86. Zykel

[472] »Sie sieht wieder«, rief Karl im Freudenrausche am Morgen darauf dem Grafen zu, ohne sich um alle kalte Verhältnisse der letzten Zeit zu bekümmern; und war ganz der Alte. Seine Feindschaft war hinfälliger als seine Liebe, denn jene wohnte bei ihm auf dem Eise, das bald zerfloß, diese auf dem Flüssigen, worauf er immer schiffte. Errötend fragte Albano, wer der Augenarzt gewesen. »Gutgemeinter Schreck« (sagt' er) – »der deutsche Herr tat, als wollt' er sie malen, als meine Eltern auf Verabredung nicht da waren – oder malt' er sie wirklich – ich weiß jetzt alles nur verwirrt – auf einmal hörte sie eine fremde Mannsstimme, und Schreck und Furcht wirkten natürlich wie elektrische Schläge.« Obgleich der Hauptmann alle Stimmen nur verworren unten auf dem Meersboden in sein flutendes Meer hinunterhörte: so hatt' er doch diesmal richtig gehört; denn Liane hatte von ihrer Mutter das Zuhüllen der Martergeschichte errungen, um ihrem Bruder den Anlaß zu entziehen, ihr seine Liebe durch einen Zweikampf mit ihrem Widersacher zu beweisen.

Albano behielt viele Fragen über die dunkle Geschichte in seiner Brust; und brach das Gespräch durch seine Reisebeschreibung ab.

Nach einigen Tagen hört' er, daß Liane mit ihrer Mutter die Stadt verlasse und ein über Blumenbühl liegendes Bergschloß[472] einer alten einsamen Edelwitwe beziehe. Auf dem reinen Lande sollte wieder Licht in ihr Leben einfallen, und die mütterliche Hand sollte dessen nachdunkelnde Farben neu übermalen. Der Minister, der sonst wie alte Menschen und alte Haare schwer zu kräuseln und zu formen war, wurde in der letztern tiefen Fallgrube des Schicksals ganz mutlos angetroffen, so daß er Lianen, die auch darin gefangen war, nicht auffraß, sondern sie ziehen ließ. Die ganze Geschichte wurde vor dem Publikum wie die Mauer eines Parks sehr verdeckt und umblümt. Nur der Lektor wußte sie ganz, aber er konnte schweigen. Er foderte im Namen der Mutter vom deutschen Herrn das Miniaturbild zurück; dieser gab an dessen Statt kalte, leere Lügen; doch konnte Augusti, von Mutter und Tochter gebeten, sich beherrschen und die Ausfoderung, womit er für alles Rache nehmen wollte, ihnen opfern.

Unsern Freund traf jetzt, seitdem sein Gewissen über den Zufall des Erfolgs besänftigt war, der Schmerz über seine leere Gegenwart neu und unvermischt; die teuerste Seele ging ihn nichts mehr an; seine Stunden wurden nicht mehr harmonisch vom Glockenspiel der Dichtkunst und Liebe ausgeschlagen, sondern einförmig von der Turmuhr der Alltäglichkeit. Daher flüchtete er sich zu Männern und zur Freundschaft, gleichsam unter die neben dem Schutthaufen des Brandes noch grünenden Bäume; Weiber floh er, weil sie ihn, wie fremde Kinder eine Mutter, die ihres verloren, zu schmerzlich erinnerten. Wie heiter geht dagegen ein Simultanliebhaber, der nur Allerseelen- und Allerheiligenfeste feiert, ordentlich neugeboren umher, wenn er sich endlich aus einem fassenden Herzen glücklich ausgehenkt und er nun alle weibliche Gestalten wieder mit der Ansicht eingelöster Güter überzählen kann! Schon das Gefühl dieser Freiheit kann ihn ermuntern, sich öfter, um es wieder zu schmecken, einem weiblichen Herzen als Gefangnen zu überliefern.

Albano verlief sich an Roquairols und Schoppens Händen in wilde Männerfeste – die das Sphären-Echo der Freude auf der Heerpauke vortragen wollen –; es waren nach den Rosenfesten nur die Dornenfeste. So gibt es ein Verzweifeln, das sich mit Schwelgen hilft; wie z.B. in der Pest zu Athen – oder in der Erwartung[473] des Jüngsten Tages – oder in der Erwartung des Robespierrischen Schlacht-Messers. Der Hauptmann ging tiefer in seine alte Verworrenheit und Wildnis zurück und zog, so weit er konnte, den unschuldigen Jüngling in seine Volksfeste mit sogenannten Musensöhnen, in seine immerwährende Weinlese und auf seine Freuden-Werbplätze nach, gleichsam als hab' er seinetwegen nötig, den Freund ein wenig zu sich herabzubringen.

Albano bildete sich ein, mit diesen Dithyramben sei seine weinende Seele ganz eingesungen, und er wiegte sie nur noch ein wenig fort. Indes wurden, wiewohl ers nicht eingestehen wollte, seine jungen Rosenwangen so bleich wie eine Stirn, und das Gesicht fiel wie eine Taste unter der zersprungnen Saite ein. Es war rührend und hart zugleich, wenn er lachend unter seinen Freunden und deren Freunden saß mit einem entfärbten Gesicht – mit höhern, schärfern Knochen der Augen und der Nase – mit einem wildern Auge, das aus einer dunklern Knochentiefe loderte. Vor Musik, zumal Roquairols seiner, worin das leidenschaftliche Wogen und Werfen unsers Schiffs mit dem tonkünstlerischen abgenützten Wechsel des Dämpfers und Donners zu lebendig arbeitete, entfloh sein Ohr und Herz wie vor einer aufreibenden Sirene. Der abgebrochne Lanzensplitter der Wunde zog in seinem ganzen Wesen nagend herum. O, wie in den Kinderjahren, wenn ihm die Rosen-Wolke am Himmel gerade auf dem Berge aufzuliegen und so leicht zu ergreifen schien, das herrliche Gewölk weit in den Himmel zurückfuhr, sobald er den Berg erstiegen hatte: so stand jetzt die Aurora des Lebens und Geistes, die er nahe fassen wollen, so hoch und ferne droben über seiner Hand im Blau. Mühsam erreicht der Mensch die Alpe der idealischen Liebe, noch mühsamer und gefährlicher ist – wie von andern Alpen – das Herabsteigen von ihr.

Eines Tages kam Chariton in die Stadt, bloß um ihm endlich einen Brief ihres Mannes – denn Dian machte wie alle Künstler leichter und lieber ein Kunstwerk als einen Brief – zu überbringen, worin er sich freuete, daß er Albano so bald sehen würde. »Er kommt also wieder?« fragte der Graf. Sie rief betrübt[474] aus: »Bei Leibe! – Ja das! – Nach seinem vorigen Schreiben bleibt er noch sein Jahr.« – »So versteh' ich ihn nicht«, sagte Albano.

Er wurde an demselben Abend auf herkulanische Bilderbücher – die mit Charitons Brief eine Post genommen hatten – von der Fürstin eingeladen. Sie trat ihm mit jener erheiterten Liebesmiene entgegen, welche man vor einem aufspannt, der vor uns sogleich, wie wir hoffen, seinen grenzenlosen Dank aus dem Herzen ziehen wird. Aber er hatte nichts daraus zu ziehen. Sie fragte endlich betroffen, ob er heute keine Briefe aus Spanien erhalten. Sie vergaß, daß die Post gegen kein Haus höflich und eilig ist als gegen das Fürstenhaus. Da aber sein Brief schon gewiß in sei nem Zimmer lag: so erlaubte sie sich, die Rolle der Zeit zu nehmen, welche alles an den Tag bringt, und sagte, was im Briefe stehe, »daß sie nämlich im Herbste eine kleine Kunstreise nach Rom unternehme, auf der sie sein Vater begleiten werde und er diesen, wenn er wolle; das sei das ganze Geheimnis«. – Es war das halbe; denn sie setzte bald darauf hinzu, daß sie der besten Zeichnerin in der Stadt am liebsten die Freude dieser Reise zuwende, sobald diese nur genese – Lianen.

Wie plötzlich das ganze Herz freudig erleuchtet wird, wenn nach einem langen finstern Regentage endlich abends die Sonne sich unter dem schweren Wasser ein goldnes, offnes Abendtor wölbt, darin rein-glänzend wie in einer Rosenlaube vor der widerscheinenden Erde steht, ihr einen schönern Tag ansagt und dann mit warmen Blicken verschwindet aus der offnen Rosenlaube: so war es unserem Albano.

Der schöne Tag war noch nicht da, aber der schöne Abend. Er ließ die herkulanischen Bilder unter ihrem Schutt und eilte, so schnell als es die Dankbarkeit vergönnte, zum Blatte des Vaters zurück, der so selten eines gab.

Es war dieses da:

»Liebster Albano! Meine Geschäfte und meine Gesundheit sind endlich in solcher Ordnung, daß ich meinen Plan bequem ausführen kann, den ich mit der Fürstin vorhabe, eine kleine Kunstreise nach Rom noch im Herbste zu machen, zu der ich dich einlade und im Oktober selber abhole. Die übrige Reisegesellschaft[475] wird dir nicht mißfallen, da sie aus lauter tüchtigen Kunstkennern besteht, Herrn v. Bouverot, Herrn Kunstrat Fraischdörfer, Herrn Bibliothekar Schoppe (wenn er will). Leider muß Herr v. Augusti als Lektor zurückbleiben. Dein Lehrer in Rom (Dian) erwartet dich mit vieler Sehnsucht. Man hat mir geschrieben, daß du die neue Hofdame der guten Fürstin, Fräulein v. Fr., deren ich mich als einer sehr braven Zeichnerin entsinne, besonders begünstigest. Es wird dich daher interessieren, daß die Fürstin sie auch mitnimmt, zumal da ihr, wie ich höre, eine Gesundheitsreise so nötig ist wie mir. – Im Frühling, der ohnehin nicht die schönste Jahreszeit in Italien ist, kehrest du wieder zu deinen Studien nach Deutschland zurück. – Noch etwas im Vertrauen, mein Bester! Man hat meiner Mündel, der Gräfin von Romeiro, deine Geister-Visionen aus Pestitz unverhohlen mitgeteilt. Da sie nun den Herbst und den Winter während meiner Abwesenheit bei ihrer Freundin, der Prinzessin Julienne, zubringt und noch dazu eher ankommt als ich: so lasse dich es nicht frappieren, daß sie deiner Bekanntschaft ausweicht, weil sich ihr weiblicher und ihr persönlicher Stolz durch den gauklerischen Gebrauch ihres Namens gekränkt und gerade zur Widerlegung der Gaukler recht aufgefodert findet. In der Tat konnte man – wenn die Spielerei anders einen ernsthaftern Zweck hat – wohl kein schlechteres Mittel dazu erwählen. – Du wirst tun, was die Ehre gebietet, und ob sie gleich meine Mündel ist, sie nicht zudringlich aufsuchen. Alles bleibt unter uns. Addio!

G. v. C.«


Diese Aussichten – die erhebende, neben dem Vater so lange zu sein – die heilende, aus dieser tiefen Asche herauszuwaten in ein freieres, leichteres Land – die schmeichelnde, daß das kranke, geplagte Herz im Bergschlosse vielleicht in Zitronen- und Lorbeerwäldern Freude und Genesung wieder finde, auch wohl wieder gebe – diese Aussichten waren, was die Freuden der Menschen sind, sehr schöne Spaziergänge im Hofe des Gefängnisses.

Auf diesem frohen Spaziergange störte ihn bald das Bild der kommenden Linda – aber nicht seinet-, sondern seiner armen[476] Schwester und seines Freundes wegen. Wie feindselig muß dieses fremde Irrlicht, dacht' er, in den nächtlichen Kampf aller gegeneinander rennenden Verhältnisse hüpfen! Roquairol schien ohnehin die zu heftig liebende Rabette mit ihren einsamen Wünschen allein zu lassen; sie schickte wöchentlich ihre durch einen Einschluß an Albano – sonst wars umgekehrt –, briefliche Seufzer und Tränen, die er alle kalt einsteckte, ohne von ihnen oder der Verlassenen zu sprechen.

Albano – im stillen Lianen und Rabetten abwägend – beklagte selber das ungleiche Los seines übereilten Freundes, über dessen Sonnenpferde nur eine Amazone und Titanide, aber nicht ein gutes Landmädchen den Zügel werfen konnte und dessen Psyches- und Donnerwagen ihm zu gut schien zu einem bloßen ehelichen Post- oder Kinderwagen. Erwürgend wird sich alles durcheinanderschlingen, dacht' er, wenn er, am Traualtar mit Rabetten kniend, zufällig aufsieht und unter den Zuschauerinnen die unvergeßliche hohe Braut seiner ganzen Jugend findet und laut das entsagende Ja ausstammeln muß!

Er war daher zweifelhaft, ob er ihm den Inhalt des Briefs entdecken dürfe, aber doch nicht lange; »soll ich dem Freund« (sagt' er) »verhehlen und vorgaukeln? Darf ich ihn als schwach voraussetzen und die Beschleunigung der Verhältnisse scheuen, die doch mit Ihr kommen?«

Sobald Karl zu ihm kam, sagt' er ihm zuerst die Abreise und sogar die Bitte um dessen Mitreise; bewegt von der ersten Trennung seines Jugendfreundes. Der Hauptmann – dessen Herz immer den Sangboden der Phantasie zum Anklang brauchte – war auf der Stelle nicht vermögend, beträchtliche Empfindungen über den Abschied zu haben und zu malen. Da gab ihm Albano – über die Lippe konnt' ers nicht bringen – den ganzen Brief.

Unter dem Lesen wurde Roquairols ganzes Gesicht häßlich, sogar in des Freundes Auge. – Er schleuderte dann ein so flammendes Zornauge gegen Albano, daß dieser es erwiderte unwillkürlich und unwissend. »O, wahrlich, ich versteh' alles« (sagte Karl) – »So mußt' es sich lösen. Warte nur bis morgen!« Alle Muskeln an ihm waren rege, alle Züge irre, alles bewegt, so wie im[477] heftigen Gewitter kleine Wölkchen umeinander wirbeln. Albano wollte ihn fragen und halten. »Morgen, morgen!« rief er und stürmte davon.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 472-478.
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