I

[6] Er hatte in der Nacht von weißen Büschen geträumt, deren Blumen aus Perlen bestanden. Jetzt schlürfte er seinen Kaffee und machte seinen Plan für den Tag. So that er immer des Morgens, wenn er sich auf Reisen befand. Aber schon auf dem ersten Gang, den er vom Hotel aus unternahm, hatte er seine Vorsätze vergessen und verweilte willkürlich bei allem, was sein Interesse gefangen nahm. Mit seinen langsamen, versonnenen Gebärden machte er sich zum Ausgehen fertig, als der Briefträger eintrat. »Für Herrn Professor Leonhart Steinwald ein eingeschriebenes Paket!« Der Professor warf einen Blick auf den Umschlag. Korrekturen. Überall hin verfolgten sie ihn. Er verließ den Gasthof, ohne sich weiter um das Paket zu bekümmern.

Draußen schien die Sonne, und es war Frühling in der Luft. Kleine barhäuptige[7] Buben balgten sich auf den Bürgersteigen, spielten Kreisel und erschwerten den Vorüberschreitenden das Gehen. Steinwald verlor sich in einem Labyrinth von Straßen und Gäßchen. Er merkte wenig von seiner Umgebung. Den Kopf auf die Brust gesenkt, schritt er vorwärts.

Er wußte seit Jahren, daß der Tod neben ihm herging, und das ärgerte ihn gewaltig. Er war ein Feind des Wohnungswechsels, und wenn er reiste, waren es sicher immer dieselben Orte, die er aufsuchte. Da war er trotz seiner Gelehrtenzerstreutheit geborgen, und die Leute kannten ihn, obgleich sie ihm fremd waren. Aber ›drüben‹? Seine Phantasie, die er von jeher in strenger Zucht gehalten, ließ ihn hier sitzen. Und mit dem Herzen kam er bei seiner Frage nicht weit. Deshalb hatte er Abscheu vor diesem Umzug und seinem Leiter. Aber ein ganzer Kerl setzt sich auch darüber hinweg und freut sich wenigstens, so lang er kann, seines Daseins. Die Stiche in seiner rechten Lunge konnten eben so gut von einer Erkältung herrühren. Dunque avanti! Er warf den Kopf mit einer energischen Bewegung zurück und lächelte. Da stand ja die alte Leechkirche, sein Liebling, er befand sich in Nasenlänge vor ihr, hatte sie nicht bemerkt und wäre beinahe an ihr vorüber gerannt.

So etwas durfte nicht vorkommen.

Zuerst hafteten seine Blicke einen Augenblick lang liebkosend auf dem alten romanischen Bauwerk,[8] dann trat er ein. Ein dürftiger Innenraum, dessen bunte Fenster nur spärlich das Tageslicht herein ließen. Das Hauptaltarbild war aus einer viel späteren Zeit und erweckte jedesmal, so oft er es sah, Leonharts Ärger. Trotzdem näherte er sich ihm. Er entblößte sein schlichtes braunes Haar und griff nach dem Kneifer, dessen Schnur sich wie gewöhnlich in die Westenknöpfe verfangen hatte. Als es ihm gelungen war, ihn glücklich auf die Nase zu setzen, gewahrte er an den Stufen des Altars eine weibliche Gestalt, die in tiefe Andacht versunken zu sein schien. Er blieb unschlüssig stehen. Sie streckte beide Hände zum Himmel und ließ laut weinend ihren Kopf auf die Brust sinken. Den Professor ergriff herzliches Mitgefühl. Da mochte ein tiefes Unglück walten. Wer ist es, die weint, ein Kind, ein Weib, ein junges Mädchen? Ein Kind kaum, denn das besitzt nicht die leidenschaftliche Gebärde, von der er vorhin Zeuge war. Eigentlich war es von ihm unrecht, hier weiter zu verweilen. Da sie ihn nicht kommen gehört hatte, die Kirchthür stand offen, so glich sein weiteres Bleiben hier einem Belauschen. Er wandte sich zum Gehen um, ungeschickt genug, so daß sein Fuß hart an einen der Betstühle anstieß. Eine rasche Bewegung des Kopfes dort vorne. – Nun bleibe ich, dachte der Professor.

Er lehnte sich an das Gestühle und bemühte sich, seine Fassung wieder zu finden. Krampfhaft[9] suchte er seinen alten Ärger über das Altarbild zu erwecken, aber die steife Haltung der Himmelskönigin vor ihm ließ ihn in diesem Augenblick sehr gleichgiltig. Hingegen fiel ihm ein Wort Hamerlings ein: »Wer glühend beten kann, der kann auch glühend minnen.«

Die dort vorne ... Sie ließ ihn höllisch lange warten. Ein Trotz kam über ihn. Er staunte über sich selbst. Er, Leonhart Steinwald! Aber es ist ja nur der Künstler in ihm, der so gefesselt ist. Siehst du wohl, dachte er, nun rückst du unruhig hin und her! zur Andacht bringst du es doch nicht mehr, weil du dich beobachtet weißt, gieb doch lieber deinen Platz auf und komm hinaus.

Endlich!

Kein Kind, kein Weib, ein junges Mädchen. Sie thut so, als ob sie schwere Seide hinter sich her schleppt, als sie an ihm vorbei kommt. Und ist in ein fadenscheiniges Kattunfähnchen gekleidet. Thut so, als ob sie brünett wäre, und hat Haar wie Mais, den ein Feuer gestreift hat. Dunkelbraune Augen, oder sind sie rot? Es giebt ja keine roten, korrigiert er sich. Natürlich folgt er ihr. O, thun Sie doch nicht so, als ob Sie ein erwachsenes Fräulein wären. Sie sind höchstens fünfzehn. Oder zehn. Oder – Sie schreitet vor ihm her, stolz und protzig wie ein junges herrliches Tier. Er versucht verschiedentliche Male schnellere Schritte, um an ihre Seite[10] zu gelangen, bleibt aber trotzdem zurück. Sie verschwindet in einem ärmlichen Haus. Er lehnt sich an das Hofthor und nennt sich: Esel. Den Rest des Tages über fühlte er eine tiefe Gleichgiltigkeit gegen alle Kirchen, Galerien und übrigen Kunstinstitute der reichen Stadt, die ihm sonst das lebhafteste Interesse abgenötigt hatten. Er kam zu einem Ergebnis, dessen er sich zu andern Zeiten sehr geschämt haben würde: daß die Kunst nur ein schlechter Ersatz für das Glück sei. Nur in Momenten, da seine Arme leer sind, hat sie der Künstler frei, um an einer Schöpfung zu bauen. Nur wenn deiner eigenen Seele Lied verstummt, schreibst du Melodien nieder, die der Genius dir einflüstert. Nur wenn du selbst arm bist, hast du Platz für die Schätze der Musen.

Wärest du selbst reich, deine Kunst bestände im Glücklichsein, in nichts anderem.

Hat mich das Geschöpf denn verzaubert, daß mir so frivole Gedanken kommen, dachte der ehrliche, pflichtgetreue Professor. Hatte er es doch schon als Unrecht empfunden, daß ihn außer der Göttin Wissenschaft noch ihre viel jüngere Adoptivschwester, die Kunst, interessierte. Nun zerfiel auch die vor seinem grübelnden Geist. O Glück, Glück, warmes, dummes, junges Kind ohne Vater! Oder wüßte jemand Näheres über seinen Erzeuger? Es ist da, und lacht und fällt dir um den Hals. Und die Kranken und Schwächlichen haben es am heißesten lieb. Und[11] die Dichter, die nie schreiben, und die Maler, die nie malen, und die kleinen Kinder, die so unmotiviert lachen.

Leonhart Steinwald trank an diesem Tage unverhältnismäßig viel Wein. Er trank sich Mut zu sich selbst zu. Hatte er denn gar so lange Zeit vor sich? Er wollte sie ausnützen, wollte jeden Strahl der Sonne in sein Herz aufsaugen, bevor er Abschied von ihr nehmen mußte.

Am nächsten Tag saß er in einer engen Hofstube, und eine ältere, gewöhnlich aussehende Frau aus dem Volk deutete hinaus und sagte: »Da kommt sie eben.« Und dann befand er sich Marie Therese gegenüber ...[12]

Quelle:
Maria Janitschek: Frauenkraft. Berlin 1900, S. 6-13.
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