41. Zykel

[199] Ich bin in voriger Nacht bis gegen Morgen aufgesessen – denn ich kann keinen fremden Dechiffreur darüberlassen –, um die Jobelperiode bis zum letzten Worte zu entziffern, so fest hielt mich ihr Reiz; ich hoffe aber, da schon das dünne Blätterskelett aus Hafenreffers Hand so viel tat, so soll jetzt das Blatt, wenn ich seine Adern mit Saftfarben und gleißendem Grüne durchziehe, vollends Wunder tun.

Mit dem Grafen stand es seit dem letzten Abend betrübt. Denn die duldende bescheidne Gestalt, die er gesehen, glänzte, wie der Vorsatz einer großen Tat, allen Bildern seiner Seele vor, und in seinen Träumen und vor dem Einschlafen ward ihre holde Stimme die Philomele einer Frühlingsnacht. – Dabei hört' er noch immer von ihr sprechen, besonders den Physikus, der jeden Tag weitere Fortschritte der Augenkur verkündigte und zuletzt Lianens Abreise nach Lilar immer näher stellte – (Von einer Geliebten aber hören ist, sei es immer etwas Gleichgültiges, weit mächtiger als an sie denken) – Er hörte ferner, daß ihr Bruder sich seit der Ermordung ihrer Augen der ganzen Stadt entzogen, in welcher er nicht wieder erscheinen will als auf einem sogenannten Freudenpferde bei der Fürstenleiche – Und um dieses Eden,[199] oder vielmehr um die Schöpferin desselben, war eine so hohe Gartenmauer gezogen, und er ging um die Mauer und fand kein Tor.

Verhaßteres kenn' ich nichts als das; aber in welcher Residenzstadt ists anders? Schrieb' ich jemals einen Roman (wozu es keinen Anschein hat), das beteur' ich öffentlich, vor nichts würd' ich mich so hüten als vor einer Residenzstadt und vor einer stiftsfähigen Heldin darin. Denn die Konjunktion der obern Planeten trägt sich leichter zu als die hoher Amanten. Will Er ein Wort mit Ihr allein reden am Hofe oder beim Tee oder bei ihrer Familie, so steht der Hof, die Teegesellschaft, die Familie dabei; will Er Ihr im Park aufstoßen, so reiset Sie, wie die sinesischen Kuriere, doppelt, weil man den Mädchen gern das Gewissen, wie die Natur alle wichtige Glieder, doppelt gibt, wie gutem Weine doppelten Boden; – will Er Ihr zufällig wenigstens auf der Gasse begegnen, so schreitet (wenn diese in Dresden liegt) ein saurer Bedienter hinterdrein als ihr Pestessig, Seelensorger, curator sexus, chevalier d'honneur, Sokrates-Genius, Kontradiktor und Pestilenziarius – – Hingegen auf dem Lande läuft (das ist alles) die Pfarrtochter, weil der Abend so himmlisch ist, um die Pfarrfelder spazieren, und der Kandidat braucht nun weiter nichts zu tun als Stiefel anzuziehen. – Wahrlich unter Leuten von Stande scheint der Mantel der (erotischen) Liebe anfangs ein Doktor Fausts-Mantel zu sein, der alles zu überfliegen schwört, indes er bloß alles überdeckt; allein am Ende steht einem das Schreckhorn, der Pilatusberg und die Jungfrau vor der Nase.

Seliger Held! Am Freitage kam der Lektor und referierte, am Montage werde der Höchstselige – nämlich dessen leere Särge beigesetzt, und Roquairol reite das Freudenpferd – und Liane sei fast genesen, denn sie gehe mit der Ministerin morgen nach Lilar, höchstvermutlich um einigen trüben, mit einem Trauerrande umfaßten Gedenkzetteln und Leichen-Erinnerungen zu entrinnen- und am Himmelfahrtstage darauf sei Huldigung und Redoute....

Seliger Held! wiederhol' ich. Denn bisher, was besaßest du vom blühenden Tempe-Tal als die dürre Anhöhe, worauf du standest und in den Zauber hinuntersahest? –[200]

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 199-201.
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