§ 20
Dichten mit Empfindungen und ohne sie

[484] Die bloße Empfindung schafft nicht den Dichter, aber der bloße Dichter auch nicht jene. Im ersten Irrtum ist der Jüngling, im zweiten der Kritiker.

Nichts hält die Empfindung für leichter, als aus dem ersten Herzen herauszugehen in ein zweites, ja sie vermutet schon in diesem ihre Zwillingschwester. Aber ein volles Herz gleicht einem vollen Gefäße, das, solange es noch im Ziehbrunnen geht, leicht aufwärts steigt, hingegen schwer emporzuheben wird, wenn es die äußere Oberfläche durchbrechen soll. Der Jüngling hält jede Empfindung für eine Ode oder einen tragischen Monolog und Dithyrambus, denen nichts fehlt, um zu fliegen, als Füße oder metrisches Fußwerk, und sieht überhaupt das Doppelwasser der Trauer- und Freudentränen für Hippokrene an. Allein zum Dichten gehört ein Zwillingmensch, ein dargestellter und ein darstellender zugleich, wie sonst bei der Kaiserwahl der Kurfürst, er mochte immer selber in Frankfurt sein, doch seinen Gesandten und Repräsentanten stellen mußte, der den Kaiser wählte. – –

Auf der andern Seite lehrte eine nun halb eingefallne Schule deren poetische Schüler und Schulschriften, z.B. Friedrich Schlegelschen, ihre kurze Unsterblichkeit aber überlebt haben –: man könne seinen Vers und seinen Sonettenreim auf alles machen, möge man nebenher empfinden, was man wolle, z.B. einen Bußpsalm im Palais royal hecken und ein Bajaderenloblied in der Kathedralkirche; denn die Form sei alles und auch der wahre Inhalt, und eine chinesische Teetasse sei zugleich der chinesische Karawanentee; und der schönste Beweis davon sei ihr Meister Goethe.

Aber dieser ist eben der schönste Gegenbeweis davon. Denn ihm ist jedes rechte Gedicht ein Gelegenheit-Gedicht, und seine Lebens-Beschreibung beweiset uns, daß seine Wahrheit nicht[484] Dichtung war, sondern seine Dichtung Wahrheit, und daß seine poetischen Werke so gut Kinder des Herzens sind als seine moralischen. Daher wird ein Dichter nie eine Empfindung so gut malen als zum ersten Mal; später verliert das Gemälde immer mehr vom göttlichen Range einer Erstgeburt. Nur gebe der Künstler dieses Farbenerblassen nicht seiner Entkräftung, sondern seinem Herzen schuld, das unmöglich eine zweite, dritte Liebeerklärung mit dem Feuer einer ersten geben kann. Derselbe Dichter wähle aber einen ganz neuen Gegenstand zum Malen: er wird die alten Kräfte wiederfinden. Ja sogar derselbe von seinen Gefühlen erschöpfte Gegenstand wird für seinen Pinsel mit neuen Morgenfarben aufgehen, wenn er ihn vor neue Augen bringt und so aus fremden Herzen neue Gefühle und neue Farben schöpft für denselben Sonnenaufgang, denselben Frühling, denselben Liebehimmel.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 484-485.
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