Erste Vorlesung

Wonsiedel – Geburt – Großvater

Geneigteste Freunde und Freundinnen!


Es war im Jahr 1763, wo der Hubertsburger Friede zur Welt kam und gegenwärtiger Professor der Geschichte von sich; – und zwar in dem Monate, wo mit ihm noch die gelbe und graue Bachstelze, das Rotkehlchen, der Kranich, der Rohrammer und mehre Schnepfen und Sumpfvögel anlangten, nämlich im März; – und zwar an dem Monattage, wo, falls Blüten auf seine Wiege zu streuen waren, gerade dazu das Scharbock- oder Löffelkraut und die Zitterpappel in Blüte traten, desgleichen der Ackerehrenpreis oder Hühnerbißdarm, nämlich am 21ten März; – und zwar in der frühesten frischesten Tagzeit, nämlich am Morgen um 11/2 Uhr; was aber alles krönt, war, daß der Anfang seines Lebens zugleich der des damaligen Lenzes war.

Den letzten Einfall, daß ich und der Frühling zugleich angefangen, hab' ich in Gesprächen wohl schon hundert Male vorgebracht; aber ich brenn' ihn hier absichtlich wie einen Ehrenkanonenschuß zum 101ten Male ab, bloß damit ich mich durch den Abdruck außer Stand setze, einen durch den Preßbengel schon an die ganze Welt herumgereichten Bonmot-Bonbon von neuem aufzutragen. Es ist nicht gut, wenn in die Geschichte eines Mannes – und heckte er täglich die neuen Einfälle zu Schocken – das Schicksal selber ein Wortspiel wie ein Nestei gelegt hat; auf diesem Ei sitzt und brütet er sein Leben lang und will etwas herausbringen. So hab' ich einen Balbier und einen Kutscher gekannt, welche beide auf die Frage, wie sie hießen, niemal anders oder einfacher oder mit weniger Witz [zu] antworten pflegten als: »Ihr gehorsamer Diener« – oder auch: »Ihr Diener Diener«; aber die Ursache war, jeder hatte das Unglück, Diener zu heißen, und damit waren sie zu einem unaufhörlichen Einfalle verdammt und ihr Passat-Witz strömte nach einer Richtung fort. – Um so weniger hoffe keiner von uns, meine Verehrtesten, irgendeinen Mann, der einen Eigen- und Gemeinnamen zugleich führt, wie z.B. Ochs und Rapinat (beide sonst in der Schweiz) – Wolf – Schlegel – Richter, einen solchen doppelnamigen Mann mit irgendeinem noch so glänzenden Wortnamenspiel zu überraschen; denn er hat lange genug mit seinem Namen gelebt, um nicht jede Namenanspielung, die dem Neuling seiner Bekanntschaft neu, fern und witzig vorkommt, in sich als abgenützte zu finden. Witziger wortspielte z.B. Müllner mit Schotten und Schatten; denn kein Schotte hielt sich je für einen Schatten, und kein Schatte für einen Schotten, denn zwei Selblauter trennen sie ewig.

– Ich kehre aber zu unserer Geschichte zurück und begebe mich unter die Toten; denn alles ist aus der Welt, was mich auf sie kommen sah. Mein[707] Vater hieß Johann Christian Christoph Richter und war Tertius und Organist in Wunsiedel; meine Mutter, die Tochter des Tuchmachers Johann Paul Kuhn in Hof, hieß Sophia Rosina. Am Tage nach der Geburt wurd' ich vom Senior Apel getauft. Der eine Taufpate war gedachter Johann Paul; der andere Johann Friedrich Thieme, ein Buchbinder, der damals nicht wußte, welchem Mäzen seines Handwerks er seinen Namen verlieh; daher denn der von beiden zusammengeschoßne Name Johann Paul Friedrich entstand, dessen großväterliche Hälfte ich ins Französische übertragen und dadurch zum ganzen Namen Jean Paul erhoben, aus Gründen, welche in spätern Vorlesungen dieses Winterhalbjahrs vollständig angegeben werden sollen.

Aber jetzo mag der Held und Gegenstand dieser historischen Vorlesungen unbesehen in der Wiege und an der Mutterbrust so lange liegen und schlafen – da doch dem langen Morgenschlaf des Lebens nichts für allgemeinwelthistorisches Interesse abzuhören ist – so lange, sag' ich, bis ich von denen gesprochen, wenn auch nicht viel und genug, nach welchen mein Herz sich und die Feder hindrängt, von meinen Vorverwandten, von Vater, Mutter und Großeltern.

Mein Vater war der Sohn des Rektors Johann Richter in Neustadt am Kulm. Man weiß nichts von diesem als daß er im höchsten Grade arm und fromm war. Kommt einer von seinen zwei noch übrigen Enkeln nach Neustadt, so empfangen ihn [die] Neustädter mit dankbarer Freude und Liebe, alte erzählen, wie gewissenhaft und strenge sein Leben und sein Unterricht gewesen und doch wie heiter beide. Noch zeigt man ein Bänkchen hinter der Orgel, wo er jeden Sonntag betend gekniet; [und] eine Höhle, die er sich selber in den sogenannten kleinen Culm gemacht, um darin zu beten, und welche nach den Fernen offenstand, in welchen sein feuriger Sohn – obgleich nur für ihn zu feurig – mit den Musen und der Penia spielte. Die Abenddämmerung war eine tägliche Herbstzeit für ihn, worin er einige dunkle Stunden in der ärmlichen Schulstube auf- und abgehend, die Ernte des Tags und die Aussaat für den Morgen unter Gebeten überschlug. Sein Schulhaus war ein Gefängnis, zwar nicht bei Wasser und Brot, aber doch bei Bier und Brot; denn viel mehr als beide – und etwa frömmste Zufriedenheit dazu – warf ein Rektorat nicht ab, das obwohl vereinigt mit der Kantor- und Organistenstelle, doch dieser Löwengesellschaft von 3 Ämtern ungeachtet nicht mehr abwarf als 150 Gulden jährlich. Und an dieser gewöhnlichen baireuthischen Hungerquelle für Schulleute stand der Mann 35 Jahre lang und schöpfte. Allerdings hätt' er ein oder mehr Paar Bissen oder Pfennige gewonnen, wär' er weitergerückt, z.B. zu einem Landpfarrer hinauf. Sooft die Schulleute ihre Kleider wechseln, z.B. den Schulmantel in den Priestermantel, so bekommen sie bessere Kost, wie die Seidenraupen bei jeder neuen Häutung reicheres Futter erhalten, so daß ein solcher Mann die Vermehrung seiner Einkünfte durch das Vermehren seiner Arbeiten so weit treiben kann, daß er einem mit Wart- oder mit Gnadengeldern oder überhaupt[708] hohen quieszierten Staatbeamten nachkommt, dessen fünf Notenlinien von Treffern durch die ganze Partitur der Kammer bei allem Pausieren des Instruments durchgeführt werden. –

Wenn indes mein Großvater die Eltern seiner Schüler nachmittags besuchte, mehr der Schüler als der Eltern wegen: so brachte er von dem vorhin erwähnten Bier und Brot, bei welchem er lebenlang saß, sein Stück Brot in der Tasche mit und erwartete als Gast bloß ein Kännchen Bier. Es traf sich aber endlich im Jahre 1763 – eben in meinem Geburtjahr –, daß er am 6ten August, wahrscheinlich durch besondere Konnexionen mit Höhern steigend, eine der wichtigsten Stellen erhielt, wogegen freilich Rektorat und Stadt und der Culmberg leicht hinzugeben waren, und zwar zahlte er gerade erst 76 Jahre, 4 Monate und 8 Tage, als [er] die gedachte Stelle wirklich erhielt im Neustädter – Gottesacker; seine Gattin aber war ihm schon 20 Jahre vorher dahin vorausgegangen in die Nebenstelle. – Meine Eltern waren mit mir als 5 Monat altem Kinde zu seinem Sterbelager gereiset. Er war im Sterben, als ein Geistlicher (wie mir mein Vater öfter erzählt) zu meinen Eltern sagte: lasset doch den alten Jakob die Hand auf das Kind legen, damit er es segne. Ich wurde in das Sterbebett hineingereicht und er legte die Hand auf meinen Kopf – – Frommer Großvater! Oft hab' ich an deine im Erkalten segnende Hand gedacht, wenn mich das Schicksal aus dunkeln Stunden in hellere führte; und ich darf schon den Glauben an deinen Segen festhalten in dieser von Wundern und Geistern durchdrungenen, regierten und beseelten Welt!

Mein Vater, in Neustadt 1727 den 16ten Dezember geboren – fast mehr zum Winter des Lebens als gleich mir zu einem Frühling, würd' ich sagen, hätte seine Kraftnatur sich nicht auch in Eisberge gute Häfen einzuschneiden vermocht – konnte das Lyzeum in Wunsiedel, wie Luther die Schule in Eisenach, nur als sogenannter Alumnus oder armer Schüler genießen oder erdulden; denn wenn man 150 fl. jährliche Einnahme gehörig unter Vater, Mutter und mehre Schwestern verteilte, so mußte auf ihn selber gerade gar nichts kommen, als höchstens das Alumnus-Brot. Darauf bezog er das Gymnasium poeticum in Regensburg, um nicht nur in einer größern Stadt zu hungern, sondern auch darin statt des Laubes die eigentliche Blüte seines Wesens zu treiben. Und diese war die Tonkunst. In der Kapelle des damaligen Fürsten von Thurn und Taxis, – des bekannten Kenners und Gönners der Musik – konnte er der Heiligen, zu deren Anbetung er geboren war, dienen. Klavier und Generalbaß erhoben ihn zwei Jahrzehende später zu einem geliebten Kirchenkomponisten des Fürstentums Baireuth. An Karfreiabenden erfreuete er oft sich und uns Kinder mit den Darstellungen der heiligen Allmacht, womit an eben diesen Tagen die Töne in katholischen Kirchen die Seelen hoben und heiligten. Ich muß leider bekennen, daß mir, als ich vor einigen Jahren in Regensburg war, unter allen dortigen Antiken und Vergangenheiten – nicht einmal den Reichstag ausgenommen – das[709] väterliche gedrückte Leben die wichtigste war; und ich dachte im Thurn und Taxischen Palast und in den engen Gassen, wo ein paar Dickbäuche ein schweres Ausweichen haben, oft an die einklemmenden Wege und engen Pässe seiner Jugendtage. Darauf studierte er statt der Tonkunst in Jena und Erlangen Theologie, vielleicht bloß um in Baireuth, wo sein Sohn alle diese Nachrichten sammelt, als Hauslehrer eine Zeit lange, d.h. bis in sein 32tes Jahr, sich abzuplagen. Denn schon 1760 rang er dem Staate den Posten eines Organisten und Tertius in Wonsiedel ab; und machte sonach unter dem Baireuther Markgrafen mehr und früheres Glück als jener Kandidat in Hannover, wovon ich gelesen, welcher 70 Jahre alt wurde und doch keine andere Stelle in der Kirche bekam als eine darneben im Kirchhofe.

Nur fürchte aus dem bisherigen ja niemand von meinen Zuhörern, daß sie etwan einen Vater von mir vorbekommen, welcher erbärmlich wie einige neuere Überchristen in tränennasse Schnupftücher eingewindelt daherzieht; er lebte auf Flügeln, und wurde als der anmutigste Gesellschafter voll Scherz in den Familien von Brandenburg und Schöpf gesucht. Die Kraft des geselligen Scherzes begleitete ihn durch sein ganzes Leben, indes er im Amte als strengster Geistlicher und auf der Kanzel als sogenannter Gesetzprediger galt. In seiner Vaterstadt gewann er durch seine begeisterten Predigten seine Anverwandten, in Hof im Vogtland noch etwas Wichtigeres, eine Braut und was noch schwerer war, die reichen Schwiegereltern dazu. Wenn ein Bürger, der durch Tuchmachen und Schleierhandel wohlhabend geworden, von seinen zwei einzigen Töchtern die schönste kränklichzart gebildete und geliebteste einem dürftigen Tertius, der mit seinen Gläubigern eine Tagreise von ihm wohnt, nicht versagt: so konnte auf der einen Seite dieser Tertius nur mit vielem Verdienste der persönlichen Erscheinung und mit dem Ruhm und Ein druck großer Kanzelgaben Tochter und Eltern erobert haben, und auf der andern mußte in dem Tuchmacher eine über sein Tuch und Geld erhobene Seele wohnen, für welche der Stand des Talents und der geistlichen Würde in einem höhern Lichte erschien als der gleißende Silberhaufe eines gemeinen Wesens. Im Jahre 1761 den 13ten Oktober ging die Liebende als Braut mit ihren Schätzen in sein enges Schulhäuschen, das er zum Glück ohnehin durch kein Hausgeräte noch enger gemacht. Sein heiteres Leben, seine Gleichgültigkeit gegen Geld verbunden mit seinem Vertrauen auf seine Haushälterin ließen in der Tertiat-Konchylie überflüssig-leeren Raum für alles offen, was aus Hof von fahrender Habe Platz nehmen wollte; – aber meine Mutter – so waren die damaligen Eheleute und einige jetzige – stieß sich in der ganzen Ehe so wenig an diese Leerheit als mein Vater selber. Der kräftige Mann muß den Mut haben, ebensogut eine Landreiche zu ehelichen als eine Hausarme.

In meinen historischen Vorlesungen wird zwar das Hungern immer stärker vorkommen – bei dem Helden steigts sehr – und wohl so oft als das Schmausen in Thümmels Reisen und das Teetrinken in Richardsons Clarisse;[710] aber ich kann doch nicht umhin, zur Armut zu sagen: sei willkommen, sobald du nur nicht in gar zu späten Jahren kommst. Reichtum lastet mehr das Talent als Armut und unter Goldbergen und Thronen liegt vielleicht mancher geistige Riese erdrückt begraben. Wenn in die Flammen der Jugend und vollends der heißen Kräfte zugleich noch das Öl des Reichtums gegossen wird: so wird wenig mehr als Asche vom Phönix übrig bleiben; und nur ein Goethe hatte die Kraft, sogar an der Sonne des Glücks seine Phönixflügel nicht kürzer zu versengen. Der arme historische Professor hier möchte um vieles Geld nicht in der Jugend viel Geld gehabt haben. Das Schicksal macht es mit Dichtern wie wir mit Vögeln und verhängt dem Sänger so lange den Bauer finster, bis er endlich die vorgespielten Töne behalten, die er singen soll.

Nur aber verschone, gerechtes Geschick, einen alten Menschen mit Darben! Der, gerade dieser soll und muß etwas haben; seinen Rücken haben schon die schweren Jahre zu krumm gebogen, und er kann sich nicht mehr aufrichten und wie Jünglinge Lasten leicht tragen auf dem Kopfe. Der alte Mensch braucht die Ruhe in der Erde schon auf ihr; denn er hat ja keine pflanzende blühende Zukunft mehr als Folie für seine Gegenwart. Er will zwei Schritte vom letzten und tiefsten Schlafbette ohne andere Vorhänge als Blumen im Großvaterstuhl des Alters noch ein wenig ruhen und schlummern und noch einmal halb im Schlafe die Augen aufmachen und die alten Sterne und Wiesen seiner Jugend anschauen, und ich habe so wenig dagegen – da er doch sein Wichtigstes getan hat, sogar für die andere Welt – wenn er sich abends freuet auf sein Frühstück und am Morgen auf sein Bett und wenn ihn als zum zweiten Male ein Kind die Welt unter den unschuldigen Sinnenfreuden entläßt, womit sie ihn als erstes aufgenommen.

Nur einen einzigen Fehlentschluß meines Vaters könnte man vielleicht auf die Rechnung der Dürftigkeit setzen, daß er nämlich anstatt sein ganzes musikalisches Herz der Tonmuse zu geloben, wie ein Mönch [sich] dem Predigtamte hingab und daß [er] sein Ton-Genie in eine Dorfkirche begraben ließ. Freilich war damals – zumal nach der Meinung bürgerlicher Schwiegereltern – das Kirchenschiff das Proviant- und Luftschiff, und der dürftige Musensohn suchte in den Kanzelhafen einzulaufen. Aber wer eine nicht von Bedürfnissen und Abrichtungen aufgedrungne mit ihm aufgewachsene Deklination und Inklination seiner Magnetnadel in sich fühlt: der folge ihrer Weisung getrost als einer Nadel durch die Wüste hin. Hätte gegenwärtiger Professor der eignen Geschichte seinem Vater, wie dieser es selber begehrte, nachgeahmt: so hielte er jetzo statt dieser Vorlesungen heilige Amtreden, sowohl Kasual- als andere Reden und etwan im »allgemeinen Magazin für Prediger« dürft' er stehen, nur leider dasselbe über Gebühr anschwellend.

Aber mein Vater wurde im Grunde weder sich noch der Ton-Muse untreu. Besuchte sie ihn denn nicht als alte Geliebte im Nonnengewande der[711] heiligen Jungfrau und brachte ihm im einsamen tonlosen Pfarrdorf Joditz jede Woche Kirchenmusiken mit? – Und auf der andern Seite wohnte noch eine andere Kraft neben seiner musikalischen in ihm und suchte ihren Spielraum, die Kanzel; denn wenn gewöhnlich der große Tonkünstler nach einer alten Bemerkung nur das sinnliche Trinken und nach Lavater das sinnliche Essen sucht und so der Kapellmeister als sein Selbkellermeister und als sein Selbspeisemeister erscheint: so hört man eben nicht, daß sie besondere Kanzelredner dabei waren. Beredsamkeit, die prosaische Wand- und Türnachbarin der Poesie, wohnte im Predigerherzen meines Vaters; und dieselben Sonnenstrahlen des Genius, die am Morgen seines Lebens in ihm wie in einem Memnons-Bild Wohllaute weckte[n], wurden später auf der Kanzel warmes Licht und endlich der Donner der Gesetzpredigten.

– Ich merke wohl, meine Zuhörer, daß ich lange von meinen Anverwandten rede und sie sehr lobe; aber ich will ja sogleich von mir zu reden anfangen und kaum damit aufhören. Zwar das Lob selber, das ich meinen Vätern hier erteile, käme ihm, wenn er noch lebte, noch so bedeutend vor als es mir selber leer erscheint, wenn ich mir ihn in der Ewigkeit vorstelle, wo er sich unter den Seligen nicht sonderlich damit brüsten wird, daß er im Jahr 1818 von meinem Lehrstuhl herab wieder als Kirchenkomponist der Baireuther Markgrafschaft ausgerufen worden; – und ganz dasselbe und dieselbe Kälte gegen alles Loben soll mein Sohn von mir voraussetzen, wenn er einst in der Zeit, wo ich schon ein Seliger bin, den allgemeinen Beifall, den meine Werke gewonnen, feurig der Welt erzählt; er soll aber, sowenig als ich, deshalb kälter oder kürzer malen.

Meine verehrtesten Herren, ich würde überhaupt Ihnen zehnmal lieber historische Vorlesungen über meine Voreltern halten als über mich selber. Wie anders gestaltet sich die sonst uns fremdartige Vorzeit, wenn unsere Verwandten durch sie ziehen und sie mit unserer Gegenwart verbrüdern und verketten! Und zu beneiden ist der Mann, welchen die Geschichte von Voreltern zu Voreltern namentlich zurückbegleitet und ihm eine graue Zeit in eine grüne umfärbt. Denn wir können uns die Zeiten, worin unsere Vor- und Ureltern lebten, und diese selber sogar in ihrem Alter nicht anders als im Jugendglanz und Jugendfrische denken, so wie wir unsere Nachwelt uns eigentlich aus Greisen, nicht aus Jünglingen zusammensetzen. – –

Ich kehre endlich zu dem Helden und Gegenstande unserer historischen Vorlesungen zurück [und] hebe besonders den Umstand heraus, daß ich in Wonsiedel (unrichtiger Wunsiedel), einer Stadt am Fichtelgebirge, geboren bin. Das Fichtelgebirge, fast die höchste Gegend Deutschlands, gibt seinen Anwohnern Gesundheit (sie können am ersten das Alexandersbad entbehren) und starken hochgebaueten Wuchs; und der Professor läßt seine Zuhörerinnen entscheiden, ob er in seiner Lehrkanzel als Bestätigung davon oder als Ausnahme erscheint. Verdrüßlich ists übrigens für einen Mann, der am liebsten in seiner Geburtstadt sich einen Namen machen will, daß[712] die Wonsiedler gerade das R bei Mitte und Ende der Wörter verschlucken, mit welchem doch bekanntlich der Name Richter beginnen und beschließen muß. Übrigens standen von jeher die Wonsiedler mit den Lorbeerkränzen der Kriegtapferkeit da, die ich von ihnen als meinen Geburtstadt-Ahnen mir wünschen muß; und es ist hinlänglich bekannt, wie sie den Hussiten widerstanden und obgesiegt; und ich bin, wenn man statt der Hussiten Rezensenten setzt, vielleicht nicht aus der tapfern Art geschlagen, wenn man meine Siege über meine Feinde zählen will, vom Hussiten Nicolai an bis zum Hussiten Merkel. – Von jeher war in Wonsiedel, der sechsten Stadt in den sogenannten Sechsämtern, wenigstens für Patriotismus und für Vereine zu Hülfe und zu Recht, ein sechster Schöpfungstag und deutsche Treue und Liebe und Kraft hielten sich da auf. – Ich bin gern in dir geboren, Städtchen am langen hohen Gebirge, dessen Gipfel wie Adlerhäupter zu uns niedersehen! – Deinen Bergthron hast du verschönert durch die Thronstufen zu ihm; und deine Heilquelle gibt die Kraft – nicht dir, sondern – dem Kranken, hinaufzusteigen zum Thronhimmel über sich und zum Beherrschen der weiten Dörfer- und Länderebene. – Ich bin gern in dir geboren, kleine, aber gute lichte Stadt! –

Es ist eine bekannte Beobachtung, daß die Erstgebornen gewöhnlich weiblichen Geschlechts sind. Von dieser Beobachtung macht der Gegenstand dieser Geschichte keine Ausnahme ungeachtet seines Rechts der Erstgeburt; denn da die Eltern im Oktober 1761 getrauet und er 1763 im März geboren worden: so ging ihm (wie er gehört) ein Wesen – für die Erde nur ein Schatten – voraus; und fing vielleicht, ohne das Licht der Welt erblickt zu haben, im Lichte einer andern das Dasein an.

Tief hinunterreichende Erinnerungen aus den Kindjahren erfreuen, ja erheben den bodenlosen Menschen, der sich in diesem Wellendasein überall festklammern will, unbeschreiblich und weit mehr als das Gedächtnis seiner spätern Schwungzeiten; vielleicht aus den zwei Gründen, daß er durch dieses Rückentsinnen sich näher an die von Nächten und Geistern bewachten Pforten seines Lebens zurückzudrängen meint und daß er zweitens in der geistigen Kraft eines frühen Bewußtseins gleichsam eine Unabhängigkeit vom verächtlichen kleinen Menschkörperchen zu finden glaubt. Ich bin zu meiner Freude imstande, aus meinem zwölf-, wenigstens vierzehnmonatlichen Alter eine bleiche kleine Erinnerung, gleichsam das erste geistige Schneeglöckchen aus dem dunkeln Erdboden der Kindheit noch aufzuheben. Ich erinnere mich nämlich noch, daß ein armer Schüler mich sehr liebgehabt und ich ihn und daß er mich immer auf den Armen – was angenehmer ist als oft später auf den Händen – getragen und daß er mir in einer großen schwarzen Stube der Alumnen Milch zu essen gegeben. Sein fernes nachdunkelndes Bild und sein Lieben schwebte mir über spätere Jahre herein; leider weiß ich seinen Namen längst nicht mehr; aber da es doch möglich wäre, daß er noch lebte hoch in den Sechzigern und als vielseitiger Gelehrter[713] diese Vorlesungen in Druck vorbekäme und sich dann eines kleinen Professors erinnerte, den er getragen und geküßt – – ach Gott, wenn dies wäre und er schriebe oder der ältere Mann zum alten käme! – Dieses Morgensternchen frühester Erinnerung stand in den Knabenjahren noch ziemlich hell in seinem niedrigen Himmel, erblaßte aber immer mehr, je höher das Taglicht des Lebens stieg; – und eigentlich erinnere ich mich jetzo nur dies klar, daß ich mich früher von allem heller erinnert. –

Da mein Vater schon im Jahre 1765 als Pfarrer nach Joditz berufen worden: so kann ich mein Wonsiedler Kindheitreliquiarium desto reiner von den ersten frühen Joditzer Reliquien und Erinnerungen abscheiden.

Das Pfarrdorf ist nun der zweite Aufzug dieses kleinen historischen Monodramas, wo Sie, hochgeehrteste Herren und Frauen, den Helden des Stücks schon in ganz andern Entwicklungen antreffen werden in der zweiten Vorlesung. Denn jede Vorlesung spielt an einem andern Wohnorte. Es ist überhaupt die ganze Geschichte dieser Vorlesungen – oder die Vorlesungen dieser Geschichte – so kunstmäßig und glücklich durch alles geordnet, daß von den gewöhnlichen drei Einheiten eines historischen Stücks nur nach der ersten des Orts – da ich ja in den verschiedenen Orten meines Aufenthaltes vorkommen und auftreten muß – keine weiter als die Einheit der Zeit verletzt wird, weil der Held vom Antritt seines Lebens bis zum Antritt seiner Professur ja immer aus einer Zeit in die andere gehen muß, noch abgerechnet, daß er unter dem Darstellen und Spielen des Stücks ja selber durch Älterwerden die Einheit der Zeit beleidigt. Dafür [entschädigt] aber die durchgängige Einheit des Interesse, die schwerlich größer zu denken ist. Schon hebt aber das Steigen unseres Helden an und wir haben die Freude, die historische Person, die wir als bloßen Tertiussohn in der ersten Vorlesung verlassen, schon nach zwei Jahren als Pfarrsohn in der zweiten anzutreffen; denn 1765 wurde mein Vater nach Joditz voziert von der Freifrau von Plotho in Zedwitz, eine geborne Bodenhausen, die Gemahlin desselben Plotho, der unter Friedrich dem Einzigen im Reichstag einen österreichischen Gesandten geradezu aus Gründen die Treppe herabgeworfen.[714]

Quelle:
Jean Paul: Selberlebensbeschreibung. In: Jean Paul, Werke in 3 Bänden, Band 3, München 1975., S. 707-715.
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