiner Lebensjahre und legte sie dem Menschen zu.

Zu guter Letzt stellte sich auch der Affe ein und wollte ebenfalls des halben Lebens verlustig sein.

»Ich muß klettern und springen,« sagte er, »und Gesichter schneiden und Faxen machen, daß die Menschen lachen. Zwanzig Jahre sind zu lang, Herr, nimm mir die Hälfte ab!«

»Gieb sie mir!« bat der nimmersatte Mensch zum dritten Male und drängte und quälte so lange, bis der Herrgott auch dem Affen die zehn Jahre nahm und sie dem Leben des Menschen zufügte.

So hatte der Mensch zu seinem richtigen Leben zwanzig Eselsjahre und zehn Hunde- und zehn Affenjahre bekommen, und er hat sie behalten bis auf den heutigen Tag.

Bis zum dreißigsten Jahre lebt jedermann leicht dahin; dann muß er zwanzig Jahre als Esel verbraucht werden und im Schweiße seines Angesichts arbeiten und schaffen, daß er unter dem Kreuze schier zusammenbricht. Vom fünfzigsten Jahre an beginnt das Hundeleben, da der Mensch dasjenige, was er in den Eselsjahren zusammengerafft und erworben hat, mißgünstig wie ein Hund bewacht. Auf die Hundejahre folgen die Affenjahre vom sechzigsten bis zum siebenzigsten. Dann sind die Menschen wie die Affen mit den kleinen Enkelkindern, springen und tanzen ihnen vor und schneiden Gesichter und machen Faxen, daß die Kleinen darüber lachen; und am Ende werden sie ganz kindisch und beschmutzen sich beim Essen und Trinken.[43]

Das hat der Mensch davon gehabt, daß er nicht damit zufrieden war, wie es unser Herrgott ihm gesetzt hatte. Lebt er über dreißig Jahre hinaus, so muß er als Esel, als Hund und als Affe verbraucht werden bis auf diesen Tag.

Quelle:
Ulrich Jahn: Schwänke und Schnurren aus Bauern Mund, Berlin [1890], S. 41-44.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Schwänke und Schnurren aus Bauern Mund
Schwänke und Schnurren aus Bauern Mund