8

[70] Der nächste Tag war ein Sonntag.

Hildegard schlief lange, setzte sich dann ans Fenster und starrte in den trüben Schacht hinab, aus dessen Tiefe ihr feuchter Modergeruch entgegendrang. Zum Frühstück zu gehen, getraute sie sich nicht, ihrer spärlichen Geldmittel wegen.

Später verließ sie das Haus und begab sich auf Umwegen in die Pomona. Fräulein Kampfmann war heute bei Bekannten zu Tisch gebeten und nicht anwesend. Fräulein Glanegg hatte eine ältere, abschreckend häßliche Person neben sich sitzen, mit der sie sich aufs angelegentlichste unterhielt.

Hildegard entfernte sich, nachdem sie ihr einfaches Essen eingenommen hatte.

Wieder ging sie planlos durch fremde Straßen mit fremden, drängenden, hastigen Menschen. Das Herz war ihr überaus schwer. Dazu war die Luft von dickem[70] gelblichen Nebel angefüllt, der kein freies Aufatmen zuließ. Infolge des Sonntags hatten alle Geschäfte ihre grauen Rollladen herabgelassen und die ganze Stadt sah aus, als habe sie ein Trauergewand angelegt. Als Hildegard eine zeitlang gegangen war, lenkte sie ihre Schritte nach Hause. Schlafen gehen, oder denken, denken das blieb ja noch immer. Gott würde sie nicht wahnsinnig werden lassen, Gott, ja! Hatte sie sich in den letzten Jahren jemals um ihn gekümmert? Seit sie ihre Kinderschuhe ausgezogen hatte, war es ihr nicht mehr eingefallen, sich religiösen Empfindungen hinzugeben. Es ist ja das Kennzeichen einer gewissen Sorte von Frauen, mit Ironie über Dinge herzufallen, die sich ihrer Urteilskraft entziehen. Wenn der greise Gelehrte, verführt durch die überraschenden Ergebnisse seiner Forschung sich an der letzten Grenze des Erkennens angekommen dünkt und die Wissenschaft zum Gott ausruft, so versteht man seinen Irrtum aus seinem stolzen Freudenrausch heraus. Aber die Frau mit ihrer Töchterschulbildung, die Frau, die dem einfachsten Satz der Philosophie nicht mehr zu folgen vermag! Woher nimmt sie den Mut, wegwerfend zu sagen: Ich glaube an keinen Gott, ich bin aus Uberzeugung über alle diese Dinge hinaus. Ich! Mein Himmel, wie albern sind wir doch, wie grenzenlos thöricht, wie unglaublich einfältig, dachte Hildegard. Und dann stieg eine warme[71] tiefe Sehnsucht in ihr empor. Sie eilte die Treppe hinauf, schloß ihr Zimmer auf und warf sich auf die Kniee! Wie so Tropfen für Tropfen der Selbsterkenntnis auf sie träufelte! Wie von Stunde zu Stunde das Bild ihres Wesens klarer vor ihr aufstieg. So sah die Frau des Fortschritts aus! Sie verachtet Gott, weil er ihr zu hoch ist, sie lächelt über die Männer, weil sie ihr geistiges Übergewicht nicht anerkennen mag, sie will selbst regieren, nicht weil sie etwa neue Gesichtspunkte gefunden hat, sondern weil die Sehnsucht nach Abwechslung mächtig in ihr geworden ist. Jetzt will sie einmal die Hosen tragen. Die Gegenwart soll in ein Puppentheater umgewandelt werden. Hildegard lächelte; dann stiegen ihr Thränen in die Augen. Ein altes Kindergebet, das sie zwanzig Jahre lang vergessen gehabt hatte, war auf ihre Lippen getreten. Es war wundersam traurig und beseligend zugleich, daß ihr alle diese Erkenntnis jetzt kam. Wenn es doch nicht zu spät gewesen wäre! Aber es war zu spät. Jetzt gab es keine Rückkehr mehr. Sie mußte ihrem Irrtum die beste Seite abzugewinnen suchen, mußte ausharren, das Wort, daß die Frau selbständig sein kann, wahr machen. Nun, eine oder die andere Stellung würde sich ja wol für sie finden. Hatte sie doch schon ihre Ansprüche bedeutend niederer geschraubt. Sie konnte sie noch niederer schrauben. Wenn sie nur so lange, bis sie eine Beschäftigung[72] fand, mit ihrem Gelde auskam. Ihr Barvermögen bestand aus einer Mark. Morgen, übermorgen befand sie sich in der peinlichsten Lage. Sie war es sich selbst schuldig, es nicht bis zum Äußersten kommen zu lassen. Mit einer energischen Bewegung erhob sie sich, trat an den Tisch und schrieb an ihren Mann: »Bitte sende mir hundert Mark, aber wenn möglich, sofort.«

Dann steckte sie den Brief in ein Couvert, adressierte ihn und trug ihn selbst auf die Post. Als sie von da zurückkehrte, fand sie Fräulein Schulze im Vorzimmer. Sie hatte ein sehr blasses Gesicht und hielt ein nasses Taschentuch an den Kopf gepreßt. Hildegard sagte ihr ein paar teilnehmende Worte. »Ja« erwiderte sie mit kläglicher Heiterkeit, »und das allerunangenehmste ist, ich sollte heute Abend bei einer Unterhaltung sein, zu der auch mein Bräutigam geladen ist. Abzuschreiben wäre zu spät. Gehen Sie selbst zu ihm« wandte sie sich an die Magd, »und sagen Sie, wies um mich steht, und er möchte mich bei Lechners entschuldigen.«

Die Dienerin zögerte einen Augenblick. Dann grinste sie: »Muß ick jleich wieder zurück sein?«

Fräulein Schulze machte eine Handbewegung, die zu sagen schien: Mach, was du willst, laß nur mich im Frieden. Als sie fort war, fragte Hildegard: »Leiden Sie oft an Migräne?«[73]

»Nein, nicht oft, nur wenn ich unvorsichtig bin. Ich habe bei der Familie, bei der ich heute Mittag zu Tisch geladen war, von einer Speise gegessen, die ich sehr liebe, die mir aber immer schlecht bekommt. Nun muß ich büßen.«

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« fragte Hildegard höflich.

»Danke sehr, nein. Das beste in diesem Zustand ist die Ruhe. Absolute Ruhe und Dunkelheit.«

»Absolute Ruhe da vorne, das ist lustig« meinte Hildegard.

»Ja, da ist eben nichts zu wollen.«

»Wissen Sie« sagte die junge Frau, durch die Resignation ihrer Wirtin gerührt, »schlafen Sie diese Nacht hinten, ich geh nach vorne. Dort haben Sies ja wirklich still.«

Nach einigem Hin- und Herreden und lebhaften Dankesäußerungen nahm Fräulein Schulze das Anerbieten an. Im Nu waren die Betten umgetauscht; dann gingen die beiden Frauen zur Ruhe, obwohl es noch früh an der Zeit war. Hildegard fühlte sich totmüde und schlief trotz des Höllenlärms auf der Straße und trotz der blendenden Helle in der Stube bald ein. Sie wußte nicht wie viel Uhr es sein mochte, als sie plötzlich die Augen aufschlug. Das Zimmer war finster, die Lampe vor dem Fenster war ausgelöscht.[74]

Ein Etwas hatte sie erweckt. Was war es? Sie wagte sich nicht zu regen und starrte entsetzt vor sich ins Dunkel. Was war es nur? Sie glaubte nicht an Gespenster, und doch ..... Es war etwas anwesend, ein Zweites, etwas Häßliches. Sie fühlte es, ohne es zu sehen. In diesem Augenblick glitt eine tastende Hand neben ihr hin. Hildegard stieß einen Schrei aus, sprang aus dem Bette und warf sich auf den schleichenden Feind.

»Na nu, Se erdrücken mir ja, Hülfe, Hülfe!«

»Sie sinds, Sie! .... Was suchten Sie hier?«

»Na, na, vorerst wenn ick bitten darf, lassen Se mir jefälligst los, ick bin keen Huhn nich, det man so mir nichts, dir nichts anpackt.«

»Ich lasse Sie nicht los, bevor Sie –«

»Um Gotteswillen, was geschieht hier?«

Fräulein Schulze, eine brennende Kerze in der Hand, stürzte herein. »Was geschieht, was ist los?«

»De Frau ist doll –«

»Fräulein Schulze, Sie haben da eine Gaunerin im Hause. Zum zweiten Mal hat sie mir einen nächtlichen Besuch gemacht.« Und ohne eine Äußerung ihrer Wirtin abzuwarten, die zappelnde Magd mit sich schleppend, trat sie in das andere Schlafzimmer.

»Leuchten Sie« herrschte sie die Zimmervermieterin an, und näherte sich dem Nachtkästchen. »Aha, hier ist[75] die Lösung des Geheimnisses. Da liegt Ihre Börse. Liegt sie jeden Abend da?«

Fräulein Schulze erblaßte. »Jawohl.« »Det bitt ick mir aus« geiferte die Dienerin, von Hildegard freigegeben. »Ick bin eene anständige –«

»Schweigen Sie sofort« sagte Hildegard ruhig, »in der Nacht, als wir unsere Schlafzimmer vertauscht hatten, ohne daß Sie davon wußten, erschienen Sie und suchten die gewohnte Börse Ihres Fräuleins, um sie zu erleichtern. Diese Nacht, als sich das Wechseln der Zimmer ohne Ihr Wissen wiederholte, erschienen Sie abermals an meinem Nachtkästchen, um den gewohnten Diebstahl zu begehen. Fräulein Schulze, ich fordere Sie auf, den Koffer dieser Person zu untersuchen. Das Geld, das sie Ihnen gestohlen hat, wird wol kaum darinnen zu finden sein, hingegen wer weiß, was alles sonst.«

Die Direktrice schlug die Hände zusammen.

»Aber Anna, nein –«

»Lassen Se mir zufrieden, ick jeh noch diese Nacht; mit eener Dollen –« sie deutete auf Hildegard, »bleib ick nich unter eenem Dach.«

»Fräulein Schulze« wiederholte Hildegard bestimmt, »Sie sind mir, Ihrer Mieterin es schuldig, die Sachen dieser Betrügerin zu untersuchen. Wer weiß, was sie auch mir entwendet hat.«

Die noch immer vor Schrecken fast wortlose Vermieterin[76] trat ins Vorzimmer an den Korb der Magd, dessen Deckel nur lose geschlossen war.

»Da wird nichts sein« sagte sie sich niederkauernd, »er ist ja nicht einmal verschlossen.«

»Bitte öffnen Sie nur« drängte Hildegard, »diese Person ist so frech, daß ich ihr zutraue, ihre Diebstähle ganz offen auszuführen.«

Hildegard hatte recht gehabt. Schon nach den ersten Kleidungsstücken, die Fräulein Schulze heraushob, kamen verschiedene Wäschestücke, die ihr gehörten, zum Vorschein. Die Diebin sah mit gekreuzten Armen und mit höhnischem Lächeln zu. »Sachen, die ick für det Fräulein stopfen sollte.«

»Aber es sind ja gerade Stücke, die noch ganz neu und gut sind, Anna.«

»Reden Sie doch nicht,« rief Hildegard ungeduldig, »die Person ist als Diebin entlarvt und muß der Polizei übergeben werden.«

Fräulein Schulze brach in Thränen aus und stand auf. »Nein, nein, es kann ja nicht sein, nicht wahr Anna? reden Sie doch.«

»Fiel mir in« sagte die Magd wegwerfend, »ick jehe jleich, oder wolln Se mir wirklich arretieren lassen, dann wart ick so lange.«

»Ja, Sie werden so lange warten« rief Hildegard und sah sich nach Hut und Mantel um.[77]

»Was wollen Sie thun?« Fräulein Schulze ergriff sie beim Arm.

»Mag das Mädchen ziehen! Aufsehen in meinem Hause um keinen Preis! – Gehen Sie, Anna, machen Sie schleunig.«

Ein grinsendes Lächeln erschien auf dem Gesichte der Diebin.

»Sehn Se woll. In Berlin is man mit'n Leuten höflicher, als in Ihrem Provinzwinkel. Na, nu leuchten Se mer aber ooch hübsch hinunter.«

Sie nahm etliche Kleidungsstücke vom Kleiderrechen herab, warf ihre Jacke um und faßte den Korb.

»Na wolln Se mer leuchten, oder nich? Wenn ick mir Hals und Beene uff der Treppe breche, müssen Se mir Schadenersatz zahlen.«

Hildegard stellte sich vor die Thür.

»Sie lassen die Diebin doch nicht entwischen.«

Fräulein Schulze langte den Hausthorschlüssel herab. »Kommen Sie, Anna, kommen Sie.«

Dann gingen beide die Treppe hinab.

»Sie haben ein schweres Unrecht begangen« sagte Hildegard, als das Fräulein wieder heraufkam. »Solche Leute läßt man nicht laufen. Was nun, wenn sie in einer anständigen Familie eintritt und ihr Diebshandwerk von neuem beginnt?«

»Ach, was geht mich das an?«[78]

Fräulein Schulze sank kraftlos auf das Sopha, das der Magd als Lager gedient hatte.

»Hören Sie, das ist aber ein böser Standpunkt« meinte Hildegard erregt auf- und niederschreitend. Dann trat sie vor ihre Wirtin hin. »Fräulein Schulze, haben Sie denn nie gemerkt, daß Ihnen Geld fehlte?«

Die Angeredete senkte die Augen und schwieg.

»Das ist eine Bejahung!« rief Hildegard.

»Meinetwegen, aber – konnte ich denn ahnen –« sie brach wieder in Thränen aus; dann trocknete sie sich die Augen. »Sehen Sie, ich soupiere jeden Abend mit meinem Bräutigam. Mein Gott, andere Freuden hat unsereins keine. Man geht einmal in den Wintergarten, ins Apollotheater u.s.w. Da giebt man Geld aus. Nach Hause zurückgekehrt, ist man nicht mehr so ganz nüchtern, auch hat man keine Lust, in der Nacht alle Pfennige nachzurechnen. Im großen Ganzen wußte ich ja, wie viel ich monatlich verausgabte. Aber bei den täglichen Auslagen – Ich spürte wohl oftmals das Fehlen einer kleinen Summe. Aber ich dachte immer, ich hätte das Geld verloren, oder aber mein Bräutigam hätte vielleicht einige Silbermünzen aus meiner Börse genommen. Auf diese Idee konnte ich doch nicht kommen. Abends legte ich die Börse immer neben Schlüssel und Taschenuhr. Ich schlafe sehr fest, wenn ich einmal eingeschlafen[79] bin. Diese Nacht wachte ich wegen meiner Kopfschmerzen, sonst hätte ich Sie wohl kaum sprechen hören.«

»Und Sie wollen also die Gaunerin frei laufen lassen?«

»Gewiß, ich habe mit der Polizei nicht gerne zu thun.«

Sie sprachen noch eine zeitlang miteinander. Hildegard erzählte die Einzelheiten ihrer beiden nächtlichen Wahrnehmungen, dann gingen beide auf ihr Zimmer. Von Schlafen war keine Rede. Jede gab sich ihren besonderen Gedanken hin.

Könnt ich doch fort aus diesem entsetzlichen Hause, dachte Hildegard. Wer weiß, was ich hier noch erlebe![80]

Quelle:
Maria Janitschek: Die Amazonenschlacht, Leipzig 1897, S. 70-81.
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