IV

[35] Der Abend raunte in den Zweigen des kleinen Gartens, in dem des Professors Wohnung lag. Hemdärmlig, denn er erwartete keinen Besuch mehr, saß er vor seinem Schreibtisch und notierte sich die letzten Einkäufe, die er für sein zukünftiges Heim gemacht hatte. Da ging draußen die Klingel. Das ist doch stark, dachte er. Nun ist's bald neun. Ich gehe nicht zu öffnen. Wer kann es denn auch sein? Vielleicht Freund Born, der mich noch in die Weinstube abholen will. Geh allein, mein Junge! Ich habe an andere Dinge zu denken.

Da klingelte es wieder. Diesmal schwächer. Läut' zu, dachte der Professor hartnäckig und schrieb weiter. In zwei Wochen war Erntezeit. Da sollte sein Hochzeitstag sein. Und vorher mußte noch viel angeschafft werden, Dinge, auf denen ihre schönen Augen mit Wohlgefallen ruhen sollten. Allein hätte er sich mit dem Einkaufen nicht zurechtgefunden. Er hatte die[35] Frau eines Kollegen, die praktische Frau Geheimrat Stetting gebeten, ihm zur Seite zu stehen. Er konnte nicht so reichlich ausgeben, als er gewünscht hätte, denn außer seinem Gehalt besaß er kein Einkommen. Mit dem Aufzeichnen und Berechnen war es zehn Uhr geworden. Er hatte an diesem Tag lange geistig angestrengt gearbeitet und war müde. Er erhob sich, um zu Bett zu gehen. Zuvor wollte er noch einen Blick in den Briefkasten thun, um zu sehen, ob der späte Besuch vielleicht irgend ein Lebenszeichen da gelassen hatte. Den Leuchter in der Hand, öffnete er die Thür. Auf der Schwelle saß Marie Therese.

»Du!« rief er.

Sie lächelte. »Dacht' ich's doch, daß du zu Hause bist und nur nicht öffnen wolltest.«

Er zog sie herein. »Kind! Mädchen! bist du toll geworden, was fällt dir ein?«

Sie schien ihn nicht zu hören. Ihre Augen glitten beobachtend durch den schlichten Raum, mit seinen vielen hundert Büchern auf den hohen Regalen. »Die Thür dort führt in dein Schlafzimmer, und draußen ist der Garten. Wie schön du wohnst, voll Frieden. Unten haust eine alte Frau, wohl die Wirtin. Ich klingelte zuerst bei ihr an. Sie hat mich ganz erschreckt angesehen und that so, als ob sie um Hilfe schreien wollte. Und es war doch erst neun Uhr, als ich nach dir fragte. Ihr seid Schlafmützen.«[36]

Sie hatte sich in einem Sessel niedergelassen und blickte ruhig auf Leonhart, der noch immer ganz sprachlos vor ihr stand. Dann raffte er sich auf und eilte nach dem Kleiderstock, wo Hut und Mantel hingen. Sie stand auf und legte die Hand auf seinen Arm.

»Du willst mich schleunig aus deiner Wohnung entfernen. Laß gut sein! Es ist nun doch geschehen.«

Ihre Augen lachten. »Dein Ruf ist vernichtet.«

»Meiner nicht, aber –«

»Meiner? Ich habe keinen.«

»Wie kannst du so reden! Vierzehn Tage vor deiner –«

»Pst! Deshalb kam ich hierher. Komm', laß uns friedlich auf dem Sofa sitzen. Ich bin so müd'.«

Sie zog ihn neben sich. Er hob ihre Hand an seine Lippen.

»Darf ich das Licht auslöschen?« rief sie übermütig.

»Nein, nein!«

Sie lachte und blies in die Lampe, daß sie erlosch. Eine blasse Mondsichel blickte durch die Bäume herein.

»Weshalb thatst du das?« fragte er mit unsicherer Stimme. »Wenn ich es gethan hätte!«

»Das wäre auch etwas anderes gewesen.«

»Du bist voller Widersprüche, Kind. Einmal mordest du einen fast, weil man dir zu wenig Respekt erweist –«[37]

»Red' keinen Unsinn,« unterbrach sie ihn. »Seit ich weiß, daß du ein ganzer Mensch bist, brauche ich mich vor dem Tiere ›Mann‹ in dir nicht zu schützen. Hier stehen sich zwei Menschen gegenüber, die brauchen keine Lampe und keine Beobachtung der Besuchszeit.«

»Und das ist achtzehn Jahre alt!« Der Professor sprang auf. Sie zog ihn nieder.

»Sei doch ruhig und laß mich ausreden. Weißt du, weshalb ich die fünf Stunden lange Eisenbahnfahrt zu dir machte? Rate mal.«

»Ich weiß es nicht,« bemerkte er beklommen.

»Nun, ich will dich fragen, ob es nicht geht, daß wir – die Heirat rückgängig machen.«

Sie sah ihn zusammenzucken und ergriff seine Hand. »Was du mir neulich von dem Vermächtnis deines Namens sagtest, klang sehr schön, aber –«

»Marie Therese!«

»Erlaß mir den Schwur, den Ring, es ist ja ein vorbereiteter Meineid. Wie kann ich denn versprechen, treu zu sein. Ich bin ja noch so jung. Weiß ich, was in ein, zwei, in zehn Jahren über mein Herz kommen wird? Wenn ich ehrlich sein will, muß ich sagen: Ich weiß nicht, ob ich treu sein werde. Ich bin keine Sklavennatur, die man mit einem Ring fesselt. Ich will nicht heiraten. Ich will nicht verpflichtet zur Liebe werden.«

»Aber die Sitte, der Brauch! Die Gesellschaft! Wie willst du vor ihr bestehen? Wirst du Kraft[38] genug haben, ihre Geringschätzung zu ertragen? Kind, du weißt nicht, was du sprichst.«

Sie warf sich ungeduldig zurück. »Die Gesellschaft, was ist das? Etwas, das man sich erzieht. Wachs, das man sich formt. Tritt ihr trotz deines geistigen Reichtums bescheiden entgegen, du wirst erfahren, daß sie dich wie einen dummen Jungen behandelt. Schleudere ihr deine Überlegenheit ins Gesicht, zeig' ihr, daß sie für dich nur ein Begriff, keine Majestät ist, und gieb acht, was sie thut. Verblüfft, aber besiegt, wird sie das Haupt vor dir neigen.«

»Das alles geht nicht, Kind; wir bedürfen ihrer, sie ist unser Boden. Ohne Boden kann sich auch die stolzeste Eiche nicht entwickeln.«

»Brauchen sie. Das sagst du! Hast du mir nicht erzählt, daß du dir selbst alles verdankst? Gut, nenn' sie den Boden und dich den Schmuck, das Wachstum dieses Bodens. Was ist das Erdreich ohne dieses?«

»Nun, sagen wir also, unser Frieden besteht auf gegenseitigem Einvernehmen. Genügt dir das, kleine Streiterin?«

»Nein. Überhaupt, ein gegenseitiges Einvernehmen giebt es nicht. Die eine der beiden Parteien wird die herrschende sein.«

»Gott sei Dank, daß du eine Frau geworden bist.«

»Um so schwieriger für mich,« meinte sie. Und dann, in den Mondschein hinausschauend:[39] »Aber wir sind von unserm Thema abgekommen. Ich möchte also – Fräulein Hofer bleiben.«

»Launisches Kind! Hast du vergessen, daß ich dich lieb habe?«

»Das sollst du ja auch weiter.«

»Marie Therese, weshalb dieser plötzliche Abscheu?«

»Ich fürchte mich.« Er sah ihre großen, rätselhaften Augen auf sich gerichtet. Ein böser Argwohn stieg in ihm auf.

»Du fürchtest dich.«

»Ich war allezeit frei. Im Kloster ließen sie mich gehen und kommen, wie ich wollte. Der Priester, dem ich beichtete, sagte mir einmal, als ich ihm meinen Wunsch, Nonne zu werden, mitteilte: Marie Therese, binde dich niemals an ein Gelübde, du würdest es brechen. Eines Tages wird dich die Haft des gegebenen Wortes drücken, und du wirst den Sprung in die Freiheit zurück wagen, unbekümmert, ob du andere mit dir in die Tiefe reißest. Denn du brauchst unendlich weiten Boden, um deine Natur auszuleben.«

»Ich will kein Kerkermeister sein. Du sollst deinen weiten Boden neben mir haben.«

»Aber dann wirst du leiden. Du wirst unsicher werden.«

»Meinst du? Laß mich das doch mit mir selbst ausmachen. Wenn du sonst nichts fürchtest, – Marie Therese, warst du denn aufrichtig mit[40] mir? Entbehrt deine Klugheit wirklich der Erfahrung, ist sie nur aus den Erzählungen deiner Mutter geschöpft?«

Sie stützte beide Arme auf den Tisch und das Antlitz darauf. Der Mond warf ungewisse Lichter in ihre Augen.

»Da wäre sie ja, die Frage. Sie ist das Hindernis, das die künftige Frau Professor Steinwald zu nehmen hat. Verunglückt sie mit ihrer Antwort, so ist das ein Gottesurteil.«

»Marie Therese, nicht bitter werden!«

»Da hast du ja schon die ganze Härte des zukünftigen Eheherrn. Nein, nein, protestiere nicht. Würdest du – deine Geliebte eben so gefragt haben?«

»Nein.«

»Denn die Liebe besitzt nur geschenkte Rechte, sie nimmt sich keine heraus. Frag' meine Mutter um die Vergangenheit ihrer Tochter.«

»Deine Mutter ist stumm.«

»Sie würde reden, glaub' mir! Es ist still genug hier, daß wir sie vernehmen würden.«

Es entstand eine Pause. Marie Therese blickte sinnend in den Mondschein hinaus. »Zuerst war sie's, die mir Abscheu vor dem, was ihr ›Liebe‹ nennt, beigebracht hat. Dann erwachte er aus meiner eigenen Anschauung heraus. Schleier um Schleier sank vor meinen Augen ...«

»Wer lüftete sie?«

»Rohe Hände.«[41]

»Und du hast diese Hände –«

»Ich hab' mich ihrer gewehrt, trotzdem griffen sie nach den Falten meines Kleides, wenn ich allein und unbeschützt über die Gassen ging. Meine Mutter war jahrelang an ihr Bett gefesselt.«

»Und?«

»Nun, und, als ich mich in den Sumpfgründen der menschlichen Gemeinheit zurecht gefunden und sie begriffen hatte, lachte ich und war – gesichert.«

»Armes Kind!« Er zog ihren Kopf an sich.

»Und nun will ich auch keine Frage mehr an dich thun. Ich will dein gekränktes Herz wie eine verwundete Taube hegen und pflegen.«

»Ich werde dir immer ein Rätsel bleiben.«

»Bleib' es. Ich liebe dich, wie du bist. Und nun mußt du Frau Steinwald werden.«

»Daß du es nie beklagst.«[42]

Quelle:
Maria Janitschek: Frauenkraft. Berlin 1900, S. 35-43.
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