XV

[233] Hendrik hatte sich mit äußerster Willensanstrengung ruhig gehalten. Er hatte einige friedliche Tage hinter sich, in denen er ganz in seinen Arbeiten aufgegangen war. Er stand eben im Begriff, etwas freier aufzuatmen. Da erschien Tralgoth mit seiner neuen, mit der schwersten Anklage.

Der Frieden wurde durch einen schrillen Mißklang zerstört. In Hendriks Schläfen begann es zu hämmern. Was sollte dies Neue wieder bedeuten? Hatte das Kind nicht in wahrhaft rührender Weise gehorcht und war ihm fast ausgewichen?

Kyrilla? Wagte Emmerich, auf sie einen Schein von Argwohn zu werfen? Großer Gott!

Ösz lag die ganze Nacht grübelnd und sinnend auf dem harten Lager, das ihm der Aufseher in seinem Häuschen bereitet hatte. Was würde nun folgen? Was? Er fühlte eine Hitze in seinen Händen. Seine Pulse klopften ängstlich[233] und heftig zugleich. Eigentlich hatte er ja noch hier draußen zu thun. Aber es litt ihn nicht mehr. Er mußte nach dem Hof. Er mußte sich überzeugen, was dort geschehen war. Er verstand ja von Emmerichs gehässigen Andeutungen kein Wort.

Er sattelte Kincs und schlug den Heimweg ein. Der Himmel war von weißlichem Dunst bedeckt, hinter dem sich die Sonne verbarg. Es herrschte eine unheimliche Schwüle. Kein Laut regte sich. Wie erstorben lag die weite Ebene da. Die Landstraße war öd' und menschenleer. Hendrik atmete schwer.

Er spornte Kincs zu größerer Eile an, aber das Tier mochte nicht recht vorwärts. Alle Augenblicke blieb es stehen und wandte sich halb um, als ob es wieder zurückkehren wollte. Ösz wurde ärgerlich und zog die Zügel straffer an. Mit bald gesenktem, bald hoch erhobenem Kopf und schnuppernden Nüstern begann das Roß einen kurzen Galopp einzuschlagen. Dann stand es wie eine Mauer still. Hendrik sprang ab. Die Haut des Tieres war naß von Schweiß. Es scharrte den Boden.

»Kincs,« sagte Hendrik, »wenn du nicht gehst, ich gehe.« Als ob das Tier verstanden hätte, hob es den Kopf, schnupperte hoch in die Luft und raste dann mit erhobenem Schwanz und fliegender Mähne den Weg, den sie gekommen waren, zurück. Ein kleines Stück rannte Hendrik[234] hinter ihm drein. Dann gab er es auf und schritt vorwärts. Wie verdreht, dachte er ärgerlich, aber nach dem Hof muß ich.

Oder sollte das ein Zeichen für mich sein, daß ich besser zurückkehre? Er blieb stehen. Nichts regte sich um ihn, alles war wie erstarrt. Wenn man Antwort vom Himmel will, bleibt er sie stets schuldig. Na, vorwärts denn! Er zog seine Uhr heraus. Zu Fuß werde ich wohl vier Stunden zu gehen haben. Närrische Wendung! Er schritt tüchtig aus. Niemand begegnete ihm.

Der Dunst lag wie festgehackt auf dem Boden. Hendrik begann vor sich hin zu pfeifen. Er gedachte der Scene, die ihn auf dem Hof erwarten mochte. Er fühlte wieder die Hitze in den Händen. Sein Schritt wurde hastiger, sein Atem schwerer. Es war ihm, als wüchsen eiserne Hämmer in seinen Handflächen. Er runzelte die Brauen und sah umher. Er hätte viel darum gegeben, wenn ihm jetzt ein Mensch begegnet wäre. Er begann Angst, jene unheimliche Angst vor sich zu empfinden, die ihm schrecklicher war als die größte Gefahr. Er ging und ging. Als ob er schon stundenlang gegangen wäre, erschien's ihm.

Da tauchte ein dunkler, zackiger Strich aus der Ebene auf. Hendriks Augen folgten der Linie. War das nicht der Kastanienwald, in dem der Steinbruch lag? Dort also war's! Dort sollten sie ihn erwartet haben. Bis dorthin[235] reichte der Argwohn jenes unseligen Menschen. Hendrik schritt mit verdoppelter Eile vorwärts. Bald waren die ersten Bäume erreicht. Hendrik bog von der Landstraße ab und betrat den weichen Rasenboden. Sonst hatten hier immer, wenn er vorbei kam, die Hämmer der Arbeiter heraufgeklungen, heute war es auch hier still, totenstill.

Im Augenblick, als er an den Schacht herantrat, um hinab zu blicken und Erklärung für die sonderbare Feierstille zu finden, fiel ihm ein daß heute Sonntag sei. Er wandte sich zurück und zuckte zusammen.

»Na, da bist du ja,« sagte Tralgoth mit verzerrtem Gesicht, »ich wußte wohl, daß du kommen würdest.«

Hendrik fühlte es dunkel vor seinen Augen werden. »Was sagst du?« Er trat dicht an den Freund heran.

Tralgoth lachte. »Ich hab' alles vorher gewußt.«

Hendrik wollte etwas bemerken, aber die Stimme versagte ihm.

»Ich hab' alles vorher gewußt,« wiederholte Emmerich.

Da war es Hendrik, als ob ein Blitz in ihn führe. Er hob die Fäuste hoch. – – – –

Als er einigermaßen wieder zu sich kam, war er allein.

Ihm gegenüber aus den Zweigen sah ein weißes, drohendes Antlitz. Er bewegte langsam,[236] schwerfällig die Füße – die Erde schien ihr Gewicht daran gehängt zu haben – und schritt zu dem Antlitz hin.

»Mörder,« flüsterte es.

»Zeige mich an!«


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Kyrilla ging mit schwankenden Schritten der Stadt zu. Dann blieb sie stehen. Und das Kind? Wenn das Kind es erfuhr? Das Kind, das ihn anbetet wie einen Gott, das seine ganze junge Seele an ihn gehängt. Nein, es ging nicht. Das Kind sollte nicht auch verzweifeln müssen. Sie rang die Hände zum Himmel empor. Warum hast du mich nicht einen Augenblick eher erscheinen lassen, Gott? – – – – – – – – – – – –

Sie ging nicht nach der Stadt.

Von weitem sah sie ihn kommen, mit wankenden, gebrochenen Schritten.

Sie lief wie vom Sturm getragen auf ihn zu, faßte seine eiskalte Hand und sah ihm in das entgeisterte Gesicht.

»Ich will es nicht, des Kindes wegen. Verstehst du? Trage, was du dir aufgeladen hast. Ich helfe dir tragen!«

Sie schritt neben ihm dem Hof zu. Nun bin ich eine Mörderin, schrie ihr Herz auf. Sie legte fest ihre reine Hand auf das weinende.[237]

Quelle:
Maria Janitschek: Frauenkraft. Berlin 1900, S. 233-238.
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