Dritte Station von Niederschöna nach Flätz

[36] Als ich am Posthause, mit dem Auge auf meinen Mantelsack geheftet, in Gedanken dastehe: schmettert und schnaubt ein Vieh von Nachtwächter mir so nahe und unversehends mit seiner Nacht-Tuba ins Ohr, daß ich ordentlich zurückspringe, ich, den schon jede heftig-schnelle Anrede verdrießt. Gibts denn keine medizinische Polizei gegen solche geblasene Stunden-Lärmfidibus und Lärm-Kanonen, durch welche doch keine knallenden entbehrlich werden? Eigentlich sollte niemand mit dem Nachtwächter-Horne[36] investieret werden als ein vernünftiger Mann, der sich schon einen Bruch geblasen oder gehoben hätte und der imstande wäre, seinen Stunden-Vers so leise abzusingen, daß man nichts hörte.

Was ich längst erwartet und der Zwerg vorausgesagt, traf jetzt ein: aus der hohen Posthaus-Pforte trat, tief sich bückend, der Riese heraus und hob im Freien eine unvernünftig große Statur und Dito-Kopf mit der ellenhohen Mütze und Feder empor; mein Schwager ihm zur Seite schien nur sein vierzehnjähriger Sohn zu sein und der Zwerg gar sein auf zwei Beinen aufwartendes Schoßhündchen. »Lieber Freund,« sagte mein neckender Schwager, der ihn an mich und die Postkutsche geleitete, »steig' Er ruhig ein, wir machen Ihm sämtlich gern Platz. Kremp' Er sich nur recht zusammen, und leg' Er den Kopf aufs Knie: so gehts.« Der unnütze Necker hätte so gern den fast einfältigen Giganten dem ers bald abgemerkt, daß dessen Gehirn kein schlauer Gast, sondern die negative Größe seines Rumpfes war – unter uns im bangen Postschrank und Notstall vor sich gesehen, zu einem Gießpuckel eingeknüllt und krumm geschlossen. »Giht doch nit! Giht gar nit!« sagte der Riese, als er hineinsah. »Der Herr Soldat wissen vielleicht nicht,« versetzte der Zwerg, »wie groß ein Riese ist; und Er denken, weil Ich hineingehe – Aber das ist ein anderes Loch – Ich will überall hineinpassen, man sage mir nur wo« –

Kurz es war kein Ausweg für den Postmeister und den Riesen, als daß sich dieser hinten auf das Passagier-Warenlager stellte und setzte, sich als eine Tränenweide herüberbeugend über den ganzen Kutschenkasten. Mich selber konnte ein solcher Rückenwind und Rückhalt nicht außerordentlich ergötzen; und ich traue (hoff' ich) jedem von euch, ihr Freunde, zu, daß er hinter einem solchen Rücken-Dekret so gut und so hell wie ich überschlagen hätte, was ein Kerl und Riese hinter ihm, ein Nach-Fahrer in allerlei Sinne, etwa Mordendes probieren könne, es sei nun, daß er durch das Rückenfenster des Wagens einbräche und angreife[37] oder sich überhaupt mit Titanen-Macht oben über den Kutschenhimmel hermache. Indes fing der oben mit gekreuzten Armen auf dem Kasten liegende Elefant – der aber von seinem Gleichnis mehr die drückende Masse als das fliegende Geistes-Licht zu haben schien – bald zu schlafen und zu schnarchen an; ein Elefant, wovon (wie ich immer froher einsah) mein Schwager, der Dragoner, leicht der Kornak und Bändiger sein konnte, ja schon gewesen war.

Da jetzt mehr als eine Person schlafen wollte (mit Recht), ich hingegen wachen: so bot ich gern meinen Fahr-Ehrensitz, den Vordersitz, (auch um manchen Neid der Passagiere zu tilgen) solchen Personen an, die auf ihm ein wenig schlummern wollten. Der Legationsmann ergriff das Anerbieten und den Lehn-Polster mit Hast und entschlief an der Rücklehne des Titans hinter ihm. Etwas unbegreiflich blieb mir dergleichen Post-Schlaf von einem diplomatischen Chargé d'affaires. Ein Mann, der so mitten unter einer blutfremden, oft blutdürstigen Genossenschaft entschläft, kann ja, wenn er im Schlummer und Wagen spricht (denkt nur alle an den sächsischen Minister vor dem siebenjährigen Kriege!), hundert Geheimnisse, tausend Schandtaten herausstoßen, die er kaum verübt hat. Sollte nicht jedem Minister, Gesandten oder andern Mann von Ehre und Stand ordentlich grausen vor Tollwerden oder hitzigen Fiebern, da ihm kein Mensch dafür steht, daß er nicht darin mit den größten Skandalen herausfährt, wovon vielleicht die Hälfte Lügen sind? –

Endlich nach der langen Julius-Nacht kamen wir Passagiere samt der Aurora vor Flätz an. Ich sah scharf und weich nach den[38] Turmspitzen; ich glaube, daß jeder Mensch, der in einer Stadt etwas Entscheidendes zu suchen hat, und dem sie entweder ein Richtplatz seiner Hoffnungen oder deren Ankerplatz, entweder Schlacht- oder Zuckerfeld wird, sein Auge am ersten und längsten auf die Türme der Stadt als auf die Zeigefinger und Züngelchen seiner Zukunftswaage heftet; gleichsam architektonische Berge, welche, wie die natürlichen, die Thronen unserer Zukunft sind. Als ich mich damit zu dichterisch gegen Jean Pierre herausließ, so antwortete er geschmacklos genug: »Die Türme solcher Städte sind ja die Alpenspitzen, worauf wir den Alpenkäse unserer Zukunft suchen und melken.« Wollte der Legations-Peter mit diesem Stile mich lächerlich machen oder nur sich? – Entscheidet!

»Hier ist der Ort, die Stadt,« sagt' ich heimlich zu mir, »wo heute viel und über Zukünfte entschieden wird, wo du diesen Abend um fünf Uhr deine Bittschrift und halb dich selber übergibst; – geh' es doch gut! Geh' es herrlich! Werde Flätz, dieser Waffenplatz deiner kleinen Bestrebungen, zugleich die Baustelle von Lust- und Luft-Schlössern zweier Herzen, des deinigen und des weiblichen!«

Im Gasthofe zum Tiger stieg ich ab.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 6, München 1959–1963, S. 36-39.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz
Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz.
Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz (Insel Bücherei)
Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz