XVI

[238] Kein Mensch zweifelte daran, daß Emmerich sich selbst das Leben genommen hatte. Einige Leute waren ihm an jenem Sonntag Morgen auf der Landstraße bald hinter dem Hof begegnet. Sie sagten aus, sie hätten sich, erschreckt über sein verstörtes Aussehen, nach ihm umgewendet. Er sei mit unsicheren Schritten vorwärts geeilt. Sie hätten sich heimlich gedacht: Nun, der hat auch keinen guten Weg vor. Unter diesen Zeugen befand sich auch ein Großkaufmann aus der Stadt, auf dessen Stimme viel Gewicht gelegt wurde. Er erzählte, Tralgoth hätte mehrere Male beide Hände an die Schläfe gepreßt und wie ein Verrückter die Arme in die Luft geworfen. Er hätte ihm einen ›Guten Morgen‹ zugerufen, der aber von Tralgoth nicht erwidert worden sei. Er, der Kaufmann, hätte darauf schwören mögen, daß Emmerich irgend etwas besonderes vorhabe. Er wäre ihm gern gefolgt, aber seine Zeit habe es nicht erlaubt. Einen[238] Augenblick lang hatte es geschienen, als ob sich die öffentliche Meinung gegen Kyrilla wenden würde. Als aber die junge Frau verdächtigende Bemerkungen mit hoheitsvoller Ruhe von sich wies, und ihre Leute, die sie im Laufe der Jahre endlich kennen und hochachten gelernt hatten, ihr das beste Zeugnis gaben, verstummte der leise Argwohn wieder.

Emmerich, der sich durch den Sturz den Kopf an den Steinrippen zerschellt hatte, konnte nichts mehr erzählen. –

Einige Tage nach dem Begräbnis suchte Hendrik Kyrilla auf. Sie saß am Tisch, eine Menge Papiere vor sich ausgebreitet. Er blieb, ohne ein Wort zu sprechen, an der Thür stehen und lehnte sich gegen die Wand. Sie erhob langsam den Kopf zu ihm. »Weshalb stehen Sie dort? Treten Sie doch näher. Setzen Sie sich.«

»Was ist's mit dem Kinde?« fragte er, ihre Einladung überhörend, rauh, »der Junge schließt sich mehr denn je an mich an. Was wünschen Sie, daß ich thun soll? Welche Komödie soll ich ihm vorspielen? denn Sie haben mich ja zum Komödienspielen verdammt.«

Sie begann hastig im Zimmer auf und nieder zu schreiten. Sie erhob sich mühsam von ihrem Stuhl und trat zu ihm hin.

»Hendrik Ösz, ich weiß nicht, ob Sie an einen Gott glauben. Aber wenn Sie an ihn glauben,[239] dann frage ich Sie in seinem Namen, und so wahr ich überzeugt bin, daß seine Allgegenwart dieses Zimmer erfüllt, an welcher Stelle haben Sie mehr Gelegenheit, Ihre Schuld wett zu machen, im Gefängnis oder hier?«

Seine Augen blickten sie unsicher an. »Sie spielen sich als meine Richterin auf. Mit welchem Recht?«

»Geben Sie Antwort auf meine Frage.«

»Ich will mich vor Männern gern verantworten, vor Ihnen nicht.«

»Aber diese Männer kennen Sie nicht, und ich kenne Sie. Sie haben, von der peinigenden Laune eines Kranken gereizt, ihm einen Stoß versetzt, der die Ursache seines Todes geworden ist. Der Tote hat ein Kind hinterlassen, das mit großer Neigung an Ihnen hängt. Arbeiten Sie für dieses Kind. Sorgen, trachten, schaffen Sie so lange dafür, bis Sie sich selbst verziehen haben, denn darauf kommt's doch hauptsächlich an.«

Er lauschte ihren Worten, er sah sie an. War dies das demütige, verschlossene Weib von früher? Die Frau mit den stets gesenkten Augen und der leisen Stimme?

»Sie selbst haben Komödie gespielt,« sagte er. »Sie stellten sich als einfältig hin und sind es nicht.«

»Ich habe bis zum heutigen Tage schweigen müssen. Es fehlte mir die Gelegenheit und auch[240] das Recht zu sprechen. Verstellt habe ich mich nie. Auch Sie sollen sich nicht verstellen. Lassen Sie dem Kinde den Glauben an den ersten Freund seiner Jugend. Wer weiß, wie es später kommt.« Sie stockte.

»Also ich soll mir verzeihen und –«

»Ich verzeihe Ihnen, Ösz.« Sie sah ihn an. Und da wußte er, daß alles zwischen ihnen beiden aus war, und daß das ihr die Kraft gab, so bewußt und überlegen zu handeln, wie sie es that.

»Ich erschien Ihnen früher gut,« sagte er mit trockner, tonloser Stimme.

»Lassen Sie das!« Ihre Mundwinkel zuckten, und sie kehrte wieder auf ihren Platz am Tisch zurück.

Verloren für immer! schrie es in ihm auf. Sie vergiebt mir, sie spricht mich los, aber ihr Glaube an mich ist daran gestorben.

Sie hat recht. Es giebt Strafen, die schwerer zu tragen sind als Gefängnis und Tod.

Er ging hinaus. Im Flur sprang ihm Bela entgegen, er hatte eine trotzige Miene.

»Du, ich gräme mich gar nicht, daß Vater tot ist. Vorhin sagten sie in der Küche zu mir, ich müßte jetzt ein trauriges Gesicht machen. Ich mag aber nicht. Gelt, ich muß keins machen?«

»Mach, was du willst, für ein Gesicht.«

»Bist du böse auf mich?« Der Junge faßte schüchtern Hendriks niederhängende Hand. »Wenn du gestorben wärest –«[241]

»Laß die dummen Redereien.«

Das Kind runzelte die Stirn und schlich fort.

»Bela!«

Hendrik winkte ihm. Der Junge ging zögernd zurück. »Bela, ich weiß dir nichts zu sagen. Ich bin traurig. Siehst du, ich hatte deinen Vater lieb, wenn ich auch manchmal – aber das verstehst du nicht.« Bela schmiegte sich an ihn. »Freilich versteh' ich. Du hast ihn doch lieb haben müssen, weil er dich lieb hatte.«

»That er das?« fragte Hendrik leise.

»O sehr. Aber mich mochte er nicht. Und deshalb hab' ich ihn auch nicht lieb gehabt. Und deshalb mache ich auch kein trauriges Gesicht.«

»Du hast recht, heucheln soll man nicht. Aber das kann ich dir sagen, er hat dich gemocht.«

Der Knabe schüttelte den Kopf. »Dann hätt' er mich doch mit dir zusammengelassen. Er wußte doch –«

»Er hatte eine schwere, eifersüchtige Liebe. Es grämte ihn manches innerlich.«

»Er hat auch die Mutter nicht mögen. Hat er sie einmal um den Hals genommen und geküßt?«

»Ich hab' noch viel zu thun, Kind,« sagte Hendrik hastig und entfernte sich. Der Junge sah ihm verblüfft nach.

Hendriks Stirn senkte sich, von einer Vorstellung gequält, die mit greifbarer Deutlichkeit vor ihm auf stieg. Vielleicht, vielleicht ...[242]

Quelle:
Maria Janitschek: Frauenkraft. Berlin 1900, S. 238-243.
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