2.

[32] Andern Tages gegen Abend.

Vor dem kleinen Fenster bäumt sich ein grünliches Gespenst und winkt und droht mit huschenden Händen. Die See ist in unheimlicher Erregung. In der braunen Stube sitzen die Leute am langen Tische und verzehren schweigend ihr Nachtmahl. Das Herdfeuer wirft ungewisse Lichter um sich. Bald lohts durch den Raum wie sinkender Sonnenschein, bald hüllt Dämmerung alles in fahle Schatten, bald ruht auf des Einen oder Andern Haupt ein flimmernder Glanz. Sie schweigen und essen, wie sie gestern und vorgestern thaten. Oben am Kopfende sitzt der Alte, wie er vor fünfzig Jahren schon saß, mit unbeweglichem, steinernem Gesicht, in dem nur die Augen zu leben scheinen, ein unergründliches, von niemand verstandenes Leben.

Drei Stühle am Tische sind leer: der der Toten, Ulfs Stuhl und jener der jungen Dirne.

Der Greis sieht die Leute entlang.

»Wo ist Ulf?«

»Er ist vor etlichen Stunden mit seinem Netze hinausgerudert, Vater.«

»War er allein?«[32]

»Nein, Vater, deiner Frau Bruderkind war mit ihm.«

Das grobknochige Weib mit dem herben, demütigen Gesichte neigt sich wieder über den Teller. Der Greis schweigt und streicht langsam durch seinen niederwallenden Bart. »Weshalb ging die Dirne mit ihm?«

Die Frau weiß keine Antwort zu geben, aber ihr jüngster Bub weiß eine.

»Sie mochte Thora nicht zur Hand sein, sondern tanzte und sang draußen umher. Gegen Mittag kam Svend vom Bernsteinhof herüber. Was habt ihr für ein Tiriliren im Hause? fragte er. Ists ein Vogel oder eine Flöte, die da singt? Keins von beiden, sondern meiner Großmutter Bruderkind ists, das da singt, sagte ich und deutete auf sie. Sie kam eben herbei. Vater folgte ihr. Er hob die Faust auf, sie aber fiel ihm in den Arm und bettelte, daß er ihr nichts zu Leid thue. Sie fuhr mit der Hand über seine Wange und lächelte ihn an. Da wurde er ganz still. Svend ging ins Haus. Mein Vater sagte: Die Wellen können aber doch lauter singen als du. Mir kam vor, er hätte aus dem Keller heraufgesprochen, weil es so tief klang. Aber er stand neben ihr. Da rief sie: Das möchte ich versuchen. Ich muß hinausfahren, sagte er hierauf und ging vor das Haus. Sie bat: Nimm mich mit! Er antwortete nicht, hob sie aber ins Boot und ruderte hinaus.«[33]

Es ist totenstill, als der Knabe ausgesprochen hat. Vom Herde kommt ein geheimnisvolles Raunen und Flüstern, und der Wind schlägt ans Fenster.

Da dröhnt es draußen im Flur wie von schweren, schlürfenden Tritten.

»Ulf« murmelt der Greis. Niemand wagt aufzustehen, obgleich sie ihr Essen beendet haben. Eine lange Pause.

Die Schritte sind verstummt, alles bleibt still draußen.

»Ulf!« ruft der Alte mit mächtiger Stimme. Keine Antwort. »Hole deinen Vater!« Der älteste Knabe erhebt sich gehorsam und eilt hinaus. Er kehrt nicht wieder. Und nun stehen alle zugleich auf, wie unter einer plötzlichen Eingebung. Ohne ein Wort zu wechseln, treten sie hinaus, zuletzt mit gesenktem Kopf die Mutter der Kinder. Nur Thorwalt bleibt bewegungslos auf seinem Platze sitzen.

Von draußen dringt geheimnisvolles Flüstern herein, als ob keiner wagte, laut zu sprechen. Dann öffnet sich schwerfällig die Thür. Ulf tritt herein.

Seine Kleider tropfen; sein Gesicht ist weiß wie der Schaum auf den Wogen draußen. Er bleibt beim Eingang stehen, ohne die Kraft oder den Muth zu finden, näherzutreten.

»Wo ist die Dirne?«[34]

»Das Boot ist gekentert; sie ist ertrunken.«

Aus dem schneeweißen Gesicht richten sich zwei starre, brennende Augen in die des Alten.

Der entgegnet nichts, streicht sich durch den Bart und schreitet langsam hinaus.

Ulf ist allein. Seine Blicke suchen einen Stuhl am Tische, dann schleppt er sich vor den Herd und blickt in die Flammen. Sie steigen ruhig und kerzengrade empor.

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Quelle:
Maria Janitschek: Kreuzfahrer, Leipzig 1897, S. 32-37.
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