1.

Die Andern waren schon versammelt, als Thorwalts mächtige Gestalt unter der Thür erschien. Er bot ihnen seinen Gruß und nahm am Kopfende des Tisches Platz. Die Andern ließen sich ebenfalls nieder. Dann begann man zu essen. Der Stuhl zur Rechten des Greises war unbesetzt. Links von ihm saß eine wie aus grobem Eisen gehärtete Gestalt, sein Sohn Ulf, diesem gegenüber dessen Gattin, ein starkknochiges Bauernweib mit herbem, verschwiegenem Gesicht. Neben sich hatte sie ihre beiden Töchter. Die Reihe der Mägde eröffnete ein ganz junges Dirnlein. Gegenüber saßen Ulfs Knaben und die Knechte.

Es wurde wenig beim Mahle gesprochen und das Wenige mit leiser, flüsternder Stimme. Die weite, gewölbte, fast hallenartige Stube, in deren Hintergrund das Feuer auf einem riesigen Herde flackerte, besaß nicht[23] das geringste Schmuck- oder Zierstück. Die braungeräucherten Wände waren kahl, das kleine Fenster, das auf das grünliche Wogenspiel der See hinaussah, war ohne Vorhang. Nur Tisch und Stühle und ein mächtiger Schrank befanden sich in dem Raume, der sein Licht hauptsächlich von dem großen Feuer auf dem Herde erhielt. Von draußen ließ sich das Pfeifen des Windes vernehmen.

»Hast du die Boote festlegen lassen?« fragte der Alte. »Es wird eine unruhige Nacht geben.«

»Ja, Vater, die Boote sind festgelegt.« Der Sohn schob den Löffel zurück.

»Die Gerste in der Scheune untergebracht?«

»Ja, sie ist in der Scheune untergebracht.«

»Hat Lomblad die Bretter geschickt?«

»Nein.«

»Weshalb nicht, da ich sie doch bestellt habe?«

»Der Junge war nicht anwesend und der Alte –«

»Was?«

»Der schien nicht genau von der Bestellung unterrichtet zu sein oder sich nicht zu getrauen –«

Die Brauen Thorwalts wulsteten sich.

»Du sprichst unklar. Wann würde sich ein Vater vor seinem Sohne etwas nicht zu thun getrauen? Du? –«

»Ich wollte nur –«

»Laß mich ausreden. Du setzest den Alten herab.[24] Der Vater ist Herr und Meister seiner Familie. Deshalb ist ihm gestattet, sich einem oder dem andern Geschäfte zu entziehen, zu dem er vielleicht weder Freude noch Nötigung in sich fühlt. So wird es auch bei Lomblad der Fall sein.«

»Ich wollte den Vater nicht als schwach hinstellen, eher vielleicht der Handlungsweise des Sohnes tadelnd erwähnen.«

»Das wäre nicht klug gethan. Die Voraussetzung, daß der Vater ein Schwächling sei, müßte trotzdem vorhanden sein. Und die wäre ein Unrecht. Bin ich nicht dein unumschränkter Herr, so wie du der deiner Kinder bist?«

»Vater, darf ich dir noch etwas Bier einschänken?« fragte Ulfs Frau leise. Ihre Hände zitterten, wie sie vor ihn hintretend den Krug aufhob.

»Nein, ich danke Dir.«

Unsichern Schrittes ging sie auf ihren Platz zurück. Das Gesinde unten am Tische saß regungslos da und wagte nicht die Wimpern zu erheben.

Der Alte ließ seine Blicke langsam über die Anwesenden gleiten, Blicke, aus denen der Glaube an die Macht der eigenen Autorität sprach. »Gott, dann Ich!« war es in dem uralten Eichengiebel des Hauses eingeritzt zu lesen. Und der Mann mit der niedern, harten Stirn und dem halbversteckten Feuer im Blick war[25] der Sohn dieses Alten, dem er alles verdankte, der ihm das Weib in die Kammer geführt hatte und seinen Kindern Gottes rauchenden Zorn im Gewitter zeigte.

Eine schwüle Pause war eingetreten. Keiner wagte zu sprechen. Selbst die Kleinen senkten die Köpfe, denn sie kannten die Strenge des Mannes oben am Tische. Da ists, als ob eine Lerche hereinschwirrte und plötzlich zu jubilieren begänne.

»Vater, weshalb steht der leere Stuhl neben deinem Platze? Wer saß dort? Wann kehrt er wieder?«

Ein Schrecken faßt die Andern. Die kecke Voreiligkeit! Die junge Dirne, die neben den Kindern sitzt, hat den Mund geöffnet. Die braunen Augen unter den feinen dunklen Bogen blitzen vor Lebenslust. Um den rosigen Mund spielt ein Schalklächeln.

Der Alte blickt sie an, wie er etwa ein Insekt oder eine Blume angesehen hätte, die der Wind auf seinen Rockärmel geweht hat. Wird er erzürnen über ihre Weise? Nein, er ergrimmt nicht. Er lehnt sich zurück und richtet die mächtigen Augen auf sie.

»Hier ist der Brauch, erst zu reden, wenn man gefragt wird, verstehst du? Aber du bist erst einen Tag hier und kennst unsere Sitten noch nicht, so will ich dich heute entschuldigen. Dieser Stuhl da ist der meiner Frau. Sie ist vor zwei Wochen gestorben. Er soll zu ihrem Andenken noch stehen bleiben.«[26]

»Habt Ihr sie sehr lieb gehabt?« zwitscherts wieder von unten.

Ulf wirft einen erschreckten Blick auf die Fragerin. Ihre Augen begegnen mit strahlender Wärme den seinen.

Der Alte oben am Tische streicht sich durch den weißen Bart. »Sie war ein braves Weib. Kein Tag ging ihr nutzlos vorüber. Sie hat Gott gefürchtet und ihre Kinder in seiner Zucht erzogen. Sie war mir eine gehorsame Gefährtin. Selbst als ihr jüngster Bruder, dein Vater, ihr den Kummer bereitete, in ein fremdes Land zu ziehen und sich eine Frau aus fremdem Blute zu nehmen, verlor sie nicht ihre Ruhe.«

»Ach, wenn er noch lebte, der gute Vater! Er war so lieb und schön. An Mutter erinnere ich mich gar nicht. Sie starb, als ich noch ganz klein war.«

»Ein Glück.« Hat es jemand geflüstert? Die Anwesenden sehen einander betroffen an.

»Und der Vater lehrte mich eure Sprache. Ich konnte mich mit den andern Kindern fast gar nicht unterhalten, die nur italienisch reden. Wenn der Vater auf Fischfang hinauszog – Du, warum ist denn euer Meer so häßlich graugrün?« wandte sie sich plötzlich an Ulf; der Alte schien ihr zu weit zu sitzen. »Das unsere ist ganz, ganz blau und so lind. Du meinst, in lauter weiche Blumenblätter zu sinken, wenn du in seine Wasser[27] tauchst; du das ist dir schön! Und am Abend, wenn man hinaussegelt, die großen Sterne, die spiegeln sich wieder in der Flut, und dann hast du zwei Himmel, den einen oben und den andern unter dir, und weiche Mandolinenklänge klingen vom Ufer herüber und lassen dich glauben, du hörtest die leisen Stimmen der Engel. Dann kommt wohl einer oder der andre im Nachen dir nach, bindet sein Schifflein an deines, steigt zu dir herüber, legt den Arm um dich und flüstert dir etwas Liebes ins Ohr. Und bunte Lämpchen zünden sie an und essen bei ihrem Rosenschein Konfetto, und schenken einander Blumen und Küsse .....«

»Wie alt bist du, Dirne?« klang es vom Kopfende des Tisches herab.

»Sechzehn, Väterchen.«

Ulf hatte den Arm auf den Tisch gestützt, das Haupt darauf gelehnt und starrte mit großen Augen auf das schwatzende Mägdlein.

»Und du hast wirklich niemanden in Spezia? Hat denn deine Mutter keine Verwandten gehabt?«

»Nein, niemanden. Deshalb sagte mein Vater, bevor er starb: Unten an der nordischen Küste, sagte er, bei Thorwaltshavn, lebt meine Schwester. Geh zu ihr, sie wird dich aufnehmen. Hier will ich dich nicht allein wissen, sagte er. Ich verkaufte alles, was wir besaßen, als er tot war, und kam hierher. O, er war so süß![28] Keinmal kam er nach Hause, ohne mich an seine Brust zu ziehen und zu küssen. Wir hatten einander schrecklich lieb.«

Wieder das fremdartige Wort!

Die grobknochige Frau mit den herben Zügen senkte den Kopf tiefer auf ihren Teller. Die Kinder öffneten die Lippen zu einer leisen Frage an ihren Vater, verstummten aber erschreckt bei seinem Anblick. Seine Augen hingen an den roten Lippen des Mägdleins mit einem Ausdruck, der ganz fremd an ihm war.

»Ich werde nun wohl immer bei euch bleiben. Aber ihr sollt euch freuen an mir. Vater hat mich die Mandoline spielen gelehrt und singen kann ich auch, auch tanzen.«

Sie sprang auf, nahm ihren ärmlichen Rock zierlich zwischen die Fingerspitzen und begann sich im Kreise zu drehen. Aller Augen hingen wie gebannt an ihr.

Da knarrte der Stuhl oben am Tische.

Der Hausherr hatte sich erhoben.

Seine Gestalt schien noch größer und mächtiger als sonst zu sein.

»Führt die Kleine auf ihre Schlafstelle. Der Schluck Bier, den sie trank, ist ihr in den Kopf gestiegen.«

Eine Magd trat heran und gab ihr einen Wink. Sie legte die Finger an die Lippen, warf den Anwesenden eine Kußhand hin, lächelte alle an und folgte[29] der Voranschreitenden. Die Dienstboten erhoben sich, ebenso die Andern.

Nur Ulf blieb sitzen und starrte auf ihren Stuhl hinüber. Plötzlich legte sich eine Hand auf seine Schulter. Er sprang auf. Sein Vater stand mit unbeweglichem Gesichte vor ihm und sah ihn an.

»Mir ist, als hätt ich geträumt« stotterte der Sohn.

Seine Frau und seine Kinder waren demütig hinter seinem Stuhl versammelt, damit er ihren Gutenachtgruß erwidere. Er murmelte etwas zwischen den Zähnen. Der Blick des Alten, der wie eine Flamme auf ihm ruhte, raubte ihm fast die Besinnung.

Da, als die Andern im Fortgehen waren, trat sein ältester Bube nochmals vor ihn.

»Vater!«

»Was willst du?«

»Ich glaube – ich weiß nicht – ich fürchte mich vor der Nacht.«

»Was hast du gethan?« fragte Ulf finster.

»Ich spielte in dem Felsen am Strande, da –« Der Junge stockte.

»Rede die Wahrheit« sagte Thorwalt und legte seine Hand auf den blonden Kopf des Knaben.

»Da sah ich ein Ei in einem verlassenen Nest. Ich legte es der Schwalbenmutter unter. Sie brütete es aus. Ein kleiner, fremder Vogel ist aus dem Ei gekrochen.[30] Aber seither zanken sich die Alten immer und flattern umher, anstatt bei den Jungen zu bleiben. Sie werden allesamt erfrieren müssen. Ich hör' ununterbrochen –«

»Was denn, was hörst du denn?«

»Ihr trauriges Zwitschern. Selbst in der Nacht. Gestern kroch ich zu Radulph aufs Lager und schwatzte mit ihm, um die ängstlichen Laute nicht zu hören. Was soll ich thun? sie werden allesamt zugrundegehen.«

Ulf starrte wie geistesabwesend auf den Platz gegenüber am Tische.

Der Alte sagte: »Nimm den fremden Vogel aus dem Neste.«

»Dann stirbt er aber, denn er kann noch nicht fliegen.«

»Laß ihn sterben.«

»Nein!« schrie Ulf wie erwachend auf, »nein, er soll nicht sterben!«

Aus des Greises Augen flammte ein Blitz.

»Geh fort, Bube!« rief er dem Jungen zu.

Dann standen die beiden Männer einander gegenüber. Sie sahen sich in die Augen. Ulf legte die Hand über die seinen. – – –

Als er aufblickte, war der Alte verschwunden. Er stand allein in der weiten Stube.

Die Flammen auf dem Herde brannten nicht aufwärts, sondern schlugen zur Seite wie in irrer Flucht. – –[31]

Quelle:
Maria Janitschek: Kreuzfahrer, Leipzig 1897, S. 21-32.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Kreuzfahrer
Kreuzfahrer

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon