Nr. 51. Ausgestopfter Blaumüller

[917] Entwicklungen der Reise – und des Notariats


Der Notar glaubte wie ein erwachter Siebenschläfer eine ganz umgegossene Stadt zu durchtreten, teils weil er einige Tage daraus weggewesen, teils weil eine Feuersbrunst, obwohl ohne Schaden, da gehauset hatte. Noch in den Gassen blieb er auf Reisen. Auch zog das Volk, durchs Feuer aus der Alltäglichkeit aufgerissen, gescharet hin und her, um das Unglück zu besehen, das hätte geschehen können. Walt lief zuerst zum Bruder mit dem größten Drange, dessen Neugierde unglaublich zu spannen und zu stillen. Vult empfing ihn ruhig, sagte aber von sich, er sehe erhitzt aus und gebe das glühende Gesicht der Feuers-Not schuld. Der Notar wollte ihn sofort mit den erlebten Reise-Wundern in die Höhe schrauben und droben erquicken; er schickte daher die lockendsten Ankündigungen voraus, indem er sagte: »Bruder, ich habe dir Sachen zu melden, in der Tat Sachen« – »Auch ich«, unterbrach Vult, »bin mit einigen sieben Wundern der Welt versehen und kann erstaunen lassen. Nur erst das erste! Flitte genas! Noch staunt und starret die Stadt.« »Unter dem Lazarustor sah ich ihn schon am Schalloch stehen«, versetzte Walt, eilig wegredend. – »Das ist ganz natürlich«, fuhr jener fort. »Denn der Dr. Hut, ein wahrer Chapeau wie wenige, hat ihn wieder auf die Hinterbeine gebracht, so daß der Testator sich selber beerbt als allernächster Anverwandte und du so wenig bekommst als der Rest. Wie freilich darüber die alten Ärzte, besonders die ältesten, welche in jeder Stadt als ein wahrer Rat der Alten einen Alterserlaß (veniam aetatis) nicht von 20, sondern von allen irdischen Jahren dem jüngsten erteilen und so die Sterblichkeit der Einwohner köstlich mit der Unsterblichkeit verknüpfen, wie sie, sag' ich, darüber, daß ein so junger Wicht einen nicht ältern herstellte, außer sich sein müssen: dies kann man ganz natürlich noch wenig oder nicht bestimmen, bevor gar[917] eine bekannte Arbeit von Flitte gedruckt und bekannt geworden. Es hat nämlich der Elsasser eine schwache Danksagung ein paar Male umgearbeitet, worin er im Reichs-Anzeiger (Doktor Hut schießt die Inserats-Gelder her) mitten vor der Welt Huten gerührt genug dankt und beteuert, nie könn' ers ihm lohnen, was ein so wahres Gefühl ist, da er nichts hat.«

Walt konnte sich nicht länger eindämmen: »Liebstes Brüderlein«, begann er, »wahrlich mehr deinen Einfällen als deinen Berichten horcht' ich zu: denn das, was ich dir zu erzählen... Deinen Brief nämlich mit dem Wunder-Traum hab ich wirklich und in der Tat empfangen; aber was wäre bloß dies? Eingetroffen ist er von Punkt zu Punkt, von Komma zu Komma; höre nur!«

Er legte ihm jetzt die Spiel-Wunder zum ersten Male vor (wegen der verworrenen Wellen der alles heranschwemmenden Flut) – zum zweiten Male. Kein Abenteuer, selber das schlimmste, ist je so selig zu erleben als zu erzählen. Ja er hätte beinahe von Winas liebendem Blick unter dem Wasserfalle in seinem Sturm den Schleier gehoben, hätt' er nicht auf dem ganzen Wege, mit Wina an einer Hand und mit Vulten an der andern, das Wichtigste vorläufig bedacht und sich die stärksten Gründe eingeprägt gehabt, daß er durchaus Wina in den General einkleiden müsse und Empfindungen, obwohl nicht Tatsachen, unterschlagen; so gern er auch in das einzige ihm vom Leben aufgeschloßne Herz die beiden Arme seines in Liebe und in Freundschaft geteilten Stroms ergossen hätte.

»Aus deinen Abenteuern in bezug auf meinen Brief«, sagte Vult, »mach ich eben nicht das meiste – ich lege dir nachher eine sehr gute Hypothese darüber vor –, hingegen in Jakobinens ›Stelldich-ein‹ säh' ich mit Freuden klärer.« Walt erzählte dann den Nachtbesuch ganz wahr, hell und leicht und vergaß keine einzige Empfindung dabei.

»Nichts will ich leichter erklären«, fing endlich Vult an. »Kann denn nicht ein Kerl, der alle Verhältnisse weiß, dir durch Wälder und Felder immer drei Schritte nach- oder vorgeschlichen sein – mit der Flöte geblasen haben – deinen Namen in den Krügen und Hotels vorausgesagt – die kleinste Sache bestellt und angestellt,[918] z.B. mit dem Bilderhändler und dem Quodlibet und dessen quod deus vult est bene factus, statt factum – und so fort? Was den Brief anlangt, so war er ja in meinem Namen und Stil so leicht zu schreiben, unterwegs aufzugeben, darin alles zu weissagen, was man eben selber vollführen wollte, das Geld aber eine Minute vorher einzugraben!« – »Unmöglich!« sagte Walt. »Und vollends der Larvenherr?« – »Hast du die Larve etwa in der Tasche?« sagte Vult. Er zog sie hervor. Vult drückte sie vor das Gesicht, funkelte ihn darhinter mit Zorn-Augen an und rief wild mit bekannter Stimme des Larvenherrn: »He? Bin ichs? – Wer seid ihr?« – »Himmel, wie wäre denn das?« rief der erschrockene Walt. – Sanft hob Vult die Larve ab, sah ihn ganz heiter an und sagte: »Ich weiß nicht, was deine Gedanken über die Sache sind; ich sentiere, daß sowohl der Larvenherr und Flötenspieler als auch ich und der Briefschreiber dieselben Personen sind.« »Mein Verstand steht still«, sagte Walt. »Kurz, ich wars«, beschloß Vult. Aber der Notar wollte seiner eigenen Bestürzung nicht recht glauben. »Etwas Wunderbares«, sagte er, »steckt gewiß noch hinter der Zauberei; und warum hättest du mich überhaupt so sonderbar hintergangen?«

Aber Vult zeigte, daß er ihm einige Lust zuwenden, ja einige Unlust ersparen wollen. Er fragte schelmisch-blickend, ob er nicht zur rechten Zeit seine Maske ins Zimmer geworfen, ehe Jakobine die ihrige fallen lassen. Endlich sagte er gerade heraus, die Klausel des Testaments, welche für Fleisches-Sünden um halbe Erbschaften bestrafe, sei allgemein bekannt, und Walt sei leider stets sehr unschuldig, auf nichts aber werde in einer Aktion öfter und besser geschossen als auf Schimmel wegen der Farbe der Unschuld – die sieben Erben decken, wie kluge Feldherrn, ihr Lager mit Morast – »kurz«, beschloß er, »wie Taubenhändler wahrhaft betrügen und zwei Täubinnen oft für ein ordentliches Paar Ehetauben ausgeben: hätte man es mit dir und der Aktrice nicht ebenso machen können, wär' ich dir nicht nachgereiset?« – Da wurde der Notar blutrot vor Scham und Zorn, sagte: »o garstig über die Maßen« – setzte unter dem Umherfahren nach dem Hute hinzu: »in diesem Lichte steht ein armes Mädchen bei[919] dir? Und dein eigner Bruder dazu?« – lief fort – sagte wild weinend: »gute Nacht; aber bei Gott, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll« – und ließ keiner Antwort Zeit. Vult ärgerte sich fast über den unvermuteten Zorn.

»Ich, ich?« wiederholte Walt auf der Gasse innigst- verletzt, »ich hätte mich versündigen sollen an einem Tage, wo mir Gott den rührendsten Reise-Abend bescherte und die fromme Wina mir so nahe lebte? – Das wolle Gott nicht!«

Als er aber in sein Stübchen trat, überflog ihn eine ganz besondere Seligkeit und zehrte den Schmerz auf; – eine neue Empfindung wird an einem alten Orte lebendiger; – es war Winas guter Blick unter dem Wasserfalle, der jetzt ein ganzes Leben wie ein Morgenlicht golden überstrahlte und alle Taublumen darin blitzen ließ. Vieles um ihn war ihm nunmehr zu eigen geworden sowie neu: der Park unten, in dessen Gängen er sie einmal gesehen, und Raphaela im Hause, die ihre Freundin war, gehörten unter die Habseligkeiten seiner Brust. Selber seinen eignen Roman Hoppelpoppel kannte er kaum mehr, auf so neue Gemälde des liebenden Herzens stieß er jetzt darin, von denen er erst diesen Abend recht faßte, was er neulich etwa damit haben wollen; nie fand ein Autor einen gleichtöniger gestimmten Leser als er heute. Er bauete sich sogleich ein zartes Bilderkabinett für die Gemälde von den Auftritten, die Wina vermutlich diesen Abend haben könnte; z.B. im Schauspielhause oder in den Leipziger Gärten oder in einer gewählten Gesellschaft mit Musik. Darauf setzte er sich hin und beschrieb es sich mit Feuerfarben, wie ihr etwa heute sei in Glucks Iphigenie auf Tauris; dann machte er selige Gedichte auf sie; dann hielt er die Papiere voll Eden ins Talglicht und verkohlte alles, weil er, sagt' er, nicht einsehe, mit welchem Rechte er ohne ihr Wissen so vieles von ihr offenbare ihr oder andern.

Als er zu Bette ging, verstattete er sich, Winas Täume sich zu erträumen. »Wer kann mir verbieten«, sagt' er, »ihre Träume zu besuchen, ja ihr sehr viele zu leihen? Ist der Schlaf vernünftiger als ich? O sie könnte im wilden Wahnsinn desselben ja recht gut träumen, daß wir beide unter dem Wasserfalle ständen, verbunden aufflögen in ihn, umarmend hinschwämmen auf seinem[920] flüssigen Feuergolde und zum Sterben herabstürzten mit ihm und vergöttert still nun weiterflössen durch die Blumen, in den Strahlen, sie mit ihrer Welle in meine schimmernd, und wir so uns ineinander verrönnen in das weite hohe blaue reine Meer, das sich über die schmutzige Erde deckt. Ach, wenn du so träumen wolltest, Wina!« – Dann sah er auf dem Kopfkissen recht hell und scharf – weil nachts in der wilden Zeit des Vortraums vor der Seele alle blasse Bilder junge Lebensfarben annehmen und die Gestalten blitzende Augen öffnen – das liebe, milde Auge Winas vor sich aufgetan und wie einen Mond, den der Tag zum Wölkchen verdünnte, am Nachthimmel herrschend strahlen; und er sank in das liebe Auge, wie ein Frommer in das Auge, unter welchem man Gott abbildet. Wie leicht und dünn ist ein Blick und ein erinnerter! Kaum das Alpenröschen ist er, das der Mensch von der höchsten Stelle seines Lebens herunterbringt. Aber doch hält der Mensch unter der Masse von Massen und Weltkugeln sich gern an die kleine, die ein Augenlid bedeckt, an einen verhauchten, kaum entstandenen Blick – und auf dem himmlischen Nichts ruht sein Paradies mit allen Bäumen fest! So sind Geister; denn da die Unsichtbarkeit ihre Welt ist, so ist ein Nichts leicht ihre Sichtbarkeit!

Am Morgen lag Sonnenschein und Seligkeit um ihn her. Alle Blüten zu Zankäpfeln waren abgefallen. Die Morgenstunde hat Gold, aber das reinste, im Mund; die Sonne scheidet das in Schlacken vererzte Gemüt; das finstere Übermaß, besonders des Hasses, hört auf. Walt sah sich um im Morgenlicht, fand sich wie von einem Arm aus den Wolken durch alle übereinanderstehenden Wolken des Lebens durchgehoben ins Blau – Wer liebt, vergibt, wenigstens den Rest dem Rest; er fragte sich, wie er denn gestern, gerade am Heimkehr-Feste, so gegen den armen Bruder aufbrausen können.

»Jawohl den armen Bruder«, fuhr er fort; »denn er hat gewiß keine Geliebte, deren Liebesblick ihm wie ein Lebensbrennpunkt im Herzen bleibt.« Nun ging er ganz ins Einzelne und stellte sich – nach seinem Instinkte, der ihn stets in die fremde Seele trieb und in ihr über sie hinzuschauen zwang – an Vults Stelle, wie[921] dieser nichts habe, nichts wisse (vom Wasserfalle nämlich), wie er alles oder vieles so sehr gut meine, besonders für Walt, wie er nur herrschsüchtig hart verfahre usw.

In dieser Gesinnung beschloß er, zum Bruder zu gehen und kein Wort zu sagen über die Essig-Sache, sondern bloß mit seiner Hand eine schon im Mutterleib verknüpft gewesene anzufassen und einiges gelassen zu besprechen, besonders was die bevorstehende Wahl eines neuen Erbamts betreffe.

Vult war verreiset. Ein Briefchen an Walt war an die Tür gesiegelt: »Bester! Ich reisete heute flüchtig ab, um in Rosenhof mein versprochenes Konzert zu blasen. Künftig arbeit' ich viel fleißiger; denn wirklich tu' ich für unsern Gesamt-Roman zu wenig, besonders da ich gar nichts dafür tue. Es entgeht uns nicht, daß ich lieber spreche im reißendsten Strome mich schwemmend – als schreibe. Gut aber ists nicht, weder für die Literatur noch das Honorar. In Schulen gilt sonst Rechen- und Schreib-Meister für einen; ein trefflicher Buch-Schreibmeister hingegen ist selten ein Rechenmeister; leider bin ich nicht einmal einer von beiden und brauche doch Geld. Adieu! v. H.«

»Der gehetzte Bruder!« sagte Walt, »so muß er sich jetzt das Geschenk erpfeifen, das er mir so spaßhaft in die Hände gespielt; warum fall' ich immer so heftig aus und drücke den Guten?« Er faßte den ernstlichen Vorsatz, künftig seinem Sturm- und Poltergeiste ganz anders den Zügel anzuziehen. –

Aber Rosenhof warf bald heiteres Licht auf alles und heiligte fast den Flötenspieler, den er in den nachschimmernden Auen des schönsten Morgens mit Glanz besprützt umherwaten sah.

Wackerer als je betrat er nun seine Notariats-Gänge wieder, die sich gegen das Ende seines Erbamts immer häufiger auftaten. Es war ihm ganz einerlei – so freudig ging sein Puls –, worüber er ein Instrument aufsetzte, ob über die Verlassenschaft eines Hofpredigers oder über eine angebohrte Öl-Tonne oder über eine Wette: immer dacht' er an das Haus des Generals oder an den Wasserfall oder an Leipzig, und es konnte ihm gleichgültig sein (denn er gab nicht darauf acht), was er niederschrieb als offner kaiserlicher Notar.[922]

So glänzend-umsponnen vom Nachsommer des Herzens, kam er aus dem September und dem Notariat endlich in den Oktober hinüber, wo er vor den Kabelschen Testaments-Exekutoren die Rechnung über das bisherige Erbamt abzulegen hatte, vor welcher ihm nicht im geringsten bange war; denn Winas Blick hatte in ihm einen so feurigen Herzschlag entzündet, daß er mit einem solchen Frühlings-Pulse vermochte, in jeder äußern Kälte des Schicksals warm zu bleiben.

Sein Vater Lukas hatte ihn neuerlich in mehreren Kopien von Brief-Originalen (die der Schulze behielt, weil im Briefschreiben das Original das schlechtere ist) seine Angst vor dem Notariats- Hintergrund und die Beteurung seiner »Herbeikunft« wissen lassen. Walten wurde die Wiederholung desselben dürren Gedankens, die so manchen frischen erdrückte, sehr zur Last, und er wünschte nichts weiter als die alte Freiheit, an hundert Dinge zu denken. »Warum ist denn ein Irrweg so verdrießlich«, sagt' er, »als bloß weil man so lange, bis man den rechten wieder erwischt, immer die abgeschabte platte Idee des Wegs besehen und behalten muß!« Die gemeinen Qualen des Lebens belasten weniger unter ihrer Geburt als während ihrer Schwangerschaft, und der eigentliche Leidenstag geht 24 Stunden oder Zeiten früher an als der äußere. Der erste Schritt, den Walt am anberaumten Morgen ins Rathaus tat, machte ihn zu einem andern Menschen, nämlich zum alten – die Sache war für ihn vorbei, denn sie war so nahe. Zu bald kam er im Vorzimmer an, harrte aber vergnügt und machte einen Polymeter, worin er einige gute Gruppen besang, die in halberhobener Arbeit am Ratsofen mit aller der Wärme dargestellt waren, welche die Jahreszeit an einem kalten Ofen erlaubt. Tanz-Horen, Füllhörner voll Heu, Fruchtschnüre oder -stricke, Büschel von dicken festen Blumen oder Obst und sechs Frühlinge aus Ton (denn es war ein Zirkulierofen) waren allerdings imstande, einen Dichter wie er zu heizen. – Als noch immer die Ratsstube zublieb, so geriet er auf Neben-Ideen, ob nämlich nicht ein ganzer Roman aus Ofen-Pasten darzustellen und zu entwickeln wäre, besonders ein komischer. So vermag nur ein Mann vor einer wichtigen Wendepunktsstunde, z.B. vor einer Krönung,[923] Schlacht, Selbstermordung, nicht aber seine Frau vor einer ähnlichen, z.B. vor einem Balle, – zu dichten, zu schlafen, zu lesen.

Da endlich der Schirmherr der Kabelschen enterbten Erben, der Pfalzgraf Knoll, eintrat, so fing alles an und wurde gehörig vor den Bürgermeister Kuhnold gestellt.

In seinem Leben war ihm nie so federleicht in einer Ratsstube gewesen; auf dem Staubfaden einer Lilie hätt' er sich schaukeln können. Er fiel aber bald von seiner Lilie ins Beet herunter, als der Schirmherr anfing vorzutragen und zu belegen, »daß der offne geschworne Notar bisher sehr absurd gewirtschaftet« – daß er nicht nur erstlich und zweitens zweimal in Instrumenten abbrevieret – drittens ein nächtliches (das Turm-Testament) mit zweierlei Tinte und viertens bei einerlei Licht geschrieben fünftens einmal radiert – sechstens einmal gar nicht angegeben, daß er ausdrücklich zur Aufrichtung des Instruments vorgefordert worden – desgleichen siebentens in dem nämlichen auch die Stunde nicht – achtens den nägelein-braunen Bindfaden, womit die Klagschrift N. N. contra N. N. umwickelt gewesen, als einen gelben zu Protokoll gebracht – neuntens Hauszeugen, als sie eidlich aussagten für ihren Herrn, ihrer Pflicht vorher durch Handgeben sowohl zu entlassen als diesen Akt des Entlassens anzuzeigen ganz vergessen – sondern daß er auch zehntens einen falschen Datum im Wechselprotest, ja eilftens neuerlich und ganz zuletzt ein Instrument gar an einem 31. September, der nicht existiere, auszufertigen wenig Anstand genommen. – Nun wurd' er gerichtlich befragt, was er dawider einzuwenden habe. »Ich wüßte eigentlich nichts'-« versetzt' er gegnerischerseits; »auch trau' ich fremdem Gedächtnis hier weit mehr als eignem. Doch was die Hauszeugen anlangt, so hielt ich es für eigenmächtig und unmöglich, sie durch mein bloßes Wort ihren Pflichten zu entnehmen und wieder zurückzugeben.« Darauf sagte Hr. Kuhnold, dieser Grund sei mehr edel gedacht als juristisch, und berief sich auf Hrn. Fiskal Knoll. Nichts sei lächerlicher, versetzte dieser und schob nun zehn bis zwanzig breite hohle Worte aneinander, um bei den Testaments-Exekutoren um das nachzusuchen,[924] was sich von selber verstand – die Eröffnung des hier eintretenden geheimen Artikels.

Eh' es Kuhnold tat, erwies er dem Pfalzgrafen, daß gar nicht alle Rechtsgelehrten allgemein zu Nacht-Kontrakten drei Lichter begehrten, sondern nur man cher; und langte – als Knoll auf seinem Satze beharrte – bloß das promtuarium juris von Hommel oder Müller als den nächsten Beweis aus dem Schranke vor. Die Ratsbibliothek war nicht höher als die vier Bände des promtuarium stark; dennoch fehlte ihr, wie den meisten öffentlichen Bibliotheken, ein Katalog.

Knoll behielt sich das Seinige vor; Kuhnold gab aber nicht nach, sondern verlas den Straftarif; »daß nämlich für jeden juristischen Notariats-Schnitzer des jungen Harnisch jedem der sieben Erben ein Tannenbaum in Kabels Wäldchen zu fällen verstattet sein sollte.« Da er nun in zehn Sünden geraten war – ohne die streitigen Lichter –, so belief sich der Dezem, mit den sieben letzten Plagen multipliziert, auf den ansehnlichen Schlag von 70 Stämmen, so daß Walt nie halb so gut dadurch gelichtet werden konnte als das Wäldchen selber. – »Nu«, sagte der Notar, schnell beide Hände seitwärts auswerfend, »was ist zu machen?« – Er wußte sich innerlich über die Zufälle des Lebens so erheiternd zuzureden wie ein Schuster den Kunden über neue Stiefel, die er bringt; sind sie zu enge, so sagt der Meister: »sie treten sich schon aus«; sind sie zu weit, so sagt er: »die Nässe zieht sie schon ein«. So dachte Walt heimlich: »Das witzigt mich. Jetzt kann ich doch als Notar ruhig alle meine Instrumente machen, ohne daß mir geheime Artikel das geringste zu befehlen oder zu nehmen haben.« Aber am Ende machte ihm doch der Fiskal Knoll den leichten poetischen Götter-Ichor des Herzens schwer, dick und salzig, als dieser, ohne im geringsten durch die Freude über den Gewinn von Schlagholz irre oder trunken zu werden, seine Protestation im Punkte der drei Lichter erneuert zurückließ. Die stehende Gegenwart eines deutlich hassenden Wesens drückt und preßt eine immer liebende Seele, die ihre Kälte schon für Haß ansieht, mit dem schwülen Dunstkreis eines Gewitters, dessen Schlag weniger quält als dessen Nähe. Betrübt, selber von Kuhnolds[925] sanftem Worte, das ihm so vermeidliche Fehler eben als die unverzeihlichern vorwarf, ging er nach Hause; und er sah Vults Fluchen und Scherzen darüber schon entgegen.

Das erste, was er zu Hause machte, war ein Sprung aus demselben auf die schönen stillen Höhen der Oktober-Natur, um seinem Vater, dem Schultheiß, und dessen Scherbengerichte zu entspringen, der, wie er gewiß wußte, in die Stadt laufen würde, um jede Scherbe des zerbrochenen Glücktopfes ihm an den Kopf zu werfen. Auf einer friedlichen Anhöhe – dem Wäldchen gegenüber-konnt' er, während er das medizinische Miserere des Schicksals durch Dichten und Empfinden in ein musikalisches verwandelte, recht gut wahrnehmen, daß schon mehrere Erben mit verständigen Holzhauern im Erb-Forste lustwandelten, um einträchtig mit Waldhämmern ihr Gnadenholz anzuplätzen. Endlich ritt im Schritt Flitte an der Spitze einer holzersparenden Gesellschaft mit Äxten, Sägen, Maßstäben in den Händen den Wald hinan. Gleich einem Witwer, der seine Halbtrauer täglich in kleinere Brüche zerfällt, in Drittelstrauer, in ein 1/4, 1/8, 1/64 Teil – wiewohl die Trauer oder der Zähler nie Null werden kann, nach mathematischen Gesetzen –, verkehrte Walt bei diesem Anblick seine schwache Halbtrauer, arithmetisch zu sprechen, in einen unendlich großen Nenner und in einen unendlich kleinen Zähler, d.h. er wurde das, was man gemeinhin froh nennt. »Es ist schon recht«, dachte er, »daß ich dem guten Flitte für seine gutmütige Erbeinsetzung meiner Person doch einen schwachen Dank durch meine Fehler zuschanze; er habe recht viele Freude dabei, nur keine Schadenfreude.« Aber die Lustigkeit über die Holz-Einbuße wurde Walten etwas verkümmert, als er den alten Schulzen aus der Stadt schreiten und ins Holz dringen sah, Märtyrerkrone und Zepter tragend. Auf die angeplätzten Stämme lief Lukas zu – fragte, sagte dies oder das und keifte – durchschnitt den Gehau nach allen Ecken – stritt ohne Vollmacht wider alles – flog als ein flüchtiges Waldgericht und Forstkollegium hin und her, an jeden Busch, neben jede Säge – machte die Wüste seines Gesichts immer dürrer und arabischer, je mehrere Erben ankamen, die größten Baumschänder, die er sich denken konnte – sah seufzend zu jedem[926] Gipfel auf, der stürzen wollte – und trieb nichts durch als forstgerecht den Weg, auf welchem der fallende Baum das Buschholz schonen mußte.

Walt schaute erbärmlich herüber; so leicht er sonst sein schwarzes Schicksal wie sein weißes nur zu dichterischer Farbengebung verrieb, gleichsam zu Kohle und zu Kreide: so konnt' er sich doch den Holzschlag des Schlagholzes zu keinem dichterischen Baumschlag ausmalen, weil ihn der Vater peinigte. Er wartete aber fest dessen Weggang ab; dann fragte er nach der glühendsten Abendröte vor seinen Augen nichts, sondern er ließ in sich abstimmen, welches Erbamt, das seinen Vater freudig lasse, er jetzt zu wählen habe.

Nun fehlte es ihm aus Mangel des Flötenspielers an einer Stimmensammlung und an irgendeiner, auch nur kleinsten Minorität, weil die Majorität selber (er) nur ein Mann stark war, welches, wenn nicht die kleinste – denn oft ist gar kein Mann beim Stimmen –, doch keine beträchtliche ist.

Endlich wählte er das kürzeste Amt, nämlich das siebentägige Leben bei einem Erben. Die Stelle darüber heißet im Corpus juris des Testaments claus. 6. Litt. g. so: »Er (Walt) soll bei jedem der Hrn. Akzessit-Erben eine Woche lang wohnen (der Erbe müßt' es sich denn verbitten) und alle Wünsche des zeitigen Mietsherrn, die sich mit der Ehre vertragen, gut erfüllen.« Ein so kurzes Amt hoffte er ohne große Fehltritte und Fehlsprünge und mit einiger Ehre und in kurzem, noch eh' der Bruder erschiene, zu beendigen. Nach der Wahl des Amts mußt' er wieder die neue desjenigen Erben anstellen, welchem die erste Ehre davon zuzuwenden sei. Er erlas sich zum wöchentlichen Wohnen den, bei welchem er bisher gewohnt, Hrn. Neupeter. »Auch begehrts die Zärte«, sagt' er.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 2, München 1959–1963, S. 917-927.
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